Einführung
Kurzer inhaltlicher Überblick
Das Problem der Lüge wurde - weit vor Kant - bereits von Platon und Aristoteles als philosophisches Problem erkannt und behandelt. Bis dahin einmalig dürfte jedoch die Zuspitzung sein, welche die Frage durch die Begegnung mit Kants praktischer Philosophie und dort im Kern mit dem Leitgedanken des Kategorischen Imperativs erfahren hat. In diesem Zusammenhang entwickeln sich neue, kantspezifische Aspekte des Themas, die zu Beginn des unten erläuterten zweiten Teils der Arbeit behandelt werden sollen. Vor der Betrachtung derartiger Fragen erscheint es jedoch geboten, den gesamten Themenkomplex durch einleitende Definitionen und der komprimierten Vorstellung wesentlicher Grundfragen und der zugehörigen Konzepte und Theorien der Philosophie - und Geistesgeschichte allgemein abzustecken. Dies wird Gegenstand des ersten Teils sein, dessen thematische Untergliederung ebenfalls im folgenden aufgeführt und erläutert wird. Da Kant als der zentrale Angelpunkt dieser Arbeit fungieren wird, bietet er sich als Ausgangspunkt für einen abschließenden Ausblick über die weitere Entwicklung der Problematik im Spiegel einiger ausgewählter Autoren an, die auf Kant Bezug nehmen und seine Standpunkte weiterentwickelt oder kritisch hinterfragt haben.
Kurzer inhaltlicher Überblick
Annäherung an den Begriff ‚Lüge'
als Problem der praktischen Philosophie
LÜGE ALS NEGATIVE WAHRHEIT ( KURZER ABRISS ÜBER GRUNDLEGENDE THEORIEN ZUM WAHRHEITSBEGRIFF)
Aristoteles definierte als wesentliche Aufgabe der Philosophie die Suche nach Wahrheit. Demnach scheint traditionell, gleichsam sogar definitorisch das Streben nach Erkenntnis im Gegensatz zum Wesen der Lüge zu stehen: Lüge impliziert Unwahrheit, Philosophie impliziert Wahrheit. Diese bis hierhin banale Feststellung gewinnt an Relevanz, sobald man versucht, das Wesen der Lüge näher zu ergründen, denn dieser Feststellung zufolge kann nicht herausgefunden werden, was Lüge im philosophischen Sinne ist, wenn nicht zuvor ein Begriff davon vorliegt, was unter philosophischer Wahrheit zu verstehen ist. Im Bewußtsein der Gefahr, die Grenzen des Arbeitsthemas zu sprengen, soll daher kurz auf grundlegende Wahrheitstheorien eingegangen und hiermit die nötigen Fakten für die in Abschnitt 2 vorzunehmende Bewertung bereitgestellt werden.
IST LÜGE IN JEDEM FALL MIT DEM VORSÄTZLICHEN ÄUßERN DER UNWAHRHEIT GLEICHZUSETZEN?
Mit diesem Abschnitt soll eine weitere Konkretisierung des Begriffs "Lüge" erfolgen. Wie weit reicht die Symmetrie von Wahrheit gegenüber Unwahrheit zur Charakterisierung des spezifischen Wesens der Lüge aus? Welche weiteren Differenzierungen sind zu treffen?Hierzu soll die Unterscheidung Kants zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit erörtert werden, ohne damit seinen später zu behandelnden Stellungnahmen zur Bewertung der Lüge selbst vorzugreifen. Hilfreich in diesem Zusammenhang scheint außerdem ein Grundgedanke, der allerdings mit seinem rechtsphilosophisch wertenden Charakter eine vorübergehende Abkehr von der ansonsten rein definitorischen Motivation dieses ersten Teils der Arbeit darstellt: Kann bei einer vorsätzlichen Äußerung der Unwahrheit überhaupt von Lüge gesprochen werden, wenn der Angelogene aus plausiblen Gründen gar kein R e c h t auf Wahrheit hat?Dieser Ansatz hat Anspruch auf besonders ausführliche Behandlung, weil er bereits vor Kant im 17. Jahrhundert von Hugo Grotius formuliert wird und bis hin zu Benjamin Constant die Äußerungen nachfolgender Autoren beeinflußt, deren Hauptgesichtspunkte anschließend in Hinführung auf den folgenden Abschnitt zusammengefasst werden.
DIE ZUSPITZUNG DER PROBLEMATIK AUF DEN BEISPIELFALL DER MÖGLICHEN RETTUNG EINES UNSCHULDIGEN VOR EINEM MÖRDER DURCH LÜGE IN BENJAMIN CONSTANTS AUFSATZ ÜBER POLITISCHE REAKTION
Obwohl nicht mit letzter Sicherheit geklärt ist, ob Constant seine Schrift tatsächlich ausdrücklich an Kants Adresse richten wollte, gilt sie als wichtigster Impuls für Kants Formulierung eines expliziten Lügenverbots im von Constant skizzierten Beispielfall. Hier soll zunächst nur Constants Aufsatz per se analysiert werden, im ersten Abschnitt des zweiten Teils wird dann Kants Entgegnung hinzugezogen. Als interessantester Aspekt deutet sich die in Constants Schrift erkennbare wohlabgewogene, fast vorsichtige Behandlung der Problematik an; ein umfassendes Bekenntnis zu einem Automatismus der Lüge-Legitimation bei entsprechenden Voraussetzungen, der den leidenschaftlichen Protest Kants leicht vorhersehbar machen würde, sucht man vergebens. Daher wird es Aufgabe dieses Abschnitts sein, zu klären, unter welchen Einschränkungen, Verfeinerungen, Präzisierungen oder Ergänzungen das Lügenverbot nach Constant mit den am gewählten Beispiel greifbaren besonderen Umständen kompatibel gemacht werden kann.
Kants moral- und rechtsphilosophische Bewertung der Lüge im Spannungsfeld zwischen Systemkonsistenz und Praxisbewährung
HAUPTGESICHTSPUNKTE DER ARGUMENTATION IMMANUEL KANTS IN SEINER ENTGEGNUNG AUF CONSTANT
ÜBER EIN VERMEINTLICHES RECHT,
AUS MENSCHENLIEBE ZU LÜGEN
Ohne der Versuchung zu unterliegen, das Nachvollziehen des kantischen Argumentationsgangs in dieser Schrift durch voreilige Wertungen zu erschweren, soll aufgezeigt werden, wie Kant in konsequenter Anknüpfung an seine in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Metaphysik der Sitten entwickelte praktische Philosophie mit dem moralischen Gesetz und dem kategorischen Imperativ als Quintessenz sein universal gültiges L ü g e n - v e r b o t und seine Warnung vor dem Herbeiführen eines Präzedenzfalles entfaltet, der in den Augen Kants durch eine einmalige Nichtbeachtung des Lügenverbots geschaffen würde und eine Infragestellung oder gar Annullierung des gesamten Gesetzes in seiner ihm innewohnenden Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit zur Folge hätte.
DIE FUNKTIONALITÄT VON FALLBEISPIELEN MIT ALLTAGSBEZUG IN KANTS HAUPTWERKEN ZUR PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE
Bei einem Thema, das so offensichtlich praktisch ist, drängt sich die (zuweilen gewiss auch nicht explizit philosophische) Betrachtung konkreter im Alltag denkbarer und nicht nur zu Verdeutlichungszwecken konstruierter Situationen auf, um diese quasi als Bewährungshürde für die mehr oder minder die Tendenz zur Abstraktion und Generalisierung zeigende genuin philosophische Herangehensweise an die Problematik heranzuziehen. Auch Kant führt mehrfach Beispielfälle dezidiert zum Beweis der Alltagstauglichkeit seiner moral- und rechtsphilosophischen Konzepte an. Im Falle des vorliegenden Abschnitts bietet sich diesbezüglich eine Gegenüberstellung zweier solcher Situationen an: Am Vergleich eines ausgewählten Beispieles aus der Kritik der praktischen Vernunft mit dem Beispielfall des Lügenproblems, soll erörtert werden, ob Kants allgegenwärtige Tendenz zur Bildung geschlossener, symmetrischer philosophischer Systeme mit dem Streben nach für den Einzelnen nachvollziehbarer praktischer Relevanz und Bewährung kollidiert.
VORSCHLÄGE ZUR EINORDNUNG DES ANGEBLICHEN KANTISCHEN ‚RIGORISMUS' UND VORSTELLUNG
EINER VERMITTELNDEN POSITION ANHAND EINES AUFSATZES VON HANS WAGNER
Dieser Abschnitt konzentriert sich wieder ganz auf das Problem der Lüge. Kants Stellungnahmen hierzu haben zu einer philosophischen Kontroverse geführt, die noch heute andauert. Gerade die bereits zuvor behandelte Vorgehensweise, Einzelfälle durchzuspielen, hat Philosophen wie Hegel und Paton dazu geführt, die Position Kants in diametralem Gegensatz zu dem einzuordnen, was gemeinhin als "gesunder Menschenverstand" bezeichnet wird. In dieser Wertung wurzelt der Vorwurf, Kant habe die starke Neigung zum sogenannten "Rigorismus" und wolle damit das Eingeständnis verhindern, daß die Konsistenz seines Systems an Grenzen stößt, wird sie nur entsprechenden praktischen Prüfungen unterzogen. Es kann sicher nicht Zielsetzung der vorliegenden Arbeit sein, den Vorwurf definitiv zu bestätigen oder zu entkräften. Dennoch soll nach seiner ausführlichen Darstellung auch eine Perspektive zur eventuellen Überwindung des Streits eröffnet werden. Besonders vielversprechend schien hier ein Aufsatz von Hans Wagner, der im Notrecht ein Instrument sieht, mit dem die "Härten" der kantischen Position abgemildert werden könnten, ohne das Gebot der Gesetzesbefolgung in seiner Unbedingtheit einzuschränken.
Annäherung an den Begriff 'Lüge'als Problem der praktischen Philosophie
Lüge als negative Wahrheit -
Kurzer Abriss über grundlegende
Theorien zum Wahrheitsbegriff
Vergleich verschiedener Definitionen von Lüge und Lügenhaftigkeit
Was ist Lüge? Um diese Frage innerhalb der Grenzen der philosophischen Disziplin erschöpfend zu beantworten, wäre sicherlich eine lückenlose Analyse aller relevanten Aussagen und Theorien zum Thema, die philosophiegeschichtlich bedeutend waren oder sind, vonnöten. Obwohl diese Arbeit dazu beitragen soll, die Vorstellung des Lesers über Aspekte der Lüge zu erweitern, ist eine monographische Vollständigkeit nicht beabsichtigt. Stattdessen wollen wir uns auf die Themenkomplexe konzentrieren, die das im Titel dieser Arbeit genannte Problem beleuchten. Hierzu gehört auch - wie bereits in der einleitenden Übersicht erwähnt - die Auseinandersetzung mit Facetten des Themas, die nicht als unmittelbar philosophisch einzustufen sind. Diesen Weg wollen wir auch in diesem Abschnitt gehen und uns anhand von zwei bereits vorhandenen Definitionen einen ersten Eindruck von der begrifflichen Extension der Thematik "Lüge" verschaffen - die eine eine philosophische, die andere aus dem Bereich der Psychologie:
Lüge, auf Täuschung berechnete Aussage, die das verschweigt bzw. entstellt, was der Aussagende über den betr. Sachverhalt weiß bzw. anders weiß, als er sagt. Vom Standpunkt der Ethik aus ist die L. zu verurteilen, wenn die Täuschung hervorgerufen wird, um einem anderen zu schaden oder um sich einen Vorteil vor anderen zu verschaffen. Soweit das nicht geschieht, können insbes. L.n aus Höflichkeit oder Mitleid positiv gewertet werden. Viele L.n entstehen durch Fragen: der Befragte empfindet die Frage als eine Nötigung zur (wahrheitsgemäßen) Antwort (weshalb an eine Respektsperson keine Fragen gerichtet werden dürfen), da er sich durch die L. zu entziehen sucht (Volksmund: "Frage mich nicht, dann brauche ich dich nicht anzulügen"); meist ist boßes Stillschweigen untunlich, da es Vermutungen zu viel Spielraum läßt und Unheil nicht sicher abwendet (z.B. beim Verhör eines Kriegsgefangenen oder bei Fragen, die auf Geschäftsgeheimnisse zielen). In solchen Situationen muß von Fall zu Fall und nach bestem Gewissen entschieden werden, ob die Wahrhaftigkeit oder die L. mit der dieser ausgewichen wird, dem höheren ethischen Wert dient.
(SCHMIDT 1978)
Lügenhaftigkeit, Tendenz zur bewußten Verheimlichung oder unaufrichtigen Wiedergabe von Sachverhalten mit dem Ziel, für sich oder andere Vorteile zu erlangen bzw. Nachteile von der eigenen Person abzuwenden oder diese anderen Personen zuzufügen. L. mit dem Gegenpol "Wahrheitsliebe" gilt nicht als allg. Merkmal; die Beurteilung der L., ein in der forensischen Psychologie zentrales Problem, kann daher nur in Abhängigkeit von der speziellen Situation und den jeweiligen individuellen Handlungsmotiven erfolgen.
(AMELANG 1980)
Zunächst muß auf gewisse Grenzen der Vergleichbarkeit der beiden Definitionen hingewiesen werden: Geht es bei der ersten, aus der philosophischen Perspektive verfassten, sozusagen um einen konkreten, einmaligen Tatbestand, haben wir es bei der zweiten, das psychologische Phänomen der Lügenhaftigkeit beschreibenden, mit der Charakterisierung einer grundsätzlichen Disposition einer Person zu tun, sozusagen ihrer Neigung zur Anwendung von Lügen, auch wenn ausdrücklich betont wird, daß die Analyse konkreter Einzelfälle unumgänglich ist, wenn der Fehler vermieden werden soll, die Lügenhaftigkeit als isoliert erkennbares Merkmal eines Menschen zu erachten. Beide teilen dem Leser jedoch etwas über die naheliegenden Motive eines "Lügners" mit: Lügen ist denkbar aus Altruismus (Hoffnung auf Vorteile für andere), Mitleid, Höflichkeit, Selbstschutz, Egoismus (Hoffnung auf Vorteile für die eigene Person) oder mit der Absicht, anderen Schaden zuzufügen. Während sich die zweite Definition einer Bewertung dieser möglichen Beweggründe enthält, bringt der Verweis der Zweiten auf die Ethik sofort eine Klassifikation der Motive mit sich. Zumindest hieran läßt sich erkennen: Es scheint ein allgemein empfundenes, aus praktisch-moralischem Bedarf nach Orientierung entspringendes Bedürfnis nach einer (möglichst wissenschaftlich und einleuchtend begründeten) Einteilung solcher Beweggründe auf einer Art "Verwerflichkeitsskala" zu geben. Zumindest in dieser allgemeinen Definition findet sich trotz der jedem Nachschlagewerk eigenen Notwendigkeit zu einer sehr komprimierten Wiedergabe der Fakten keine eindeutige, kurze Qualifizierung der Lüge allgemein als verwerflich. Wie wir im weiteren sehen werden, war dieser differenzierte Blickwinkel jedoch keinesfalls immer philosophischer "common sense". Offenbar stehen sich bei der Lüge zwei entgegengesetzte Kräfte gegenüber: Die Nötigung zur Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit, die der ersten Definition zufolge bereits dem Wesen einer für das Problem "sensiblen" Frage an den Betroffenen innewohnt, und die bereits aufgezählten möglichen Umstände, die der wahrheitsgetreuen Beantwortung durch den Betroffenen entgegenstehen. Die Ethik verlangt nun vom philosophischen Beobachter, einen dieser beiden Pole für vorrangig zu erklären. Diese Aufgabe scheint das Hauptproblem zu sein, das am Gesamtphänomen "Lüge" von philosophischem Interesse ist.
Der Verfasser der Definition hat sich für eine Trennung entschieden: Er nennt Mitleid und Höflichkeit als Beispiele für ausreichend überzeugende Motive, um den Akt der Lüge zu rechtfertigen und begründet dies auch mit dem in der Regel nicht zur Verfügung stehenden Ausweg des Stillschweigens, indem er argumentiert, das Stillschweigen werde mehrheitlich nach dem Motto: "Keine Aussage ist auch eine Aussage" bewertet. Die Schlußfolgerung ist, dass in allen Fällen, die nicht auf die klar zu verurteilenden Beweggründe des eigenen Vorteils oder der Schädigung anderer zurückzuführen sind, eine Einzelfallprüfung vor der Entscheidung zur Wahrhaftigkeit oder zur
(Not-)Lüge notwendig sei. Diese Prüfung soll nach Meinung des Autors der Definition "nach bestem Wissen und Gewissen" erfolgen; hierbei ist sicherlich der hohe Grad der Verschwommenheit und Deutbarkeit dieser Formulierung kritisch anzumerken. Wie "Gewissen" in einem philosophisch kohärenten Sinn definiert werden soll, würde sicherlich nicht einmal eine weitere Arbeit vom Umfang der vorliegenden zufriedenstellend klären können; es ist deshalb zu bezweifeln, dass der Terminus ohne vorherige Eingrenzung und inhaltliche Festlegung einen Beitrag zur in der zitierten Definition angestrebten Orientierung über die ethische Bewertung der Problematik leisten kann. Bleibt also die Forderung nach "bestem Wissen": Es liegt nahe, dass dieses dann Anwendung findet, wenn der Betreffende nach Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Informationsquellen handelt, sozusagen den für ihn erreichbaren Teilbereich der Wahrheit zum Maßstab seiner Entscheidung macht. Mehr über diese Forderung werden wir bei Kants Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit erfahren, die engen Bezug zu ihr hat und Gegenstand eines späteren Abschnitts dieser Arbeit sein wird.. Bereits jetzt drängt sich jedoch die Erhellung eines noch grundsätzlicheren Problems auf: Wenn der Handelnde wie erwähnt den für ihn erreichbaren Teilbereich der Wahrheit zum Maßstab seiner Entscheidung machen soll, dann muss zuvor die Frage näher beleuchtet werden: Was ist überhaupt Wahrheit?
seit der systematischen Beschäftigung mit philosophischen Themen die Suche nach Wahrheit, einerseits partiell in der wissenschaftlich korrekten Beantwortung einzelner Fragen welchen Inhalts auch immer, andererseits universell in der Suche nach einer Theorie der Wahrheit ohne Einschränkung auf bestimmte Sachverhalte aufgedrängt. Arno Baruzzi, Verfasser des Bands "Philosophie der Lüge" (nähere Angaben siehe im Anhang unter "BARUZZI 1996"), votiert gleichzeitig für die These, dass der Mensch in einer "Kultur der Wahrheit" lebe. Das menschliche Zusammenleben, Konventionen aller Art kommen offenbar nicht ohne Rückbezug auf die Wahrheit aus, erfahren durch sie Schutz vor der Beliebigkeit des Handelns beteiligter Personen. Vorbedingung von jeder Art eines Gesellschaftsvertrags scheint das Zustandekommen eines noch elementareren Gesellschaftsvertrags zu sein, der nur eine Verpflichtung kennt, und zwar die zur Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit, und damit implizit ein Bekenntnis zum Lügenverbot darstellt. Erneut erschließt sich hier über sehr grundsätzliche Aspekte der Problematik eine von Kant in seiner Argumentation zum Kernthema dieser Arbeit verwendete Behauptung: Die Lüge besitzt potentiell die Macht, jegliche durch Konvention funktionierende gesellschaftliche Interaktion von Menschen zunichte zu machen oder zumindest gänzlich ihrer Zweckdienlichkeit für Mensch und Gesellschaft zu berauben. Die Zuspitzung dieses Arguments durch Kant wollen wir dann im Rahmen seiner Antwort auf Benjamin Constant näher beleuchten, bereits an dieser Stelle sollte aber ein Gedanke eingefügt werden, der vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Weltanschauung eindrucksvoll illustriert, wie das bereits dargestellte Szenario, in dem durch eine allmählich wachsende Akzeptanz der Lüge Konventionen unnütz und Fixpunkte der menschlichen Orientierung in der Gesellschaft beseitigt würden, in letzter Konsequenz eine Ersetzung der Realität durch eine faktische Realität der Lüge befürchten ließe:
[...] wenn die modernen Lügen sich nicht mit Einzelheiten zufriedengeben, sondern den Gesamtzusammenhang, in dem die Tatsachen erscheinen, umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten, was hindert eigentlich diese erlogene Wirklichkeit daran, zu einem voll gültigen Ersatz der Tatsachenwahrheit zu werden, in den sich nun die erlogenen Einzelheiten ebenso nahtlos einfügen, wie wir es von der echten Realität her gewohnt sind? (ARENDT 1987)
Natürlich drängt sich bei diesem ebenso beunruhigenden wie faszinierenden Gedanken letztlich auch die Frage auf, wer festlegt, wie eine "echte" Realität beschaffen ist, wie vertretbar es ist, davon zu sprechen, dass die von uns wahrgenommene und gestaltete Realität die "echte" Realität ist und ob eine individuelle Realität an Relevanz verliert, wenn Aussenstehende versichern, sie sei eine Illusion oder gar eine Lüge. Diese Fragen mögen so als Denkanstöße stehenbleiben; sie zu beantworten oder auch nur ausführlicher zu behandeln, würde jedoch den Rahmen der Arbeit sprengen und wohl auch stark in Bereiche der Metaphysik übergreifen.Vielleicht liegt in der Erkenntnis der potentiellen zerstörerischen Macht der Lüge aber auch die Begründung für die Tatsache, dass für die Philosophen seit der Antike die präzise Erkenntnis des Wesens der Wahrheit offenbar wesentlich erstrebenswerter schien als das Wissen um das Wesen der Lüge. Nicht, dass man sich mit der Lüge an sich nicht beschäftigt hätte, aber die Tatsache, dass es zwar eine Vielzahl von Ansätzen zu Wahrheitstheorien gibt, aber die Wortkombination "Lügentheorie" wohl kaum überhaupt lexikalisiert ist, zeigt, dass der Akzent bei der Betrachtung der Lüge auf dem Gebiet der praktischen Philosophie liegt. In einfachen Worten gesprochen: Es scheint - bei theoretischem Blickwinkel - wesentlich erstrebenswerter, alles über die Wahrheit zu wissen, als die Lüge insgesamt zu durchschauen. Dies klingt auf den ersten Blick widersprüchlich, haben wir doch zuvor festgestellt, dass Lüge und Wahrheit jeweils für sich allein und in Abwesenheit des jeweiligen Gegenpols gar nicht definiert werden können, also letztendlich die Erweiterung des Wissens über die Lüge zu einer vergleichbaren Erkenntniserweiterung über die Wahrheit führen muss und umgekehrt. Da sich diese Arbeit nun explizit und in erster Linie mit der Lüge beschäftigt, ist es für uns legitim und zweckdienlich, diesen umgekehrten Weg zu wählen und uns über die Wahrheit der Lüge anzunähern. Zuvor sollte aber eine Konkretisierung und Veranschaulichung der engen Verschränkung von Wahrheit und Lüge erfolgen. Im folgenden wird Arno Baruzzi zitiert, der eine systematische Charakterisierung dieses Zusammenhangs verfasst hat.
1. Lüge tritt in den Gegensatz zur Wahrheit, ist Unwahrheit.
2. Damit zeigt sich, daß Lüge auf Wahrheit bezogen ist, ja daß die Lüge die Wahrheit voraussetzt.
3. Lügen ist das Verneinen von Wahrheit, das nun aber in einer bestimmten Weise erfolgt, wie dies in der klassischen Definition der Lüge festgehalten ist, die lautet:
4. Lügen ist die bewußte bzw. willentliche falsche Aussage (Augustinus). Wenn ich lüge, bin ich mir bewusst, daß ich gegen Wahrheit etwas unternehme, d. h. sage, und ich habe den Willen, die Wahrheit zu Fall zu bringen.
5. Ich spreche hier vom Fall, d.h. Fallen der Wahrheit [...] Mit dem Willen und auch dem Bewußtsein wird die Aktivität genannt, auf die es beim Lügen ankommt. [...]
(BARUZZI 1996)
Aus dieser komprimierten Darstellung sind zwei Hauptverknüpfungspunkte des Gegensatzpaars zu entnehmen: Erstens ist die Lüge ein "Zufallbringen" der Wahrheit und zweitens geschieht dieses Zufallbringen durch den Willen des Lügners. Dieses Fällen der Wahrheit in Gestalt der Lüge muss demnach sowohl die Intention als auch die Quintessenz der Handlung des Betreffenden sein. Tatsächlich muss beim Handelnden ein Bewusstsein vorliegen, welche Wirkung seine Handlung auf die Wahrheit ausübt, und er muss diese Wirkung nicht nur in Kauf nehmen, sondern beabsichtigen. Sein Handeln ist darauf ausgerichtet, die partiell für ihn greifbare (und womöglich für ihn nachteilige) Wahrheit vor der möglichen Weitergabe an bzw. Kenntnisnahme durch Andere zu beseitigen und durch Unwahrheit zu ersetzen. Wieder zeigt sich hier also die Notwendigkeit, zunächst noch mehr über die Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Dieser Notwendigkeit wollen wir im nächsten Kapitel Rechnung tragen.
Zum Begriff "Warheitstheorie"
Es fällt schwer, allgemeingültig zu definieren, was den Charakter einer Aussage ausmacht, für die das Prädikat "Theorie" angemessen erscheint. Vielleicht würde dieses Bestreben sogar unwillkürlich in der Erstellung einer "Theorie der Theorie" enden, was das Unterfangen ad absurdum führen würde. Letztendlich geht es an unserem Thema vorbei, hierzu ausufernde Äusserungen zu treffen. Lourencino Bruno Puntel hat in seinem Buch "Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie" (PUNTEL 1978) auf pragmatische Weise die charakteristischen Merkmale des Theoriebegriffs in seiner Verwendung im Zusammenhang mit Wahrheit zusammengefasst.
Puntel lehnt eine spezifische Definition des Theoriebegriffs ab und gibt statt dessen vergleichbare Termini wie "Auffassung", "Konzeption", "Sicht" und "Verständnis" an, die dessen überwiegenden Gebrauch illustrieren. Im zweiten Schritt setzt er die Motivation dieses Gebrauchs mit dem Streben nach streng methodischem Vorgehen gleich:
Der Begriff "Theorie" soll die Selbstverpflichtung zur Wissenschaftlichkeit signalisieren. Schliesslich gibt Puntel zu bedenken, dass bei Wahrheitstheorien im Einzelfall unterschiedlich ist, ob der Terminus "Theorie" als klar vorausgesetzt wird oder durch die jeweilige Wahrheitstheorie auch eine mit ihr einhergehende Klärung des Theoriebegriffs selbst erfolgt. Aus Sicht des Verfassers dieser Arbeit bleibt noch hinzuzufügen, dass die Verwendung des Theoriebegriffs sicherlich auch durch das Bewusstsein motiviert ist, dass an die Lösung des Problems immer nur eine hypothesenartige Annäherung erfolgen kann, möglicherweise als Grundlage zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema. Die schon besprochene Feststellung, dass Wahrheit immer nur mit Rekurs auf ihre negative Wendung und Lüge immer nur als Abwesenheit der Wahrheit greifbar gemacht werden kann, macht deutlich, dass eine abgeschlossene und allumfassende Definition bzw. Klärung nicht in Sicht ist und nicht als Auszeichnung einer Aussage zum Wahrheitsbegriff dienen kann. Das Bewusstsein dieser Fakten verkörpert, zumindest im alltagssprachlichen Gebrauch, die Bezeichnung "Theorie" der Wahrheit. Die geforderte Wissenschaftlichkeit von Wahrheitstheorien bietet natürlich den Vorzug, dass sie dann auch nach wissenschaftlichen Kategorien geordnet werden können. Puntel hat eine solche Klassifikation nach den möglichen Explicanda einer Wahrheitstheorie versucht. In dieser Arbeit würde es zu weit führen, sich in der Darstellung einzelner Beispiele moderner, oftmals recht komplexer Wahrheitstheorien zu verlieren; interessant ist für uns aber, welche Fragen gestellt werden können, um mehr über Wahrheit (und damit auch über die Lüge) zu erfahren. Eine zentrale Frage ist hier natürlich: Was soll mit einer Theorie der Wahrheit erklärt werden? Genau an diesem Punkt treffen wir uns mit der Puntelschen Frage nach den Explicanda von Wahrheitstheorien. Seine Klassifikation ist im folgenden wiedergegeben:
1. Wird der Begriff der Wahrheit als das Explikandum einer TW [= Theorie der Wahrheit, Anm. d. Verf.] angesetzt, so lassen sich hauptsächlich vier Frageweisen unterscheiden:
1.1 Was ist Wahrheit? 1.2 Was versteht man unter "Wahrheit" ("wahr")?
1.3 Welches ist der Sinn (bzw. die Bedeutung) von "wahres Urteil", "wahrer Satz", "wahre Aussage", "wahre Behauptung" u ä.? 1.4 Welches ist der Sinn (bzw. die Bedeutung) von "y ist wahr"?
Diese Fragen meinen nicht dasselbe oder, wenn sie dasselbe meinen, so meinen sie es nicht in derselben Weise.
2. Bildet das Kriterium der Wahrheit das Explikandum einer TW, so lassen sich drei Frageweisen unterscheiden:
2.1 Aufgrund welchen Verfahrens läßt sich entscheiden, ob Wahrheit vorliegt (Kriterium als Entscheidungsinstanz)?
2.2 Aufgrund welchen Verfahrens kann Wahrheit entdeckt, erschlossen werden? [...]
2.3 Welches ist das Maß (der Maßstab) für Wahrheit? [...]
3. Nicht so leicht fassbar sind jene Versuche, die die Bedingungen (bzw. Voraussetzungen) von Wahrheit als das Explikandum der TW ansetzen. [...]
4. Als Explikandum einer TW wird bisweilen auch die Relevanz von Wahrheit angesehen. Allerdings kann man hier nur in einem sehr vagen Sinne von "Theorie" der Wahrheit sprechen. [...]
Auf den ersten Blick scheint diese Aufstellung vielleicht ohne konkreten Nutzen, doch im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden wir sehen, dass auch und gerade bei der Lüge unterschieden werden muss, worum es gerade geht: Um den Begriff, das Kriterium, die Bedingungen oder die Relevanz der Lüge. Abschließend noch zwei klassische Wahrheitsdefinitionen, deren Erörterung im Einzelnen jedoch zu weit führen würde.
Denn zu sagen, daß, was der Fall ist, nicht der Fall ist, oder daß, was nicht der Fall ist, der Fall ist, ist falsch; daß aber das, was der Fall ist, der Fall ist und das, was nicht der Fall, nicht der Fall ist, wahr.
(ARISTOTELES)
Veritas est adaequatio rei et intellectus.
(THOMAS VON AQUIN)
Ist Lüge in jedem Fall mit dem vorsätzlichen Äussern von Unwahrheit gleichzusetzen?
Kants Unterscheidung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit
Daß das, was jemand sich selbst oder einem andern sagt, wahr sei, dafür kann er nicht jederzeit stehen (denn er kann irren); dafür aber kann und muß er stehen, daß sein Bekenntnis oder Geständnis w a h r h a f t sei [...]. (KANT 1791)
Die Eigenschaft der Wahrheit, relativ, perspektivegebunden, Gegenstand von Konvention, interpretierbar zu sein, ist bereits mehrfach in dieser Arbeit angeklungen. Diese Feststellung könnte leicht als Freibrief missdeutet werden, sich auf eine subjektive, nicht allgemein zugängliche bzw. veri-oder falsifizierbare Wahrheit zu berufen und so lügen zu können, ohne dass diese Lüge beim Namen genannt werden könnte. Denn wir haben im Vorfeld gesehen, dass starren Regeln, wie ein einzelner in seinen Handlungen, Aussagen, oder auch nur in seiner Wahrnehmung der Aussenwelt Wahrheit sicherstellen kann, mißtraut werden muss. Wie bereits zitiert, hat Hannah Arendt ein (noch fiktives) Szenario entworfen, in dem eine derart umfassende Lüge droht, dass unter dem Dach dieser universalen Lüge eine ebenso widerspruchsfreie, neue Realität etabliert werden könnte, die mangels Vergleich unweigerlich von allen als solche akzeptiert würde, obwohl sie dennoch aus der dann imaginären Position eines aussenstehenden Beobachters sozusagen als Fratze der "echten" Realität demaskiert werden könnte. Bereits im ersten Abschnitt haben wir festgestellt, dass der von Arendt verwendete Begriff einer "echten Realität" im Gegensatz zu einer "falschen" fragwürdig ist: Vorausgesetzt, es lässt sich tatsächlich eine umfassende und lückenlose Realität auf einer Art "Generallüge" aufbauen, wer garantiert uns dann, dass die von Arendt beschworene "echte Realität", mit der sie ganz offensichtlich die herrschende meint, nicht auf ebendiese Weise zustandegekommen ist? Erneut stoßen wir hier an die Grenzen dessen, was eine solche Arbeit zu leisten im Stande ist. Über die letztgenannte Frage lässt sich ausschweifend sinnieren und spekulieren, im wissenschaftlichen Sinn zu entscheiden ist sie kaum.
Nun kann trotzdem angesichts der Unentscheidbarkeit solcher Fragen nicht für ein ethisches Vakuum, das der Willkür (im nicht-kantischen Wortsinn) Raum gibt, votiert werden. Gesucht ist also eine Differenzierung zwischen der Realität an sich und der Wirklichkeit in dem Bereich, in dem sie für den Einzelnen erkenn- und beeinflussbar ist. Kants Antwort auf dieses Problem war seine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Er ordnete die vielfach durcheinandergeworfenen Termini. Kant sieht als primären Unsicherheitsfaktor in der Frage, in welchem Maße der Einzelne wahrheitskonform sprechen und handeln kann, die immer denkbare Möglichkeit des Irrtums. Dem Menschen kann die Verantwortung für unverschuldetes Irren nicht angelastet werden. Aber es liegt in seiner Verantwortung, "kein Fürwahrhalten vorzugeben, dessen man sich nicht bewusst ist" (KANT 1791). Vor seinem Gewissen (- Kant nennt diese Gewissensbefragung "formale Gewissenhaftigkeit" -) und unter Berücksichtigung aller zugänglicher Informationen zu prüfen, ob die getroffenen Aussagen oder Handlungen mit dem erreichbaren Teil der Wahrheit übereinstimmen: So lässt sich die Pflicht zur Wahrhaftigkeit charakterisieren.
Nun ist zu fragen, warum wir denn in Kants Augen strikt an diese Pflicht gebunden sind. Kant bekräftigt in diesem Zusammenhang, es bestehe "ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen w a h r h a f t (ehrlich) zu sein." (KANT 1791). Sofern man also die Aussage zu einem Sachverhalt nicht umgehen kann (- dieser Ausweg scheint von Kant weder ausdrücklich negativ noch positiv bewertet worden zu sein -), besteht eine formale Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Diese Pflicht zur Wahrhaftigkeit (und aus genannten Gründen n i c h t zur Wahrheit) steht in enger Verbindung zu Kants Lügenverbot, um das es ja im Kernteil dieser Arbeit gehen wird. Um dem nicht vorzugreifen, muss also, was die Begründung der Pflicht zur Wahrhaftigkeit angeht, auf die später ausführlich zu erörternde Begründung des Lügenverbots verwiesen werden. Abschließend ist festzustellen, dass Kants Unterscheidung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit ein wirksames Mittel gegen die Aufweichung moralischer Pflichten ist, die leicht durch Stimmen geschehen kann, die dies angesichts der -wie festgestellt- dem Einzelnen nicht zuzuordnenden Verantwortung für die Wahrheit an sich fordern.
Recht auf Wahrheit - Recht zur Lüge
Das [ Einhalten von Verträgen ] gründet in der Natur der Sprache, die als einzigen unter den Tieren den Menschen gegeben ist, damit sie ihr Gemeininteresse besser äußern, das bekannt machen können, was in ihrem Geist verborgen ist. Sprache ist dazu dann geeignet, wenn Zeichen und Bezeichnetes übereinstimmen; das wird Wahrheit genannt. Da der menschliche Wille von Natur aus veränderlich ist, müssen Mittel gefunden werden, ihn für die Zukunft festzulegen. Dieses Mittel ist das Versprechen.
(GROTIUS 1625)
Nach der Lektüre dieses Zitats ist sicherlich die Frage berechtigt, wie es mit der Überschrift über dieses Kapitel "Recht auf Wahrheit - Recht zur Lüge" zusammenhängt. Zunächst ist festzustellen, dass in der Stellungnahme von Hugo Grotius (1583 - 1645) sich erstens eine weitere Wahrheitsdefinition findet (die Übereinstimmung von Zeichen und Bezeichnetem) und zweitens Wahrheit im moralischen Sinn in engen Zusammenhang mit dem Vertragscharakter des menschlichen Zusammenlebens gestellt wird. Die Wechselbeziehung zwischen der Wahrheitstreue des Einzelnen und der Funktionstüchtigkeit der durch Konventionen geordneten Gesellschaft hat also bereits vor Kant Eingang in die Debatte um Wahrheits-/Wahrhaftigkeitspflicht und Lügenverbot gefunden. Wir haben bereits in groben Zügen von der Abneigung Kants gegen jedwede Aufweichung der letztgenannten Forderungen gehört. Wenn Grotius aber einen zentralen Punkt in der kantischen Argumentation teilt, wo liegt dann der Unterschied zu den Auffassungen des 141 Jahre später geborenen Immanuel Kant?
Hierzu ist nötig zu untersuchen, in welchem Kontext Grotius seine Äußerungen zum Thema gemacht hat. Der Titel der Schrift, aus der das obige Zitat entnommen worden ist, lautet De Iure Belli ac Pacis.Grotius betrachtete also moralphilosophische Fragen unter dem Blickwinkel des Krieges und des Kriegsrechts. Er untersucht die Position einer Person, die sich gegen einen Agressor zur Wehr setzt, also einen sogenannten "gerechten" Krieg führt, den er weder gewollt noch gar verursacht hat. Natürlich interessiert in diesem Zusammenhang besonders, an welche moralischen Grundsätze diese Person in ihrer notwehrähnlichen Situation noch gebunden ist. Hier stellt Grotius erstmalig fest, dass der Angegriffene ein explizites Recht zur bzw. auf Lüge habe.
Es geht hier, wie Hariolf Oberer erläutert, dessen ausführliche Einführung zum Thema (OBERER 1986) auch Hauptquelle der meisten in diesem Abschnitt noch folgenden Zitate ist, um eine Art Kriegslist: Unwahr auf die Fragen des Agressors zu antworten, um die eigene Verteidigung gegen denselben zu erhalten oder zu stärken. Anzumerken ist, dass auch in diesem Fall die schlichte Feststellung gilt, dass die Pflichten des Einen immer gleichzeitig die Rechte des Anderen sind. Auf unser Thema angewandt würde das zur Folge haben, dass in einer Konversation zweier Personen der "Sender" die Pflicht zur Wahrheit hat und der "Empfänger" damit automatisch das Recht auf Wahrheit genießt. Nun wäre der grotiusschen Annahme eines Rechts auf Lüge unter bestimmten Voraussetzungen entgegenzuhalten, dass ja dieses Recht auf Lüge in diametralem Gegensatz zum - wie gezeigt - jedermann eigenen Recht auf Wahrheit steht. Grotius löst diesen Gegensatz elegant auf, indem er hinterfragt, ob dieses vordergründig automatisch aus der Pflicht zur Wahrheit abzuleitende Recht auf Wahrheit denn unbedingt und ohne jede Einschränkung gelten kann. Er kommt letztlich zu dem Schluss, dass eine Person dieses Recht auf Wahrheit unter bestimmten Voraussetzungen verwirken kann. So hat der Agressor im zitierten Beispiel durch den vertragsbrechenden
(siehe einleitendes Zitat) und daher amoralischen Charakter seines Vorgehens bereits gar kein Recht auf die Wahrheit mehr. So ist widerspruchsfrei erklärbar, wieso der Angegriffene zum eigenen Vorteil lügen kann, ohne die Pflicht zur Wahrheit zu verletzen. Christian Thomasius ( 1655 - 1728) hat diese Differenzierung etwas später so zusammengefasst: Unzulässig und als solche zu qualifizieren und zu verurteilen ist eine Lüge nur dann, si [...]alterius jus laedatur, wenn sie ein beim anderen bestehendes Recht auf Wahrheit verletzt (THOMASIUS 1688). Gibt es dann, wenn man der Frage eine andere Wendung gibt, sogar eine Pflicht zur Lüge, wenn dadurch und nur dadurch einer übergeordneten moralischen Zielsetzung zum Erfolg verholfen werden kann? Hierbei kommen wir nun in unmittelbare Nähe der Frage, mit der dieses ganze Kapitel überschrieben ist: Ist über das Wesen der Lüge schon alles gesagt, wenn der "Tatbestand" der vorsätzlichen unwahren Aussage erwähnt wurde, oder ist diese auch möglich, ohne als Lüge gebrandmarkt werden zu müssen? Christian Wolff, den Kant einmal als den "größten unter allen dogmatischen Philosophen" (vgl. MPL 1989) bezeichnet hat, gibt auf diese Frage eine eindeutige Antwort:
Es irren demnach diejenigen, welche alle unwahre Worte, auch öfters unwahre Erzehlungen, die man von andern gehöret und auf guten Glauben wieder nachsaget, für Lügen halten. Und daher entstehen die Schwierigkeiten, die man sich bisweilen wegen der Lüge machet, wenn man die Fälle entscheiden will, in welchen zu lügen erlaubet [ist].
(WOLFF 1733)
Zum vorher genannten Problem, ob es denn sinnvoll sei, eine Pflicht zur Lüge unter bestimmten Voraussetzungen zu postulieren, nimmt Wolff ebenfalls Stellung:
[...] Nemlich es ist niehmals zu lügen erlaubet, aber wohl unterweilen ist erlaubet, ja wir sind unterweilen gar verbunden die Unwahrheit zu sagen, wenn sie nemlich weder uns noch andere zum Schaden, aber wohl zum besseren gereichet, als man einem Feinde Unrecht saget, wo der hingegangen, den er mit blossen Degen verfolget.
(WOLF 1733)
Soweit es aus diesem Textauszug überhaupt möglich ist, die gesamte Argumentation Wolffs zu erschließen, drängt sich eine in seiner Darstellung nicht explizit beantwortete Fragen auf:
Wenn davon auszugehen ist, dass die vorsätzliche Äusserung der Unwahrheit nicht unbedingt Lüge sein muss, welches Merkmal unterscheidet die Lüge dann von dieser Unwahrheitsäusserung und verleiht ihr die ihr eigene Charakteristik? Hierbei ist, wenn überhaupt, zu mutmaßen, dass Wolff sich in dieser Frage auf den zweiten Teil seiner Aussage bezieht, in der die Forderung gestellt wird, diese vorsätzliche Unwahrheitsäusserung dürfe niemandem zum Schaden, sondern müsse allen zum Besseren gereichen. So wäre eine solche Äusserung genau dann eine Lüge, wenn diese Forderung unerfüllt bleibt. Selbst wenn man dies für die Antwort auf die letztgenannte Frage hält, so ist diese Formulierung (niemandem zum Schaden - allen zum Besseren) so generalisiert und ausdeutbar, dass sie wenig Erhellendes bietet. Zentral - und für den weiteren Verlauf dieser Arbeit im Hinblick auf Kant - sind jedoch zwei Erkenntnisse Wolffs, die wir hier abschließend noch einmal thesenartig zusammenfassen wollen:
1) Nicht jede vorsätzliche unwahre Aussage kann als Lüge bezeichnet werden
2) Wie auch immer diese im einzelnen aussehen mögen, es kann Situationen geben, in denen es aus moralischen Erwägungen heraus geboten ist, wissentlich die Unwahrheit zu kolportieren.
Die Zuspitzung der Problematik auf den Beispielfall der möglichen Rettung eines Unschuldigen vor einem Mörder durch Lüge in Benjamin Constants Aufsatz
Über politische Reaktion
Bevor wir nun also versuchen wollen, den Argumentationsgang Benjamin Constants nachzuzeichnen, sollten wir uns den von Kant und Constant als Bezug verwendeten Beispielfall kurz verdeutlichen: An den Geschehnissen sind im wesentlichen drei Personen beteiligt: Der Wohnungseigentümer (nennen wir ihn W), das potentielle Opfer (hier als O bezeichnet) und der Mordabsichten Hegende (hier genannt M). W gewährt O in seiner Wohnung Schutz, da O von M verfolgt wird, der die Absicht hegt, O zu ermorden. M hegt nun den Verdacht, O könne sich in W's Wohnung befinden und sucht W deshalb auf, um ihm die Frage zu stellen, ob O sich tatsächlich in W's Räumen aufhalte. W ist sich der Mordabsichten M's bewusst und steht nun vor der Frage, ob er wahrheitsgetreu über die Anwesenheit O's berichten und O damit M ausliefern muss oder durch eine Falschaussage vom Typ "O ist vor kurzem ausgegangen", worauf M sich entfernen würde, um anderswo nach O zu suchen, O vor dem Zugriff durch M schützen soll.
Nachdem wir nun das Kernproblem auf der praktischen Ebene kennen, wollen wir Constants Gedanken dazu nachzeichnen. Zunächst eine kurze Vorbemerkung: In Constants Abhandlung ist wiederholt von Moral die Rede, wenn es um die Problematik geht. Dies hat zu Verwirrungen in der Interpretation geführt, unter anderem dahingehend, dass einige Kommentatoren behaupteten, Constant argumentiere rein ethisch und befände sich daher auf einer von Kant gar nicht berührten Argumentationsebene. Geismann hat klargestellt, dass zu Constants und Kants Zeiten die Morallehre durchgängig Tugend - u n d Rechtslehre umfasst hat und insofern kein Hinweis darauf vorliegt, dass der von Constant verwendete Begriff "Moral" auf einen nicht-rechtlichen Blickwinkel verweist. (GEISMANN 1988).
Als Einstieg in seine Schrift verwendet Constant einen Vergleich zwischen Morallehre und Politik. Während er bei der Politik (gemeint sind sozusagen praktische gesellschaftliche Handlungen) die Gefahr sieht, dass deren Grundsätze durch Machtstreben und egoistische Interessen der an ihr Beteiligten diskreditiert werden, spricht er der Moral eine größere Harmonie ihrer Prinzipien zu: Obwohl die Grundprinzipien für sich alleingenommen durchaus rigide, menschenunfreundliche Merkmale ("[...] [mit] jenem feindseligen und zerstörerischen Charakter [...], den Isolierung den Ideen ebenso wie den Menschen verleiht.", CONSTANT 1797) tragen könnten, werden sie durch wohlbekannte Zwischenprinzipien (Anwendungsregeln, die den Geltungsbereich und die Umstände der Geltung der Grundprinzipien definieren) für den Einzelnen einleuchtend und zweckdienlich für die Gesellschaft. Für Constant ist es deshalb unstrittig, dass die moralischen Grundprinzipien ohne diese vermittelnde Ausdeutung nicht ihrem Zweck dienen würden, das Zusammenleben der Menschen zu erleichtern, ganz im Gegenteil, ähnlich wie sich radikale oder extreme Prinzipien in der Politik bei ihrer konsequenten Verwirklichung nachteilig auf das Gemeinwohl auswirken (- Constant präzisiert hier nicht, worauf er anspielt, gut denkbar wäre es nach Ansicht des Verfassers jedoch, dass er sich auf radikale politische Ideologien mit Allgültigkeitsanspruch bezieht -), so würde auch in moralischen Fragen das starre und ausschließliche Verfolgen der ungeschliffenen Grundprinzipien "Unordnung in die sozialen Beziehungen des Menschen tragen" (A.A.O.). Als verdeutlichendes Beispiel für diese These kommt Constant dann unverzüglich auf den eingangs genannten Fall zu sprechen: Die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, gehört für Constant unstrittigerweise zu den moralischen Grundsätzen und wird als solcher von ihm auch akzeptiert und geachtet. Dennoch vertritt er die Ansicht, dass die unbedingte und jeglichen Zusatz verbietende Pflicht, in jeder möglichen Situation die Wahrheit zu sprechen, ihren Ausschließlichkeitsanspruch vorausgesetzt, eine besonders gravierende Konsequenz hätte: Sie würde, so wörtlich, "jedes menschliche Zusammenleben unmöglich machen" (A.A.O.). Nun ist Constants Begründung hierfür nicht ohne weitere Kenntnisse verständlich, da er gleich hier explizit auf "einen deutschen Philosophen" (A.A.O.), - die klassische Interpretation geht davon aus, dass Constant hier direkt Kant angesprochen hat - zu sprechen kommt, und polemisch dessen in seinen Augen groteske Ansicht, selbst im (oben skizzierten) Beispielfall sei die Lüge ein Verbrechen, als augenfällige Verirrung infolge einer scheuklappenartigen Konzentration auf reine Grundsätze brandmarkt. Etwas im Dunkeln bleibt hier der Grund, warum denn aber (einmal abgesehen von den unbestreitbar negativen Konsequenzen für das Opfer und den Gewissenskonflikt des Befragten im Beispielfall) hier tatsächlich das Zusammenleben der ganzen Menschheit beeinträchtigt werden soll. Hier ist wohl die Rechtssicherheit als ausschlaggebender Faktor anzuführen: Das Vertrauen des Einzelnen in das Recht und die Einsicht in die Notwendigkeit seiner Geltung gründet sich einleuchtenderweise nicht zuletzt auf die Gewissheit, dass das Recht ihn selbst bei Bedarf auch vor Angriffen auf seine Person zu schützen vermag und schützen wird. Genau dies geschieht aber im Beispielfall nicht: Wendet der Befragte nicht die Notlüge an, wird das Opfer aller Voraussicht nach vom Mörder umgebracht. Gesetzt den Fall, man votiert für eine Rechtspflicht, die dem Befragten die Lüge untersagt, so verschafft man damit einem Recht Geltung, das im Extremfall die Verhinderung eines Mordes verbietet. Verallgemeinert man dieses Funktionsprinzip auf die Gesamtheit der Menschen und Gesetze, so wäre die Schutzfunktion des Rechtes gegenüber der Unversehrtheit des Einzelnen Makulatur und damit die Quelle des Vertrauens in das Recht beseitigt. In der Konsequenz wäre das menschliche Zusammenleben mittels einer Rechtsordnung oder auch nur mittels vertraglicher Vereinbarungen unmöglich, denn warum sollte ein Bürger ein Recht achten oder ihm Geltung verschaffen, das ihm keine Sicherheit vor der Erleidung ungerechtfertigter Nachteile an der eigenen Person bietet?
Dies ist also der Argumentationszusammenhang, in den Constant seine Forderung nach Zwischenprinzipien einbettet. Nun könnte man annehmen, Constant müsse nach diesen Gedankengängen zur Überzeugung gelangt sein, ein Lügenverbot dürfe überhaupt nicht existieren. Aber dieses Umschwenken ins andere Extrem führt, wie Constant selbst anführt, genauso geradewegs ins Chaos, denn "alle Grundlagen der Moral würden damit hinfällig werden" und dies sei fatal, denn "wo alles schwankt, gibt es keinen festen Halt." (A.A.O.). Es ist interessant, festzustellen, wie Constant hier einen Gedanken selbst vorwegnimmt und anerkennt, der in Kants Erwiderung, wie wir später feststellen werden, als zentrales Argument g e g e n Constant fungiert. Auch und gerade hier sind, und an diesem Punkt trennen sich, bildlich gesprochen, Kants und Constants Wege wieder, in den Augen des Franzosen mittlere Grundsätze der Schlüssel zur Beseitigung der Widersprüchlichkeiten: "Nur infolge von Zwischenprinzipien hat dieses erste Prinzip [der Wahrheitspflicht, Anm. d. Verf.] ohne Nachteile akzeptiert werden können". (A.A.O.) Hier drängt sich die Frage auf, wie diese Zwischenprinzipien denn zu finden sind, denn Constant ist der Meinung, dass der scheinbare Widerspruch in jedem Prinzip, das sich als wahr erwiesen hat und gleichzeitig unanwendbar scheint, nur so lange existiert, wie der mittlere Grundsatz nicht gefunden ist, der definiert, wodurch das Grundprinzip im Einzelfall anwendbar wird. Constant führt abstrakt aus, zunächst müsse man das fragliche Prinzip definieren, um innerhalb dieser Definition den Verweis auf ein anderes Prinzip zu finden. Die Verbindung zwischen beiden Prinzipien enthält dann seiner Meinung nach das "Mittel zur Anwendung" (A.A.O.), zumindest aber wird man auf dieses früher oder später stoßen, wenn man das neugefundene Prinzip seinerseits definiert und so den Weg zu einem dritten Prinzip gewiesen bekommt und so weiter, bis aus der Kette des Zusammenhangs aller Prinzipien diese Anwendungsrichtlinie ersichtlich wird.
Wie ist dieses auf den ersten Blick sehr theoretische Verfahren in der Praxis anzuwenden? Erneut kommt Constant auf das Beispiel "Pflicht zur Wahrheit" zu sprechen. Die Definierung dieses Prinzips führt ihn zur Erkenntnis, dass man es bei dem Wahrheitsgebot mit einer Pflicht zu tun hat. Constant führt weiter aus, dass die Idee der Pflicht untrennbar mit der des Rechts zusammenhänge, eine Feststellung, die wir bereits eingangs dieser Arbeit getroffen haben: die Pflicht des Einen ist das Recht des Anderen, demgegenüber Ersterer die Verpflichtung hat. Umgekehrt gewendet heisst das: Hat A kein Recht auf eine bestimmte Handlung, die B ihm gegenüber ausführen soll, so ist B zu dieser Handlung nicht verpflichtet. Und im Beispielfall hat der (potentielle) Mörder kein Recht auf die wahrhaftige Antwort des Befragten, denn es hat "kein Mensch ein Recht auf die Wahrheit, die einem anderen schadet" (A.A.O.).
Es ist leicht einzusehen, dass die wahrhaftige Aussage des Befragten im skizzierten Fall dem Heimgesuchten schaden, ja, sogar der Willkür eines noch potentiellen, aber bekennenden Mörders ausliefern würde.Hier will Constant nun das Bindeglied gefunden haben, das das zuvor unakzeptable Prinzip des unbedingten Lügenverbots anwendbar macht. Hätte man als unmittelbare Konsequenz aus der Ansicht, dass dieses Prinzip mit seinen Folgen unakzeptabel sei, dieses einfach verworfen, mit der Begründung, das Prinzip gehe an der Realität in der Welt vorbei, so hätte man "alles der Willkür anheimgestellt" (A.A.O.). Abweichend von Kant hält es Constant jedoch für einen großen Unterschied gegenüber dem schieren Verwerfen des Prinzips, dieses stattdessen genauer zu untersuchen, zu definieren und es exakt so weit zu modifizieren, wie es zur Harmonisierung mit der Einzelfallwirklichkeit notwendig ist, ohne damit das Prinzip an sich in Frage zu stellen. Aus dieser Erkenntnis ist zu schließen, dass es nach Constant kein zu Recht als wahr erkanntes Prinzip geben kann, das unanwendbar ist. Man sollte also kein solches Prinzip allein deshalb verwerfen, weil es auf den ersten Blick unanwendbar scheint - mehr noch, man soll es n i e m a l s aufgeben, gleich, welches (scheinbare) Risiko man eingeht. Dieses Risiko lässt sich durch die zuvor beschriebene Prozedur der Definierung und Kombination mit ähnlichen Prinzipien so weit reduzieren, bis die Anwendung möglich, sinnvoll und sogar vorteilhaft erscheint. Constant führt einen logischen Beweis gegen diejenigen ins Feld, die behaupten, abstrakte Prinzipien überhaupt seien in ihrem Wesen
leer und unanwendbar: Diese Behauptung ist nach Form und Inhalt nämlich selbst wieder ein abstraktes Prinzip. So führen sich in Constants Augen die Vertreter dieser radikalen Auffassung selbst ad absurdum: Er vergleicht sie in einer etwas polemisch-augenzwinkernden Parallele mit den Sophisten im antiken Griechenland, "die an allem zweifelten und schließlich ihren eigenen Zweifel nicht mehr zu bekennen wagten" (A.A.O.). Constant gibt durchaus zu, dass die Abstraktheit eines Prinzips überwunden werden muss, aber keinesfalls, indem gleich das ganze Prinzip für unbrauchbar erklärt und verworfen wird.
Kants moral- und rechtsphilosophische Bewertung der Lüge
im Spannungsfeld zwischen
Systemkonsistenz und Praxisbewährung
Hauptgesichtspunkte der Argumentation Immanuel Kants in seiner Entgegnung auf Constant
Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen
Kant beginnt seine Entgegnung auf Benjamin Constant mit der Wiedergabe eines kurzen Textabschnitts aus dessen Schrift Über politische Reaktion. Die zentrale Aussage in diesem Zitat ist eine, die uns bereits schon mehrmals begegnet ist: "Die Wahrheit zu sagen, ist also eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf Wahrheit hat" (CONSTANT 1797). Kant hat gegen diesen zentalen Satz gleich mehrere Einwände. Zunächst verweist er auf die bereits im ersten Teil ausführlich kommentierte und von ihm vehement vertretene Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Die von Constant verwendete Formulierung "Recht auf Wahrheit" bezeichnet Kant als "Wort ohne Sinn" (KANT 1797): Die Sicherstellung der Wahrheit ist kein Unterfangen, das dem Regiment des menschlichen Willens unterliegt, sondern diese wird durch vielfältige, teils naturgesetzliche Faktoren beeinflusst, die ungünstigenfalls ausserhalb der Erkenntnis- und Einflusssphäre des Einzelnen liegen. Dem Menschen ein Gesetz aufzuerlegen, jederzeit für die Wahrheit Sorge zu tragen, hiesse also, ihm etwas unmögliches abzuverlangen. Kant spricht diesbezüglich von einer "seltsamen Logik" (A.A.O.). Andersherum gewendet heisst das: Ein Mensch hat zwar ein Recht auf Wahrhaftigkeit (=subjektive Wahrheit), aber er kann keines auf Wahrheit haben, weil die korrespondierende Pflicht unmöglich zu erfüllen ist. Diese Argumentation könnte man durchaus als kleinliche Kritik an einer schlimmstenfalls ungenauen Formulierung Constants abtun. Angesichts der bereits gezeigten großen Wichtigkeit dieser Unterscheidung für Kant, die er auch an anderen Stellen seiner Werke und ohne konkret vorhandenes Negativbeispiel betont hat, sollte dieser Verdacht aber doch eher fernliegen. Im folgenden trifft Kant dann eine erste fundamentale Differenzierung. Es sind im gegebenen Problemfall zwei Fragen zu klären: Die Frage, ob der Mensch unter bestimmten Umständen ein Recht zur Unwahrhaftigkeit, und die Frage, ob derselbe sogar eine Pflicht zu dieser Unwahrhaftigkeit habe, wenn er dadurch eine "Missetat" (A.A.O.) verhindern kann. Direkt danach geht Kant auf das wohl auf den ersten Blick schlagendste Argument der Gegenseite ein, das sich in seiner Urform - wie gezeigt - bereits bei Hugo Grotius findet: Es kann dann keine Pflicht zur Wahrhaftigkeit bestehen, wenn der Belogene gar kein Recht auf dieselbe hat. Es bleibt unklar, ob Kant diesem Satz nicht sogar zustimmen kann, doch ist das Argument nicht dazu geeignet, Kants Gedankengang zu Fall zu bringen: Kant hebt nämlich gar nicht auf den Belogenen und dessen möglicherweise durch Fehlverhalten aufs Spiel gesetzten Rechte an, sondern auf die "formale Pflicht des Menschen gegen jeden". Tatsächlich kann der Mordabsichten Hegende s e i n Recht auf die wahrhaftige Aussage des Gegenübers verwirken: Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit bleibt für den Gegenüber dennoch unberührt und bestehen, und der "Einforderer" dieser Pflicht wäre, bildlich gesprochen, die Allgemeinheit. Welches Interesse kann nun diese Allgemeinheit (Kant spricht von "der Menschheit überhaupt") an der Erfüllung dieser Pflicht haben, und ist dieses Interesse berechtigt? An diesem Punkt scheint geboten, eine von Georg Geismann betonte Einschränkung bzw. Präzisierung wiederzugeben: Gemäss der kantischen Dichotomie Tugend - vs. Rechtslehre (die z.B. die systematische Darstellung bzw. Gliederung der "Metaphysik der Sitten" bestimmt) ist es auch bei dieser Problemstellung angezeigt, diese beiden Bereiche nicht zu vermischen. Im Falle des vorliegenden Aufsatzes ist die Frage der Zuordnung eindeutig zu beantworten: "Dort wird [...] die moralische Befugnis bzw. Pflicht zu einer Lüge aus Menschenliebe nur als Problem des Rechts aufgeworfen" (GEISMANN 1988). Weitere Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis werden wir gegebenenfalls später ziehen, im Moment genügt der Hinweis, dass uns das Bewusstsein, dass Kant durchgängig eine rechtliche (damit allerdings nicht zwangsläufig nicht-moralische) Argumentation gegen Constant führt, unmittelbar zu Kants Kernstück seiner praktischen Philosophie, dem kategorischen Imperativ leitet. Dieser gebietet, so zu handeln, dass die Maxime der Handlung sich zu einem allgemeinen Gesetz eignen würde. Hier kehren wir nun direkt zu Kants Ausführungen in Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen zurück: Kant verneint eindeutig, dass die dem kategorischen Imperativ innewohnende Forderung im Beispielfall erfüllt sein könne, ja, mehr noch, er stellt fest, dass auch eine einmalige Nichtbeachtung des Lügeverbots verheerende Konsequenzen für die Allgemeinheit (die ja im kategorischen Imperativ sozusagen als "Prüfstein" fungiert) nach sich zöge: "Denn sie [die Lüge, Anm. d. Verf.] schadet jederzeit einem Anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht" (KANT 1797). Hiermit hat Kant deutlich gemacht, warum es nicht ausreicht, anhand der Beobachtung der Verfassung beteiligter Personen festzustellen, eine ausgesprochene Lüge habe niemandem Schaden zugefügt und daraus zu folgern, diese sei rechtlich unbedenklich. Gerade die unbeteilgten Personen in ihrer Gesamtheit, modern ausgedrückt die Gesellschaft, hat Schaden erlitten. Er bedient sich eines Dammbruch - Arguments, mit dem er glaubwürdig machen kann, dass die Rechtssicherheit, ja sogar die Relevanz des Rechts überhaupt durch eine Lüge jedweder Art, Motivation und beobachtbarer Konsequenz in Frage gestellt wird: Jede menschliche Interaktion, das Zusammenleben (bzw. die Gesellschaft) bedingt Absprachen, Übereinkünfte und Verträge. Diese kommen aufgrund von Absichtserklärungen (Kant: "Deklarationen") zustande, deren Glaubwürdigkeit die Basis dafür ist, dass andere Menschen in ihrem Handeln einerseits auf diese Rücksicht nehmen, andererseits sich selbst aber auch zum eigenen Vorteil auf diese verlassen können. Die Lüge statuiert nun gleichsam ein Exempel für die Nichtgeltung des letzten Satzes: Wenn mein Gegenüber unter dem Deckmantel der Wahrheit die Unwahrheit spricht, so ist auch seinen Deklarationen und Absprachen zu misstrauen, ja, den Absprachen aller Menschen überhaupt, denn was ich beim einen beobachtet habe, kann ich beim anderen (der nicht weniger Mensch ist als ersterer) nicht als von vornherein unmöglich annehmen - ich muss ihm misstrauen, und damit allen Menschen und letztlich der Institution der Übereinkunft und der wahrhaftigen Aussage an sich. Es träte der groteske Fall ein, dass die Durchführung des dem kategorischen Imperativs innewohnenden Prüfverfahrens (der Verallgemeinerung) unweigerlich zur Selbstzerstörung des praktischen Gesetzes in seiner Gesamtheit führen würde. Unzulässigerweise geschädigt wird zwar nicht der Angelogene im besonderen, wohl aber die Menschheit, deren Teil ja auch der Angelogene selbst ist. Kant selbst präzisiert seine Folgerungen an anderer Stelle so:
Wenn nun ein Mensch falsche Nachrichten ergreift, so thut er dadurch keinem Menschen insbesondere Tort, aber der Menschheit, denn wenn das allgemein wäre, so würde die Wißbegierde des Menschen vereitelt, denn ich kann nur außer der Speculation durch 2 Wege meine Erkenntniße erweitern, durch Erfahrung und Erzählung; weil ich nun aber nicht alles selbst erfahren kann, und die Erzählungen andrer falsche Nachrichten seyn sollten, so kann die Wißbegierde nicht befriediget werden".
(zit. n. GEISMANN 1988)
Nach Ansicht des Verfassers besonders einleuchtend ist Georg Geismanns Zusammenfassung bzw. Verdeutlichung des Zusammenhangs:
1) Das Recht der Menschheit ist das Recht auf die allgemein-gesetzliche Harmonisierung der äußeren Freiheit aller.
2) Verträge sind die notwendige Bedingung der Möglichkeit einer solchen gesetzlichen Übereinstimmung der äußeren Freiheit der Menschen.
3) Die Lüge als Gesetz nimmt Verträgen ihre gesetzliche Möglichkeit.
4) Das ("vermeinte") Recht der Lüge schließt daher eine gesetzliche Übereinstimmung der äußeren Freiheit aller aus und ist somit eine Verletzung des Rechts der Menschheit.
(GEISMANN 1988)
Der nächste Schritt im Gedankengang Kants soll hier nur kurz skizziert werden, da er erheblichen Diskussionsstoff für das Thema des nächsten Kapitels bietet, die Frage der Praxisbewährung der kantischen Beispiele. Kant behauptet, bei vorschriftskonformem Verhalten (der zum Aufenthaltsort des Opfers Befragte gibt denselben preis) könne der Betreffende von der "öffentlichen Gerechtigkeit" (A.A.O.) nicht für die (möglicherweise unvorhergesehenen) Folgen dieses Handelns zur Verantwortung gezogen werden, wohingegen er, benutzt er die Notlüge, um den Aufenthaltsort geheimzuhalten bzw. den Mörder irrezuführen, für alle Folgen, auch für unvorhersehbare, haftet. Kant versucht dies anhand der Gegenüberstellung zweier Extremfälle zu untermauern: Im ersten sagt der Befragte die Wahrheit, ohne zu wissen, dass das Opfer vorher doch weggegangen ist und sich nicht mehr in seiner Wohnung befindet; der Mörder trifft sein Opfer folglich nicht an und die Tat wäre verhindert. Im zweiten setzt der Befragte die vermeintliche Notlüge ein und sagt, das Opfer sei abwesend; wieder ist das Opfer auch tatsächlich (ohne Wissen des Befragten) ausser Haus; der Mörder kehrt um, begegnet beim Rückzug dem heimkehrenden Opfer und ermordet es. Kant rechnet die rechtliche Verantwortung für die im zweiten Fall geschilderten Folgen dem Befragten zu, mit der Begründung, es wäre denkbar, dass, falls der Befragte nach bestem Wissen ehrlich antwortet, der Täter beim Suchen nach seinem Opfer im Haus bzw. in der Wohnung durch herbeigelaufene Nachbarn an der Tat gehindert würde. Der Verfasser hält es für angezeigt,
der Versuchung trotzen, bereits hier einen Kommentar zur Stringenz dieser Argumentation abzugeben und verweist hierzu auf das nächste Kapitel.
Im folgenden nimmt Kant dann direkt auf Constant bezug, und zwar auf dessen Hinweis auf die Notwendigkeit eines "mittleren Grundsatzes". Wie schon im betreffenden Kapitel erläutert, beabsichtigte Constant unbeschadet des allgemeinen Lügenverbots, das er im Kern akzeptierte, eine Anwendungsregel zu finden, die genau definiert, unter welchen ausnahmeartigen Umständen das Verbot eingeschränkt werden kann oder muss, ohne in seiner Gesamtheit an Geltung bzw. Kraft zu verlieren. Dem erteilt Kant eine Absage: Seiner Meinung nach war diese Suche Constants von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es eine solche Anwendungsregel schlechterdings nicht gibt. Anschliessend begründet Kant, wieso (wie bereits zuvor erwähnt) der Aufrichtige selbst für die schlimmsten Konsequenzen dieser Aufrichtigkeit (im Beispielfall der drohende Tod des Opfers durch Ermordung) nicht verantwortlich sein kann: Kant unterscheidet zwischen dem "Tatbestand" des Schadens und dem des Unrecht Tuns. Der Schaden am Opfer wird ihm zufolge vom Zufall und nicht durch die Aufrichtigkeit des Befragten verursacht. Dieser sorgt für ein Zusammentreffen empirischer Umstände, die das Opfer erst der Gefährdung durch die aufrichtige Aussage aussetzen. Ausserdem hatte der Befragte streng kantisch gedacht gar keine andere Wahl als pflichtgemäß zu handeln (das heisst in diesem Fall aufrichtig zu sein). Zum Unrecht Tun dagegen gehört für Kant ohne jeden Zweifel auch jede Verletzung des Lügenverbots, wofür der Handelnde dann sehr wohl haftbar ist. Hieraus ergibt sich auch, warum Kant den Constantschen Satz "Die Wahrheit ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf Wahrheit hat" (CONSTANT 1797) ablehnen muss: Wahrheit erscheint ihm hier als Besitzgut missverstanden, auf welches Rechte individuell zugestanden und abgesprochen werden können. Aus der erkannten Konsequenz, die aus der Vernachlässigung der Wahrhaftigkeitspflicht resultiert, nämlich das Begehen von Unrecht an der Menschheit überhaupt, erklärt sich, wieso es niemals um einzelne Personen für sich genommen gehen kann, und warum es irrelevant ist, ob diesen im Einzelfall Schaden entsteht oder nicht: Weil die Schädigung bzw. Rechtsverletzung nicht an ihnen, sondern an allen Menschen überhaupt begangen wird. Kant verlangt von einem Menschen, der sich dessen bewusst ist, dass dieser bereits wenn er von jemandem gefragt würde, ob er beabsichtigt, die folgende Frage aufrichtig oder nicht zu beantworten, sich entrüste ob des Verdachts, er könne sich mit dem Gedanken tragen, die Unwahrheit zu sagen. Denn wer vor seiner Antwort auf eine solche heikle Frage erst abwägt, ob er wahrhaftig antworten oder Notlügen benutzen soll, ist in Kants Denkweise bereits ein potentieller Lügner, da er sich der ausnahmslosen Geltung des Lügenverbots nicht bewusst ist oder nicht bewusst sein will.
Abschliessend sollten wir noch einmal Kants und Constants Positionen in verkürzter Form gegenüberstellen:
1) Kant leitet aus dem kategorischen Imperativ eine unbedingte Geltung des Lügenverbots ab. Constant erkennt diese Überlegung prinzipiell an: "Ein als wahr erkannter Grundsatz muß also niemals verlassen werden: wie anscheinend auch Gefahr dabei sich befindet" (CONSTANT 1797).
2) Beide argumentieren aus der Gefahr heraus, dass die Menschheit in ihrer Gesamtheit oder in den Funktionsprinzipien ihres Zusammen
Kurzer inhaltlicher Überblick
Das Problem der Lüge wurde - weit vor Kant - bereits von Platon und Aristoteles als philosophisches Problem erkannt und behandelt. Bis dahin einmalig dürfte jedoch die Zuspitzung sein, welche die Frage durch die Begegnung mit Kants praktischer Philosophie und dort im Kern mit dem Leitgedanken des Kategorischen Imperativs erfahren hat. In diesem Zusammenhang entwickeln sich neue, kantspezifische Aspekte des Themas, die zu Beginn des unten erläuterten zweiten Teils der Arbeit behandelt werden sollen. Vor der Betrachtung derartiger Fragen erscheint es jedoch geboten, den gesamten Themenkomplex durch einleitende Definitionen und der komprimierten Vorstellung wesentlicher Grundfragen und der zugehörigen Konzepte und Theorien der Philosophie - und Geistesgeschichte allgemein abzustecken. Dies wird Gegenstand des ersten Teils sein, dessen thematische Untergliederung ebenfalls im folgenden aufgeführt und erläutert wird. Da Kant als der zentrale Angelpunkt dieser Arbeit fungieren wird, bietet er sich als Ausgangspunkt für einen abschließenden Ausblick über die weitere Entwicklung der Problematik im Spiegel einiger ausgewählter Autoren an, die auf Kant Bezug nehmen und seine Standpunkte weiterentwickelt oder kritisch hinterfragt haben.
Kurzer inhaltlicher Überblick
Annäherung an den Begriff ‚Lüge'
als Problem der praktischen Philosophie
LÜGE ALS NEGATIVE WAHRHEIT ( KURZER ABRISS ÜBER GRUNDLEGENDE THEORIEN ZUM WAHRHEITSBEGRIFF)
Aristoteles definierte als wesentliche Aufgabe der Philosophie die Suche nach Wahrheit. Demnach scheint traditionell, gleichsam sogar definitorisch das Streben nach Erkenntnis im Gegensatz zum Wesen der Lüge zu stehen: Lüge impliziert Unwahrheit, Philosophie impliziert Wahrheit. Diese bis hierhin banale Feststellung gewinnt an Relevanz, sobald man versucht, das Wesen der Lüge näher zu ergründen, denn dieser Feststellung zufolge kann nicht herausgefunden werden, was Lüge im philosophischen Sinne ist, wenn nicht zuvor ein Begriff davon vorliegt, was unter philosophischer Wahrheit zu verstehen ist. Im Bewußtsein der Gefahr, die Grenzen des Arbeitsthemas zu sprengen, soll daher kurz auf grundlegende Wahrheitstheorien eingegangen und hiermit die nötigen Fakten für die in Abschnitt 2 vorzunehmende Bewertung bereitgestellt werden.
IST LÜGE IN JEDEM FALL MIT DEM VORSÄTZLICHEN ÄUßERN DER UNWAHRHEIT GLEICHZUSETZEN?
Mit diesem Abschnitt soll eine weitere Konkretisierung des Begriffs "Lüge" erfolgen. Wie weit reicht die Symmetrie von Wahrheit gegenüber Unwahrheit zur Charakterisierung des spezifischen Wesens der Lüge aus? Welche weiteren Differenzierungen sind zu treffen?Hierzu soll die Unterscheidung Kants zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit erörtert werden, ohne damit seinen später zu behandelnden Stellungnahmen zur Bewertung der Lüge selbst vorzugreifen. Hilfreich in diesem Zusammenhang scheint außerdem ein Grundgedanke, der allerdings mit seinem rechtsphilosophisch wertenden Charakter eine vorübergehende Abkehr von der ansonsten rein definitorischen Motivation dieses ersten Teils der Arbeit darstellt: Kann bei einer vorsätzlichen Äußerung der Unwahrheit überhaupt von Lüge gesprochen werden, wenn der Angelogene aus plausiblen Gründen gar kein R e c h t auf Wahrheit hat?Dieser Ansatz hat Anspruch auf besonders ausführliche Behandlung, weil er bereits vor Kant im 17. Jahrhundert von Hugo Grotius formuliert wird und bis hin zu Benjamin Constant die Äußerungen nachfolgender Autoren beeinflußt, deren Hauptgesichtspunkte anschließend in Hinführung auf den folgenden Abschnitt zusammengefasst werden.
DIE ZUSPITZUNG DER PROBLEMATIK AUF DEN BEISPIELFALL DER MÖGLICHEN RETTUNG EINES UNSCHULDIGEN VOR EINEM MÖRDER DURCH LÜGE IN BENJAMIN CONSTANTS AUFSATZ ÜBER POLITISCHE REAKTION
Obwohl nicht mit letzter Sicherheit geklärt ist, ob Constant seine Schrift tatsächlich ausdrücklich an Kants Adresse richten wollte, gilt sie als wichtigster Impuls für Kants Formulierung eines expliziten Lügenverbots im von Constant skizzierten Beispielfall. Hier soll zunächst nur Constants Aufsatz per se analysiert werden, im ersten Abschnitt des zweiten Teils wird dann Kants Entgegnung hinzugezogen. Als interessantester Aspekt deutet sich die in Constants Schrift erkennbare wohlabgewogene, fast vorsichtige Behandlung der Problematik an; ein umfassendes Bekenntnis zu einem Automatismus der Lüge-Legitimation bei entsprechenden Voraussetzungen, der den leidenschaftlichen Protest Kants leicht vorhersehbar machen würde, sucht man vergebens. Daher wird es Aufgabe dieses Abschnitts sein, zu klären, unter welchen Einschränkungen, Verfeinerungen, Präzisierungen oder Ergänzungen das Lügenverbot nach Constant mit den am gewählten Beispiel greifbaren besonderen Umständen kompatibel gemacht werden kann.
Kants moral- und rechtsphilosophische Bewertung der Lüge im Spannungsfeld zwischen Systemkonsistenz und Praxisbewährung
HAUPTGESICHTSPUNKTE DER ARGUMENTATION IMMANUEL KANTS IN SEINER ENTGEGNUNG AUF CONSTANT
ÜBER EIN VERMEINTLICHES RECHT,
AUS MENSCHENLIEBE ZU LÜGEN
Ohne der Versuchung zu unterliegen, das Nachvollziehen des kantischen Argumentationsgangs in dieser Schrift durch voreilige Wertungen zu erschweren, soll aufgezeigt werden, wie Kant in konsequenter Anknüpfung an seine in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Metaphysik der Sitten entwickelte praktische Philosophie mit dem moralischen Gesetz und dem kategorischen Imperativ als Quintessenz sein universal gültiges L ü g e n - v e r b o t und seine Warnung vor dem Herbeiführen eines Präzedenzfalles entfaltet, der in den Augen Kants durch eine einmalige Nichtbeachtung des Lügenverbots geschaffen würde und eine Infragestellung oder gar Annullierung des gesamten Gesetzes in seiner ihm innewohnenden Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit zur Folge hätte.
DIE FUNKTIONALITÄT VON FALLBEISPIELEN MIT ALLTAGSBEZUG IN KANTS HAUPTWERKEN ZUR PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE
Bei einem Thema, das so offensichtlich praktisch ist, drängt sich die (zuweilen gewiss auch nicht explizit philosophische) Betrachtung konkreter im Alltag denkbarer und nicht nur zu Verdeutlichungszwecken konstruierter Situationen auf, um diese quasi als Bewährungshürde für die mehr oder minder die Tendenz zur Abstraktion und Generalisierung zeigende genuin philosophische Herangehensweise an die Problematik heranzuziehen. Auch Kant führt mehrfach Beispielfälle dezidiert zum Beweis der Alltagstauglichkeit seiner moral- und rechtsphilosophischen Konzepte an. Im Falle des vorliegenden Abschnitts bietet sich diesbezüglich eine Gegenüberstellung zweier solcher Situationen an: Am Vergleich eines ausgewählten Beispieles aus der Kritik der praktischen Vernunft mit dem Beispielfall des Lügenproblems, soll erörtert werden, ob Kants allgegenwärtige Tendenz zur Bildung geschlossener, symmetrischer philosophischer Systeme mit dem Streben nach für den Einzelnen nachvollziehbarer praktischer Relevanz und Bewährung kollidiert.
VORSCHLÄGE ZUR EINORDNUNG DES ANGEBLICHEN KANTISCHEN ‚RIGORISMUS' UND VORSTELLUNG
EINER VERMITTELNDEN POSITION ANHAND EINES AUFSATZES VON HANS WAGNER
Dieser Abschnitt konzentriert sich wieder ganz auf das Problem der Lüge. Kants Stellungnahmen hierzu haben zu einer philosophischen Kontroverse geführt, die noch heute andauert. Gerade die bereits zuvor behandelte Vorgehensweise, Einzelfälle durchzuspielen, hat Philosophen wie Hegel und Paton dazu geführt, die Position Kants in diametralem Gegensatz zu dem einzuordnen, was gemeinhin als "gesunder Menschenverstand" bezeichnet wird. In dieser Wertung wurzelt der Vorwurf, Kant habe die starke Neigung zum sogenannten "Rigorismus" und wolle damit das Eingeständnis verhindern, daß die Konsistenz seines Systems an Grenzen stößt, wird sie nur entsprechenden praktischen Prüfungen unterzogen. Es kann sicher nicht Zielsetzung der vorliegenden Arbeit sein, den Vorwurf definitiv zu bestätigen oder zu entkräften. Dennoch soll nach seiner ausführlichen Darstellung auch eine Perspektive zur eventuellen Überwindung des Streits eröffnet werden. Besonders vielversprechend schien hier ein Aufsatz von Hans Wagner, der im Notrecht ein Instrument sieht, mit dem die "Härten" der kantischen Position abgemildert werden könnten, ohne das Gebot der Gesetzesbefolgung in seiner Unbedingtheit einzuschränken.
Annäherung an den Begriff 'Lüge'als Problem der praktischen Philosophie
Lüge als negative Wahrheit -
Kurzer Abriss über grundlegende
Theorien zum Wahrheitsbegriff
Vergleich verschiedener Definitionen von Lüge und Lügenhaftigkeit
Was ist Lüge? Um diese Frage innerhalb der Grenzen der philosophischen Disziplin erschöpfend zu beantworten, wäre sicherlich eine lückenlose Analyse aller relevanten Aussagen und Theorien zum Thema, die philosophiegeschichtlich bedeutend waren oder sind, vonnöten. Obwohl diese Arbeit dazu beitragen soll, die Vorstellung des Lesers über Aspekte der Lüge zu erweitern, ist eine monographische Vollständigkeit nicht beabsichtigt. Stattdessen wollen wir uns auf die Themenkomplexe konzentrieren, die das im Titel dieser Arbeit genannte Problem beleuchten. Hierzu gehört auch - wie bereits in der einleitenden Übersicht erwähnt - die Auseinandersetzung mit Facetten des Themas, die nicht als unmittelbar philosophisch einzustufen sind. Diesen Weg wollen wir auch in diesem Abschnitt gehen und uns anhand von zwei bereits vorhandenen Definitionen einen ersten Eindruck von der begrifflichen Extension der Thematik "Lüge" verschaffen - die eine eine philosophische, die andere aus dem Bereich der Psychologie:
Lüge, auf Täuschung berechnete Aussage, die das verschweigt bzw. entstellt, was der Aussagende über den betr. Sachverhalt weiß bzw. anders weiß, als er sagt. Vom Standpunkt der Ethik aus ist die L. zu verurteilen, wenn die Täuschung hervorgerufen wird, um einem anderen zu schaden oder um sich einen Vorteil vor anderen zu verschaffen. Soweit das nicht geschieht, können insbes. L.n aus Höflichkeit oder Mitleid positiv gewertet werden. Viele L.n entstehen durch Fragen: der Befragte empfindet die Frage als eine Nötigung zur (wahrheitsgemäßen) Antwort (weshalb an eine Respektsperson keine Fragen gerichtet werden dürfen), da er sich durch die L. zu entziehen sucht (Volksmund: "Frage mich nicht, dann brauche ich dich nicht anzulügen"); meist ist boßes Stillschweigen untunlich, da es Vermutungen zu viel Spielraum läßt und Unheil nicht sicher abwendet (z.B. beim Verhör eines Kriegsgefangenen oder bei Fragen, die auf Geschäftsgeheimnisse zielen). In solchen Situationen muß von Fall zu Fall und nach bestem Gewissen entschieden werden, ob die Wahrhaftigkeit oder die L. mit der dieser ausgewichen wird, dem höheren ethischen Wert dient.
(SCHMIDT 1978)
Lügenhaftigkeit, Tendenz zur bewußten Verheimlichung oder unaufrichtigen Wiedergabe von Sachverhalten mit dem Ziel, für sich oder andere Vorteile zu erlangen bzw. Nachteile von der eigenen Person abzuwenden oder diese anderen Personen zuzufügen. L. mit dem Gegenpol "Wahrheitsliebe" gilt nicht als allg. Merkmal; die Beurteilung der L., ein in der forensischen Psychologie zentrales Problem, kann daher nur in Abhängigkeit von der speziellen Situation und den jeweiligen individuellen Handlungsmotiven erfolgen.
(AMELANG 1980)
Zunächst muß auf gewisse Grenzen der Vergleichbarkeit der beiden Definitionen hingewiesen werden: Geht es bei der ersten, aus der philosophischen Perspektive verfassten, sozusagen um einen konkreten, einmaligen Tatbestand, haben wir es bei der zweiten, das psychologische Phänomen der Lügenhaftigkeit beschreibenden, mit der Charakterisierung einer grundsätzlichen Disposition einer Person zu tun, sozusagen ihrer Neigung zur Anwendung von Lügen, auch wenn ausdrücklich betont wird, daß die Analyse konkreter Einzelfälle unumgänglich ist, wenn der Fehler vermieden werden soll, die Lügenhaftigkeit als isoliert erkennbares Merkmal eines Menschen zu erachten. Beide teilen dem Leser jedoch etwas über die naheliegenden Motive eines "Lügners" mit: Lügen ist denkbar aus Altruismus (Hoffnung auf Vorteile für andere), Mitleid, Höflichkeit, Selbstschutz, Egoismus (Hoffnung auf Vorteile für die eigene Person) oder mit der Absicht, anderen Schaden zuzufügen. Während sich die zweite Definition einer Bewertung dieser möglichen Beweggründe enthält, bringt der Verweis der Zweiten auf die Ethik sofort eine Klassifikation der Motive mit sich. Zumindest hieran läßt sich erkennen: Es scheint ein allgemein empfundenes, aus praktisch-moralischem Bedarf nach Orientierung entspringendes Bedürfnis nach einer (möglichst wissenschaftlich und einleuchtend begründeten) Einteilung solcher Beweggründe auf einer Art "Verwerflichkeitsskala" zu geben. Zumindest in dieser allgemeinen Definition findet sich trotz der jedem Nachschlagewerk eigenen Notwendigkeit zu einer sehr komprimierten Wiedergabe der Fakten keine eindeutige, kurze Qualifizierung der Lüge allgemein als verwerflich. Wie wir im weiteren sehen werden, war dieser differenzierte Blickwinkel jedoch keinesfalls immer philosophischer "common sense". Offenbar stehen sich bei der Lüge zwei entgegengesetzte Kräfte gegenüber: Die Nötigung zur Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit, die der ersten Definition zufolge bereits dem Wesen einer für das Problem "sensiblen" Frage an den Betroffenen innewohnt, und die bereits aufgezählten möglichen Umstände, die der wahrheitsgetreuen Beantwortung durch den Betroffenen entgegenstehen. Die Ethik verlangt nun vom philosophischen Beobachter, einen dieser beiden Pole für vorrangig zu erklären. Diese Aufgabe scheint das Hauptproblem zu sein, das am Gesamtphänomen "Lüge" von philosophischem Interesse ist.
Der Verfasser der Definition hat sich für eine Trennung entschieden: Er nennt Mitleid und Höflichkeit als Beispiele für ausreichend überzeugende Motive, um den Akt der Lüge zu rechtfertigen und begründet dies auch mit dem in der Regel nicht zur Verfügung stehenden Ausweg des Stillschweigens, indem er argumentiert, das Stillschweigen werde mehrheitlich nach dem Motto: "Keine Aussage ist auch eine Aussage" bewertet. Die Schlußfolgerung ist, dass in allen Fällen, die nicht auf die klar zu verurteilenden Beweggründe des eigenen Vorteils oder der Schädigung anderer zurückzuführen sind, eine Einzelfallprüfung vor der Entscheidung zur Wahrhaftigkeit oder zur
(Not-)Lüge notwendig sei. Diese Prüfung soll nach Meinung des Autors der Definition "nach bestem Wissen und Gewissen" erfolgen; hierbei ist sicherlich der hohe Grad der Verschwommenheit und Deutbarkeit dieser Formulierung kritisch anzumerken. Wie "Gewissen" in einem philosophisch kohärenten Sinn definiert werden soll, würde sicherlich nicht einmal eine weitere Arbeit vom Umfang der vorliegenden zufriedenstellend klären können; es ist deshalb zu bezweifeln, dass der Terminus ohne vorherige Eingrenzung und inhaltliche Festlegung einen Beitrag zur in der zitierten Definition angestrebten Orientierung über die ethische Bewertung der Problematik leisten kann. Bleibt also die Forderung nach "bestem Wissen": Es liegt nahe, dass dieses dann Anwendung findet, wenn der Betreffende nach Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Informationsquellen handelt, sozusagen den für ihn erreichbaren Teilbereich der Wahrheit zum Maßstab seiner Entscheidung macht. Mehr über diese Forderung werden wir bei Kants Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit erfahren, die engen Bezug zu ihr hat und Gegenstand eines späteren Abschnitts dieser Arbeit sein wird.. Bereits jetzt drängt sich jedoch die Erhellung eines noch grundsätzlicheren Problems auf: Wenn der Handelnde wie erwähnt den für ihn erreichbaren Teilbereich der Wahrheit zum Maßstab seiner Entscheidung machen soll, dann muss zuvor die Frage näher beleuchtet werden: Was ist überhaupt Wahrheit?
seit der systematischen Beschäftigung mit philosophischen Themen die Suche nach Wahrheit, einerseits partiell in der wissenschaftlich korrekten Beantwortung einzelner Fragen welchen Inhalts auch immer, andererseits universell in der Suche nach einer Theorie der Wahrheit ohne Einschränkung auf bestimmte Sachverhalte aufgedrängt. Arno Baruzzi, Verfasser des Bands "Philosophie der Lüge" (nähere Angaben siehe im Anhang unter "BARUZZI 1996"), votiert gleichzeitig für die These, dass der Mensch in einer "Kultur der Wahrheit" lebe. Das menschliche Zusammenleben, Konventionen aller Art kommen offenbar nicht ohne Rückbezug auf die Wahrheit aus, erfahren durch sie Schutz vor der Beliebigkeit des Handelns beteiligter Personen. Vorbedingung von jeder Art eines Gesellschaftsvertrags scheint das Zustandekommen eines noch elementareren Gesellschaftsvertrags zu sein, der nur eine Verpflichtung kennt, und zwar die zur Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit, und damit implizit ein Bekenntnis zum Lügenverbot darstellt. Erneut erschließt sich hier über sehr grundsätzliche Aspekte der Problematik eine von Kant in seiner Argumentation zum Kernthema dieser Arbeit verwendete Behauptung: Die Lüge besitzt potentiell die Macht, jegliche durch Konvention funktionierende gesellschaftliche Interaktion von Menschen zunichte zu machen oder zumindest gänzlich ihrer Zweckdienlichkeit für Mensch und Gesellschaft zu berauben. Die Zuspitzung dieses Arguments durch Kant wollen wir dann im Rahmen seiner Antwort auf Benjamin Constant näher beleuchten, bereits an dieser Stelle sollte aber ein Gedanke eingefügt werden, der vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Weltanschauung eindrucksvoll illustriert, wie das bereits dargestellte Szenario, in dem durch eine allmählich wachsende Akzeptanz der Lüge Konventionen unnütz und Fixpunkte der menschlichen Orientierung in der Gesellschaft beseitigt würden, in letzter Konsequenz eine Ersetzung der Realität durch eine faktische Realität der Lüge befürchten ließe:
[...] wenn die modernen Lügen sich nicht mit Einzelheiten zufriedengeben, sondern den Gesamtzusammenhang, in dem die Tatsachen erscheinen, umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten, was hindert eigentlich diese erlogene Wirklichkeit daran, zu einem voll gültigen Ersatz der Tatsachenwahrheit zu werden, in den sich nun die erlogenen Einzelheiten ebenso nahtlos einfügen, wie wir es von der echten Realität her gewohnt sind? (ARENDT 1987)
Natürlich drängt sich bei diesem ebenso beunruhigenden wie faszinierenden Gedanken letztlich auch die Frage auf, wer festlegt, wie eine "echte" Realität beschaffen ist, wie vertretbar es ist, davon zu sprechen, dass die von uns wahrgenommene und gestaltete Realität die "echte" Realität ist und ob eine individuelle Realität an Relevanz verliert, wenn Aussenstehende versichern, sie sei eine Illusion oder gar eine Lüge. Diese Fragen mögen so als Denkanstöße stehenbleiben; sie zu beantworten oder auch nur ausführlicher zu behandeln, würde jedoch den Rahmen der Arbeit sprengen und wohl auch stark in Bereiche der Metaphysik übergreifen.Vielleicht liegt in der Erkenntnis der potentiellen zerstörerischen Macht der Lüge aber auch die Begründung für die Tatsache, dass für die Philosophen seit der Antike die präzise Erkenntnis des Wesens der Wahrheit offenbar wesentlich erstrebenswerter schien als das Wissen um das Wesen der Lüge. Nicht, dass man sich mit der Lüge an sich nicht beschäftigt hätte, aber die Tatsache, dass es zwar eine Vielzahl von Ansätzen zu Wahrheitstheorien gibt, aber die Wortkombination "Lügentheorie" wohl kaum überhaupt lexikalisiert ist, zeigt, dass der Akzent bei der Betrachtung der Lüge auf dem Gebiet der praktischen Philosophie liegt. In einfachen Worten gesprochen: Es scheint - bei theoretischem Blickwinkel - wesentlich erstrebenswerter, alles über die Wahrheit zu wissen, als die Lüge insgesamt zu durchschauen. Dies klingt auf den ersten Blick widersprüchlich, haben wir doch zuvor festgestellt, dass Lüge und Wahrheit jeweils für sich allein und in Abwesenheit des jeweiligen Gegenpols gar nicht definiert werden können, also letztendlich die Erweiterung des Wissens über die Lüge zu einer vergleichbaren Erkenntniserweiterung über die Wahrheit führen muss und umgekehrt. Da sich diese Arbeit nun explizit und in erster Linie mit der Lüge beschäftigt, ist es für uns legitim und zweckdienlich, diesen umgekehrten Weg zu wählen und uns über die Wahrheit der Lüge anzunähern. Zuvor sollte aber eine Konkretisierung und Veranschaulichung der engen Verschränkung von Wahrheit und Lüge erfolgen. Im folgenden wird Arno Baruzzi zitiert, der eine systematische Charakterisierung dieses Zusammenhangs verfasst hat.
1. Lüge tritt in den Gegensatz zur Wahrheit, ist Unwahrheit.
2. Damit zeigt sich, daß Lüge auf Wahrheit bezogen ist, ja daß die Lüge die Wahrheit voraussetzt.
3. Lügen ist das Verneinen von Wahrheit, das nun aber in einer bestimmten Weise erfolgt, wie dies in der klassischen Definition der Lüge festgehalten ist, die lautet:
4. Lügen ist die bewußte bzw. willentliche falsche Aussage (Augustinus). Wenn ich lüge, bin ich mir bewusst, daß ich gegen Wahrheit etwas unternehme, d. h. sage, und ich habe den Willen, die Wahrheit zu Fall zu bringen.
5. Ich spreche hier vom Fall, d.h. Fallen der Wahrheit [...] Mit dem Willen und auch dem Bewußtsein wird die Aktivität genannt, auf die es beim Lügen ankommt. [...]
(BARUZZI 1996)
Aus dieser komprimierten Darstellung sind zwei Hauptverknüpfungspunkte des Gegensatzpaars zu entnehmen: Erstens ist die Lüge ein "Zufallbringen" der Wahrheit und zweitens geschieht dieses Zufallbringen durch den Willen des Lügners. Dieses Fällen der Wahrheit in Gestalt der Lüge muss demnach sowohl die Intention als auch die Quintessenz der Handlung des Betreffenden sein. Tatsächlich muss beim Handelnden ein Bewusstsein vorliegen, welche Wirkung seine Handlung auf die Wahrheit ausübt, und er muss diese Wirkung nicht nur in Kauf nehmen, sondern beabsichtigen. Sein Handeln ist darauf ausgerichtet, die partiell für ihn greifbare (und womöglich für ihn nachteilige) Wahrheit vor der möglichen Weitergabe an bzw. Kenntnisnahme durch Andere zu beseitigen und durch Unwahrheit zu ersetzen. Wieder zeigt sich hier also die Notwendigkeit, zunächst noch mehr über die Wahrheit in Erfahrung zu bringen. Dieser Notwendigkeit wollen wir im nächsten Kapitel Rechnung tragen.
Zum Begriff "Warheitstheorie"
Es fällt schwer, allgemeingültig zu definieren, was den Charakter einer Aussage ausmacht, für die das Prädikat "Theorie" angemessen erscheint. Vielleicht würde dieses Bestreben sogar unwillkürlich in der Erstellung einer "Theorie der Theorie" enden, was das Unterfangen ad absurdum führen würde. Letztendlich geht es an unserem Thema vorbei, hierzu ausufernde Äusserungen zu treffen. Lourencino Bruno Puntel hat in seinem Buch "Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie" (PUNTEL 1978) auf pragmatische Weise die charakteristischen Merkmale des Theoriebegriffs in seiner Verwendung im Zusammenhang mit Wahrheit zusammengefasst.
Puntel lehnt eine spezifische Definition des Theoriebegriffs ab und gibt statt dessen vergleichbare Termini wie "Auffassung", "Konzeption", "Sicht" und "Verständnis" an, die dessen überwiegenden Gebrauch illustrieren. Im zweiten Schritt setzt er die Motivation dieses Gebrauchs mit dem Streben nach streng methodischem Vorgehen gleich:
Der Begriff "Theorie" soll die Selbstverpflichtung zur Wissenschaftlichkeit signalisieren. Schliesslich gibt Puntel zu bedenken, dass bei Wahrheitstheorien im Einzelfall unterschiedlich ist, ob der Terminus "Theorie" als klar vorausgesetzt wird oder durch die jeweilige Wahrheitstheorie auch eine mit ihr einhergehende Klärung des Theoriebegriffs selbst erfolgt. Aus Sicht des Verfassers dieser Arbeit bleibt noch hinzuzufügen, dass die Verwendung des Theoriebegriffs sicherlich auch durch das Bewusstsein motiviert ist, dass an die Lösung des Problems immer nur eine hypothesenartige Annäherung erfolgen kann, möglicherweise als Grundlage zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema. Die schon besprochene Feststellung, dass Wahrheit immer nur mit Rekurs auf ihre negative Wendung und Lüge immer nur als Abwesenheit der Wahrheit greifbar gemacht werden kann, macht deutlich, dass eine abgeschlossene und allumfassende Definition bzw. Klärung nicht in Sicht ist und nicht als Auszeichnung einer Aussage zum Wahrheitsbegriff dienen kann. Das Bewusstsein dieser Fakten verkörpert, zumindest im alltagssprachlichen Gebrauch, die Bezeichnung "Theorie" der Wahrheit. Die geforderte Wissenschaftlichkeit von Wahrheitstheorien bietet natürlich den Vorzug, dass sie dann auch nach wissenschaftlichen Kategorien geordnet werden können. Puntel hat eine solche Klassifikation nach den möglichen Explicanda einer Wahrheitstheorie versucht. In dieser Arbeit würde es zu weit führen, sich in der Darstellung einzelner Beispiele moderner, oftmals recht komplexer Wahrheitstheorien zu verlieren; interessant ist für uns aber, welche Fragen gestellt werden können, um mehr über Wahrheit (und damit auch über die Lüge) zu erfahren. Eine zentrale Frage ist hier natürlich: Was soll mit einer Theorie der Wahrheit erklärt werden? Genau an diesem Punkt treffen wir uns mit der Puntelschen Frage nach den Explicanda von Wahrheitstheorien. Seine Klassifikation ist im folgenden wiedergegeben:
1. Wird der Begriff der Wahrheit als das Explikandum einer TW [= Theorie der Wahrheit, Anm. d. Verf.] angesetzt, so lassen sich hauptsächlich vier Frageweisen unterscheiden:
1.1 Was ist Wahrheit? 1.2 Was versteht man unter "Wahrheit" ("wahr")?
1.3 Welches ist der Sinn (bzw. die Bedeutung) von "wahres Urteil", "wahrer Satz", "wahre Aussage", "wahre Behauptung" u ä.? 1.4 Welches ist der Sinn (bzw. die Bedeutung) von "y ist wahr"?
Diese Fragen meinen nicht dasselbe oder, wenn sie dasselbe meinen, so meinen sie es nicht in derselben Weise.
2. Bildet das Kriterium der Wahrheit das Explikandum einer TW, so lassen sich drei Frageweisen unterscheiden:
2.1 Aufgrund welchen Verfahrens läßt sich entscheiden, ob Wahrheit vorliegt (Kriterium als Entscheidungsinstanz)?
2.2 Aufgrund welchen Verfahrens kann Wahrheit entdeckt, erschlossen werden? [...]
2.3 Welches ist das Maß (der Maßstab) für Wahrheit? [...]
3. Nicht so leicht fassbar sind jene Versuche, die die Bedingungen (bzw. Voraussetzungen) von Wahrheit als das Explikandum der TW ansetzen. [...]
4. Als Explikandum einer TW wird bisweilen auch die Relevanz von Wahrheit angesehen. Allerdings kann man hier nur in einem sehr vagen Sinne von "Theorie" der Wahrheit sprechen. [...]
Auf den ersten Blick scheint diese Aufstellung vielleicht ohne konkreten Nutzen, doch im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden wir sehen, dass auch und gerade bei der Lüge unterschieden werden muss, worum es gerade geht: Um den Begriff, das Kriterium, die Bedingungen oder die Relevanz der Lüge. Abschließend noch zwei klassische Wahrheitsdefinitionen, deren Erörterung im Einzelnen jedoch zu weit führen würde.
Denn zu sagen, daß, was der Fall ist, nicht der Fall ist, oder daß, was nicht der Fall ist, der Fall ist, ist falsch; daß aber das, was der Fall ist, der Fall ist und das, was nicht der Fall, nicht der Fall ist, wahr.
(ARISTOTELES)
Veritas est adaequatio rei et intellectus.
(THOMAS VON AQUIN)
Ist Lüge in jedem Fall mit dem vorsätzlichen Äussern von Unwahrheit gleichzusetzen?
Kants Unterscheidung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit
Daß das, was jemand sich selbst oder einem andern sagt, wahr sei, dafür kann er nicht jederzeit stehen (denn er kann irren); dafür aber kann und muß er stehen, daß sein Bekenntnis oder Geständnis w a h r h a f t sei [...]. (KANT 1791)
Die Eigenschaft der Wahrheit, relativ, perspektivegebunden, Gegenstand von Konvention, interpretierbar zu sein, ist bereits mehrfach in dieser Arbeit angeklungen. Diese Feststellung könnte leicht als Freibrief missdeutet werden, sich auf eine subjektive, nicht allgemein zugängliche bzw. veri-oder falsifizierbare Wahrheit zu berufen und so lügen zu können, ohne dass diese Lüge beim Namen genannt werden könnte. Denn wir haben im Vorfeld gesehen, dass starren Regeln, wie ein einzelner in seinen Handlungen, Aussagen, oder auch nur in seiner Wahrnehmung der Aussenwelt Wahrheit sicherstellen kann, mißtraut werden muss. Wie bereits zitiert, hat Hannah Arendt ein (noch fiktives) Szenario entworfen, in dem eine derart umfassende Lüge droht, dass unter dem Dach dieser universalen Lüge eine ebenso widerspruchsfreie, neue Realität etabliert werden könnte, die mangels Vergleich unweigerlich von allen als solche akzeptiert würde, obwohl sie dennoch aus der dann imaginären Position eines aussenstehenden Beobachters sozusagen als Fratze der "echten" Realität demaskiert werden könnte. Bereits im ersten Abschnitt haben wir festgestellt, dass der von Arendt verwendete Begriff einer "echten Realität" im Gegensatz zu einer "falschen" fragwürdig ist: Vorausgesetzt, es lässt sich tatsächlich eine umfassende und lückenlose Realität auf einer Art "Generallüge" aufbauen, wer garantiert uns dann, dass die von Arendt beschworene "echte Realität", mit der sie ganz offensichtlich die herrschende meint, nicht auf ebendiese Weise zustandegekommen ist? Erneut stoßen wir hier an die Grenzen dessen, was eine solche Arbeit zu leisten im Stande ist. Über die letztgenannte Frage lässt sich ausschweifend sinnieren und spekulieren, im wissenschaftlichen Sinn zu entscheiden ist sie kaum.
Nun kann trotzdem angesichts der Unentscheidbarkeit solcher Fragen nicht für ein ethisches Vakuum, das der Willkür (im nicht-kantischen Wortsinn) Raum gibt, votiert werden. Gesucht ist also eine Differenzierung zwischen der Realität an sich und der Wirklichkeit in dem Bereich, in dem sie für den Einzelnen erkenn- und beeinflussbar ist. Kants Antwort auf dieses Problem war seine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Er ordnete die vielfach durcheinandergeworfenen Termini. Kant sieht als primären Unsicherheitsfaktor in der Frage, in welchem Maße der Einzelne wahrheitskonform sprechen und handeln kann, die immer denkbare Möglichkeit des Irrtums. Dem Menschen kann die Verantwortung für unverschuldetes Irren nicht angelastet werden. Aber es liegt in seiner Verantwortung, "kein Fürwahrhalten vorzugeben, dessen man sich nicht bewusst ist" (KANT 1791). Vor seinem Gewissen (- Kant nennt diese Gewissensbefragung "formale Gewissenhaftigkeit" -) und unter Berücksichtigung aller zugänglicher Informationen zu prüfen, ob die getroffenen Aussagen oder Handlungen mit dem erreichbaren Teil der Wahrheit übereinstimmen: So lässt sich die Pflicht zur Wahrhaftigkeit charakterisieren.
Nun ist zu fragen, warum wir denn in Kants Augen strikt an diese Pflicht gebunden sind. Kant bekräftigt in diesem Zusammenhang, es bestehe "ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen w a h r h a f t (ehrlich) zu sein." (KANT 1791). Sofern man also die Aussage zu einem Sachverhalt nicht umgehen kann (- dieser Ausweg scheint von Kant weder ausdrücklich negativ noch positiv bewertet worden zu sein -), besteht eine formale Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Diese Pflicht zur Wahrhaftigkeit (und aus genannten Gründen n i c h t zur Wahrheit) steht in enger Verbindung zu Kants Lügenverbot, um das es ja im Kernteil dieser Arbeit gehen wird. Um dem nicht vorzugreifen, muss also, was die Begründung der Pflicht zur Wahrhaftigkeit angeht, auf die später ausführlich zu erörternde Begründung des Lügenverbots verwiesen werden. Abschließend ist festzustellen, dass Kants Unterscheidung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit ein wirksames Mittel gegen die Aufweichung moralischer Pflichten ist, die leicht durch Stimmen geschehen kann, die dies angesichts der -wie festgestellt- dem Einzelnen nicht zuzuordnenden Verantwortung für die Wahrheit an sich fordern.
Recht auf Wahrheit - Recht zur Lüge
Das [ Einhalten von Verträgen ] gründet in der Natur der Sprache, die als einzigen unter den Tieren den Menschen gegeben ist, damit sie ihr Gemeininteresse besser äußern, das bekannt machen können, was in ihrem Geist verborgen ist. Sprache ist dazu dann geeignet, wenn Zeichen und Bezeichnetes übereinstimmen; das wird Wahrheit genannt. Da der menschliche Wille von Natur aus veränderlich ist, müssen Mittel gefunden werden, ihn für die Zukunft festzulegen. Dieses Mittel ist das Versprechen.
(GROTIUS 1625)
Nach der Lektüre dieses Zitats ist sicherlich die Frage berechtigt, wie es mit der Überschrift über dieses Kapitel "Recht auf Wahrheit - Recht zur Lüge" zusammenhängt. Zunächst ist festzustellen, dass in der Stellungnahme von Hugo Grotius (1583 - 1645) sich erstens eine weitere Wahrheitsdefinition findet (die Übereinstimmung von Zeichen und Bezeichnetem) und zweitens Wahrheit im moralischen Sinn in engen Zusammenhang mit dem Vertragscharakter des menschlichen Zusammenlebens gestellt wird. Die Wechselbeziehung zwischen der Wahrheitstreue des Einzelnen und der Funktionstüchtigkeit der durch Konventionen geordneten Gesellschaft hat also bereits vor Kant Eingang in die Debatte um Wahrheits-/Wahrhaftigkeitspflicht und Lügenverbot gefunden. Wir haben bereits in groben Zügen von der Abneigung Kants gegen jedwede Aufweichung der letztgenannten Forderungen gehört. Wenn Grotius aber einen zentralen Punkt in der kantischen Argumentation teilt, wo liegt dann der Unterschied zu den Auffassungen des 141 Jahre später geborenen Immanuel Kant?
Hierzu ist nötig zu untersuchen, in welchem Kontext Grotius seine Äußerungen zum Thema gemacht hat. Der Titel der Schrift, aus der das obige Zitat entnommen worden ist, lautet De Iure Belli ac Pacis.Grotius betrachtete also moralphilosophische Fragen unter dem Blickwinkel des Krieges und des Kriegsrechts. Er untersucht die Position einer Person, die sich gegen einen Agressor zur Wehr setzt, also einen sogenannten "gerechten" Krieg führt, den er weder gewollt noch gar verursacht hat. Natürlich interessiert in diesem Zusammenhang besonders, an welche moralischen Grundsätze diese Person in ihrer notwehrähnlichen Situation noch gebunden ist. Hier stellt Grotius erstmalig fest, dass der Angegriffene ein explizites Recht zur bzw. auf Lüge habe.
Es geht hier, wie Hariolf Oberer erläutert, dessen ausführliche Einführung zum Thema (OBERER 1986) auch Hauptquelle der meisten in diesem Abschnitt noch folgenden Zitate ist, um eine Art Kriegslist: Unwahr auf die Fragen des Agressors zu antworten, um die eigene Verteidigung gegen denselben zu erhalten oder zu stärken. Anzumerken ist, dass auch in diesem Fall die schlichte Feststellung gilt, dass die Pflichten des Einen immer gleichzeitig die Rechte des Anderen sind. Auf unser Thema angewandt würde das zur Folge haben, dass in einer Konversation zweier Personen der "Sender" die Pflicht zur Wahrheit hat und der "Empfänger" damit automatisch das Recht auf Wahrheit genießt. Nun wäre der grotiusschen Annahme eines Rechts auf Lüge unter bestimmten Voraussetzungen entgegenzuhalten, dass ja dieses Recht auf Lüge in diametralem Gegensatz zum - wie gezeigt - jedermann eigenen Recht auf Wahrheit steht. Grotius löst diesen Gegensatz elegant auf, indem er hinterfragt, ob dieses vordergründig automatisch aus der Pflicht zur Wahrheit abzuleitende Recht auf Wahrheit denn unbedingt und ohne jede Einschränkung gelten kann. Er kommt letztlich zu dem Schluss, dass eine Person dieses Recht auf Wahrheit unter bestimmten Voraussetzungen verwirken kann. So hat der Agressor im zitierten Beispiel durch den vertragsbrechenden
(siehe einleitendes Zitat) und daher amoralischen Charakter seines Vorgehens bereits gar kein Recht auf die Wahrheit mehr. So ist widerspruchsfrei erklärbar, wieso der Angegriffene zum eigenen Vorteil lügen kann, ohne die Pflicht zur Wahrheit zu verletzen. Christian Thomasius ( 1655 - 1728) hat diese Differenzierung etwas später so zusammengefasst: Unzulässig und als solche zu qualifizieren und zu verurteilen ist eine Lüge nur dann, si [...]alterius jus laedatur, wenn sie ein beim anderen bestehendes Recht auf Wahrheit verletzt (THOMASIUS 1688). Gibt es dann, wenn man der Frage eine andere Wendung gibt, sogar eine Pflicht zur Lüge, wenn dadurch und nur dadurch einer übergeordneten moralischen Zielsetzung zum Erfolg verholfen werden kann? Hierbei kommen wir nun in unmittelbare Nähe der Frage, mit der dieses ganze Kapitel überschrieben ist: Ist über das Wesen der Lüge schon alles gesagt, wenn der "Tatbestand" der vorsätzlichen unwahren Aussage erwähnt wurde, oder ist diese auch möglich, ohne als Lüge gebrandmarkt werden zu müssen? Christian Wolff, den Kant einmal als den "größten unter allen dogmatischen Philosophen" (vgl. MPL 1989) bezeichnet hat, gibt auf diese Frage eine eindeutige Antwort:
Es irren demnach diejenigen, welche alle unwahre Worte, auch öfters unwahre Erzehlungen, die man von andern gehöret und auf guten Glauben wieder nachsaget, für Lügen halten. Und daher entstehen die Schwierigkeiten, die man sich bisweilen wegen der Lüge machet, wenn man die Fälle entscheiden will, in welchen zu lügen erlaubet [ist].
(WOLFF 1733)
Zum vorher genannten Problem, ob es denn sinnvoll sei, eine Pflicht zur Lüge unter bestimmten Voraussetzungen zu postulieren, nimmt Wolff ebenfalls Stellung:
[...] Nemlich es ist niehmals zu lügen erlaubet, aber wohl unterweilen ist erlaubet, ja wir sind unterweilen gar verbunden die Unwahrheit zu sagen, wenn sie nemlich weder uns noch andere zum Schaden, aber wohl zum besseren gereichet, als man einem Feinde Unrecht saget, wo der hingegangen, den er mit blossen Degen verfolget.
(WOLF 1733)
Soweit es aus diesem Textauszug überhaupt möglich ist, die gesamte Argumentation Wolffs zu erschließen, drängt sich eine in seiner Darstellung nicht explizit beantwortete Fragen auf:
Wenn davon auszugehen ist, dass die vorsätzliche Äusserung der Unwahrheit nicht unbedingt Lüge sein muss, welches Merkmal unterscheidet die Lüge dann von dieser Unwahrheitsäusserung und verleiht ihr die ihr eigene Charakteristik? Hierbei ist, wenn überhaupt, zu mutmaßen, dass Wolff sich in dieser Frage auf den zweiten Teil seiner Aussage bezieht, in der die Forderung gestellt wird, diese vorsätzliche Unwahrheitsäusserung dürfe niemandem zum Schaden, sondern müsse allen zum Besseren gereichen. So wäre eine solche Äusserung genau dann eine Lüge, wenn diese Forderung unerfüllt bleibt. Selbst wenn man dies für die Antwort auf die letztgenannte Frage hält, so ist diese Formulierung (niemandem zum Schaden - allen zum Besseren) so generalisiert und ausdeutbar, dass sie wenig Erhellendes bietet. Zentral - und für den weiteren Verlauf dieser Arbeit im Hinblick auf Kant - sind jedoch zwei Erkenntnisse Wolffs, die wir hier abschließend noch einmal thesenartig zusammenfassen wollen:
1) Nicht jede vorsätzliche unwahre Aussage kann als Lüge bezeichnet werden
2) Wie auch immer diese im einzelnen aussehen mögen, es kann Situationen geben, in denen es aus moralischen Erwägungen heraus geboten ist, wissentlich die Unwahrheit zu kolportieren.
Die Zuspitzung der Problematik auf den Beispielfall der möglichen Rettung eines Unschuldigen vor einem Mörder durch Lüge in Benjamin Constants Aufsatz
Über politische Reaktion
Bevor wir nun also versuchen wollen, den Argumentationsgang Benjamin Constants nachzuzeichnen, sollten wir uns den von Kant und Constant als Bezug verwendeten Beispielfall kurz verdeutlichen: An den Geschehnissen sind im wesentlichen drei Personen beteiligt: Der Wohnungseigentümer (nennen wir ihn W), das potentielle Opfer (hier als O bezeichnet) und der Mordabsichten Hegende (hier genannt M). W gewährt O in seiner Wohnung Schutz, da O von M verfolgt wird, der die Absicht hegt, O zu ermorden. M hegt nun den Verdacht, O könne sich in W's Wohnung befinden und sucht W deshalb auf, um ihm die Frage zu stellen, ob O sich tatsächlich in W's Räumen aufhalte. W ist sich der Mordabsichten M's bewusst und steht nun vor der Frage, ob er wahrheitsgetreu über die Anwesenheit O's berichten und O damit M ausliefern muss oder durch eine Falschaussage vom Typ "O ist vor kurzem ausgegangen", worauf M sich entfernen würde, um anderswo nach O zu suchen, O vor dem Zugriff durch M schützen soll.
Nachdem wir nun das Kernproblem auf der praktischen Ebene kennen, wollen wir Constants Gedanken dazu nachzeichnen. Zunächst eine kurze Vorbemerkung: In Constants Abhandlung ist wiederholt von Moral die Rede, wenn es um die Problematik geht. Dies hat zu Verwirrungen in der Interpretation geführt, unter anderem dahingehend, dass einige Kommentatoren behaupteten, Constant argumentiere rein ethisch und befände sich daher auf einer von Kant gar nicht berührten Argumentationsebene. Geismann hat klargestellt, dass zu Constants und Kants Zeiten die Morallehre durchgängig Tugend - u n d Rechtslehre umfasst hat und insofern kein Hinweis darauf vorliegt, dass der von Constant verwendete Begriff "Moral" auf einen nicht-rechtlichen Blickwinkel verweist. (GEISMANN 1988).
Als Einstieg in seine Schrift verwendet Constant einen Vergleich zwischen Morallehre und Politik. Während er bei der Politik (gemeint sind sozusagen praktische gesellschaftliche Handlungen) die Gefahr sieht, dass deren Grundsätze durch Machtstreben und egoistische Interessen der an ihr Beteiligten diskreditiert werden, spricht er der Moral eine größere Harmonie ihrer Prinzipien zu: Obwohl die Grundprinzipien für sich alleingenommen durchaus rigide, menschenunfreundliche Merkmale ("[...] [mit] jenem feindseligen und zerstörerischen Charakter [...], den Isolierung den Ideen ebenso wie den Menschen verleiht.", CONSTANT 1797) tragen könnten, werden sie durch wohlbekannte Zwischenprinzipien (Anwendungsregeln, die den Geltungsbereich und die Umstände der Geltung der Grundprinzipien definieren) für den Einzelnen einleuchtend und zweckdienlich für die Gesellschaft. Für Constant ist es deshalb unstrittig, dass die moralischen Grundprinzipien ohne diese vermittelnde Ausdeutung nicht ihrem Zweck dienen würden, das Zusammenleben der Menschen zu erleichtern, ganz im Gegenteil, ähnlich wie sich radikale oder extreme Prinzipien in der Politik bei ihrer konsequenten Verwirklichung nachteilig auf das Gemeinwohl auswirken (- Constant präzisiert hier nicht, worauf er anspielt, gut denkbar wäre es nach Ansicht des Verfassers jedoch, dass er sich auf radikale politische Ideologien mit Allgültigkeitsanspruch bezieht -), so würde auch in moralischen Fragen das starre und ausschließliche Verfolgen der ungeschliffenen Grundprinzipien "Unordnung in die sozialen Beziehungen des Menschen tragen" (A.A.O.). Als verdeutlichendes Beispiel für diese These kommt Constant dann unverzüglich auf den eingangs genannten Fall zu sprechen: Die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, gehört für Constant unstrittigerweise zu den moralischen Grundsätzen und wird als solcher von ihm auch akzeptiert und geachtet. Dennoch vertritt er die Ansicht, dass die unbedingte und jeglichen Zusatz verbietende Pflicht, in jeder möglichen Situation die Wahrheit zu sprechen, ihren Ausschließlichkeitsanspruch vorausgesetzt, eine besonders gravierende Konsequenz hätte: Sie würde, so wörtlich, "jedes menschliche Zusammenleben unmöglich machen" (A.A.O.). Nun ist Constants Begründung hierfür nicht ohne weitere Kenntnisse verständlich, da er gleich hier explizit auf "einen deutschen Philosophen" (A.A.O.), - die klassische Interpretation geht davon aus, dass Constant hier direkt Kant angesprochen hat - zu sprechen kommt, und polemisch dessen in seinen Augen groteske Ansicht, selbst im (oben skizzierten) Beispielfall sei die Lüge ein Verbrechen, als augenfällige Verirrung infolge einer scheuklappenartigen Konzentration auf reine Grundsätze brandmarkt. Etwas im Dunkeln bleibt hier der Grund, warum denn aber (einmal abgesehen von den unbestreitbar negativen Konsequenzen für das Opfer und den Gewissenskonflikt des Befragten im Beispielfall) hier tatsächlich das Zusammenleben der ganzen Menschheit beeinträchtigt werden soll. Hier ist wohl die Rechtssicherheit als ausschlaggebender Faktor anzuführen: Das Vertrauen des Einzelnen in das Recht und die Einsicht in die Notwendigkeit seiner Geltung gründet sich einleuchtenderweise nicht zuletzt auf die Gewissheit, dass das Recht ihn selbst bei Bedarf auch vor Angriffen auf seine Person zu schützen vermag und schützen wird. Genau dies geschieht aber im Beispielfall nicht: Wendet der Befragte nicht die Notlüge an, wird das Opfer aller Voraussicht nach vom Mörder umgebracht. Gesetzt den Fall, man votiert für eine Rechtspflicht, die dem Befragten die Lüge untersagt, so verschafft man damit einem Recht Geltung, das im Extremfall die Verhinderung eines Mordes verbietet. Verallgemeinert man dieses Funktionsprinzip auf die Gesamtheit der Menschen und Gesetze, so wäre die Schutzfunktion des Rechtes gegenüber der Unversehrtheit des Einzelnen Makulatur und damit die Quelle des Vertrauens in das Recht beseitigt. In der Konsequenz wäre das menschliche Zusammenleben mittels einer Rechtsordnung oder auch nur mittels vertraglicher Vereinbarungen unmöglich, denn warum sollte ein Bürger ein Recht achten oder ihm Geltung verschaffen, das ihm keine Sicherheit vor der Erleidung ungerechtfertigter Nachteile an der eigenen Person bietet?
Dies ist also der Argumentationszusammenhang, in den Constant seine Forderung nach Zwischenprinzipien einbettet. Nun könnte man annehmen, Constant müsse nach diesen Gedankengängen zur Überzeugung gelangt sein, ein Lügenverbot dürfe überhaupt nicht existieren. Aber dieses Umschwenken ins andere Extrem führt, wie Constant selbst anführt, genauso geradewegs ins Chaos, denn "alle Grundlagen der Moral würden damit hinfällig werden" und dies sei fatal, denn "wo alles schwankt, gibt es keinen festen Halt." (A.A.O.). Es ist interessant, festzustellen, wie Constant hier einen Gedanken selbst vorwegnimmt und anerkennt, der in Kants Erwiderung, wie wir später feststellen werden, als zentrales Argument g e g e n Constant fungiert. Auch und gerade hier sind, und an diesem Punkt trennen sich, bildlich gesprochen, Kants und Constants Wege wieder, in den Augen des Franzosen mittlere Grundsätze der Schlüssel zur Beseitigung der Widersprüchlichkeiten: "Nur infolge von Zwischenprinzipien hat dieses erste Prinzip [der Wahrheitspflicht, Anm. d. Verf.] ohne Nachteile akzeptiert werden können". (A.A.O.) Hier drängt sich die Frage auf, wie diese Zwischenprinzipien denn zu finden sind, denn Constant ist der Meinung, dass der scheinbare Widerspruch in jedem Prinzip, das sich als wahr erwiesen hat und gleichzeitig unanwendbar scheint, nur so lange existiert, wie der mittlere Grundsatz nicht gefunden ist, der definiert, wodurch das Grundprinzip im Einzelfall anwendbar wird. Constant führt abstrakt aus, zunächst müsse man das fragliche Prinzip definieren, um innerhalb dieser Definition den Verweis auf ein anderes Prinzip zu finden. Die Verbindung zwischen beiden Prinzipien enthält dann seiner Meinung nach das "Mittel zur Anwendung" (A.A.O.), zumindest aber wird man auf dieses früher oder später stoßen, wenn man das neugefundene Prinzip seinerseits definiert und so den Weg zu einem dritten Prinzip gewiesen bekommt und so weiter, bis aus der Kette des Zusammenhangs aller Prinzipien diese Anwendungsrichtlinie ersichtlich wird.
Wie ist dieses auf den ersten Blick sehr theoretische Verfahren in der Praxis anzuwenden? Erneut kommt Constant auf das Beispiel "Pflicht zur Wahrheit" zu sprechen. Die Definierung dieses Prinzips führt ihn zur Erkenntnis, dass man es bei dem Wahrheitsgebot mit einer Pflicht zu tun hat. Constant führt weiter aus, dass die Idee der Pflicht untrennbar mit der des Rechts zusammenhänge, eine Feststellung, die wir bereits eingangs dieser Arbeit getroffen haben: die Pflicht des Einen ist das Recht des Anderen, demgegenüber Ersterer die Verpflichtung hat. Umgekehrt gewendet heisst das: Hat A kein Recht auf eine bestimmte Handlung, die B ihm gegenüber ausführen soll, so ist B zu dieser Handlung nicht verpflichtet. Und im Beispielfall hat der (potentielle) Mörder kein Recht auf die wahrhaftige Antwort des Befragten, denn es hat "kein Mensch ein Recht auf die Wahrheit, die einem anderen schadet" (A.A.O.).
Es ist leicht einzusehen, dass die wahrhaftige Aussage des Befragten im skizzierten Fall dem Heimgesuchten schaden, ja, sogar der Willkür eines noch potentiellen, aber bekennenden Mörders ausliefern würde.Hier will Constant nun das Bindeglied gefunden haben, das das zuvor unakzeptable Prinzip des unbedingten Lügenverbots anwendbar macht. Hätte man als unmittelbare Konsequenz aus der Ansicht, dass dieses Prinzip mit seinen Folgen unakzeptabel sei, dieses einfach verworfen, mit der Begründung, das Prinzip gehe an der Realität in der Welt vorbei, so hätte man "alles der Willkür anheimgestellt" (A.A.O.). Abweichend von Kant hält es Constant jedoch für einen großen Unterschied gegenüber dem schieren Verwerfen des Prinzips, dieses stattdessen genauer zu untersuchen, zu definieren und es exakt so weit zu modifizieren, wie es zur Harmonisierung mit der Einzelfallwirklichkeit notwendig ist, ohne damit das Prinzip an sich in Frage zu stellen. Aus dieser Erkenntnis ist zu schließen, dass es nach Constant kein zu Recht als wahr erkanntes Prinzip geben kann, das unanwendbar ist. Man sollte also kein solches Prinzip allein deshalb verwerfen, weil es auf den ersten Blick unanwendbar scheint - mehr noch, man soll es n i e m a l s aufgeben, gleich, welches (scheinbare) Risiko man eingeht. Dieses Risiko lässt sich durch die zuvor beschriebene Prozedur der Definierung und Kombination mit ähnlichen Prinzipien so weit reduzieren, bis die Anwendung möglich, sinnvoll und sogar vorteilhaft erscheint. Constant führt einen logischen Beweis gegen diejenigen ins Feld, die behaupten, abstrakte Prinzipien überhaupt seien in ihrem Wesen
leer und unanwendbar: Diese Behauptung ist nach Form und Inhalt nämlich selbst wieder ein abstraktes Prinzip. So führen sich in Constants Augen die Vertreter dieser radikalen Auffassung selbst ad absurdum: Er vergleicht sie in einer etwas polemisch-augenzwinkernden Parallele mit den Sophisten im antiken Griechenland, "die an allem zweifelten und schließlich ihren eigenen Zweifel nicht mehr zu bekennen wagten" (A.A.O.). Constant gibt durchaus zu, dass die Abstraktheit eines Prinzips überwunden werden muss, aber keinesfalls, indem gleich das ganze Prinzip für unbrauchbar erklärt und verworfen wird.
Kants moral- und rechtsphilosophische Bewertung der Lüge
im Spannungsfeld zwischen
Systemkonsistenz und Praxisbewährung
Hauptgesichtspunkte der Argumentation Immanuel Kants in seiner Entgegnung auf Constant
Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen
Kant beginnt seine Entgegnung auf Benjamin Constant mit der Wiedergabe eines kurzen Textabschnitts aus dessen Schrift Über politische Reaktion. Die zentrale Aussage in diesem Zitat ist eine, die uns bereits schon mehrmals begegnet ist: "Die Wahrheit zu sagen, ist also eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf Wahrheit hat" (CONSTANT 1797). Kant hat gegen diesen zentalen Satz gleich mehrere Einwände. Zunächst verweist er auf die bereits im ersten Teil ausführlich kommentierte und von ihm vehement vertretene Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Die von Constant verwendete Formulierung "Recht auf Wahrheit" bezeichnet Kant als "Wort ohne Sinn" (KANT 1797): Die Sicherstellung der Wahrheit ist kein Unterfangen, das dem Regiment des menschlichen Willens unterliegt, sondern diese wird durch vielfältige, teils naturgesetzliche Faktoren beeinflusst, die ungünstigenfalls ausserhalb der Erkenntnis- und Einflusssphäre des Einzelnen liegen. Dem Menschen ein Gesetz aufzuerlegen, jederzeit für die Wahrheit Sorge zu tragen, hiesse also, ihm etwas unmögliches abzuverlangen. Kant spricht diesbezüglich von einer "seltsamen Logik" (A.A.O.). Andersherum gewendet heisst das: Ein Mensch hat zwar ein Recht auf Wahrhaftigkeit (=subjektive Wahrheit), aber er kann keines auf Wahrheit haben, weil die korrespondierende Pflicht unmöglich zu erfüllen ist. Diese Argumentation könnte man durchaus als kleinliche Kritik an einer schlimmstenfalls ungenauen Formulierung Constants abtun. Angesichts der bereits gezeigten großen Wichtigkeit dieser Unterscheidung für Kant, die er auch an anderen Stellen seiner Werke und ohne konkret vorhandenes Negativbeispiel betont hat, sollte dieser Verdacht aber doch eher fernliegen. Im folgenden trifft Kant dann eine erste fundamentale Differenzierung. Es sind im gegebenen Problemfall zwei Fragen zu klären: Die Frage, ob der Mensch unter bestimmten Umständen ein Recht zur Unwahrhaftigkeit, und die Frage, ob derselbe sogar eine Pflicht zu dieser Unwahrhaftigkeit habe, wenn er dadurch eine "Missetat" (A.A.O.) verhindern kann. Direkt danach geht Kant auf das wohl auf den ersten Blick schlagendste Argument der Gegenseite ein, das sich in seiner Urform - wie gezeigt - bereits bei Hugo Grotius findet: Es kann dann keine Pflicht zur Wahrhaftigkeit bestehen, wenn der Belogene gar kein Recht auf dieselbe hat. Es bleibt unklar, ob Kant diesem Satz nicht sogar zustimmen kann, doch ist das Argument nicht dazu geeignet, Kants Gedankengang zu Fall zu bringen: Kant hebt nämlich gar nicht auf den Belogenen und dessen möglicherweise durch Fehlverhalten aufs Spiel gesetzten Rechte an, sondern auf die "formale Pflicht des Menschen gegen jeden". Tatsächlich kann der Mordabsichten Hegende s e i n Recht auf die wahrhaftige Aussage des Gegenübers verwirken: Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit bleibt für den Gegenüber dennoch unberührt und bestehen, und der "Einforderer" dieser Pflicht wäre, bildlich gesprochen, die Allgemeinheit. Welches Interesse kann nun diese Allgemeinheit (Kant spricht von "der Menschheit überhaupt") an der Erfüllung dieser Pflicht haben, und ist dieses Interesse berechtigt? An diesem Punkt scheint geboten, eine von Georg Geismann betonte Einschränkung bzw. Präzisierung wiederzugeben: Gemäss der kantischen Dichotomie Tugend - vs. Rechtslehre (die z.B. die systematische Darstellung bzw. Gliederung der "Metaphysik der Sitten" bestimmt) ist es auch bei dieser Problemstellung angezeigt, diese beiden Bereiche nicht zu vermischen. Im Falle des vorliegenden Aufsatzes ist die Frage der Zuordnung eindeutig zu beantworten: "Dort wird [...] die moralische Befugnis bzw. Pflicht zu einer Lüge aus Menschenliebe nur als Problem des Rechts aufgeworfen" (GEISMANN 1988). Weitere Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis werden wir gegebenenfalls später ziehen, im Moment genügt der Hinweis, dass uns das Bewusstsein, dass Kant durchgängig eine rechtliche (damit allerdings nicht zwangsläufig nicht-moralische) Argumentation gegen Constant führt, unmittelbar zu Kants Kernstück seiner praktischen Philosophie, dem kategorischen Imperativ leitet. Dieser gebietet, so zu handeln, dass die Maxime der Handlung sich zu einem allgemeinen Gesetz eignen würde. Hier kehren wir nun direkt zu Kants Ausführungen in Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen zurück: Kant verneint eindeutig, dass die dem kategorischen Imperativ innewohnende Forderung im Beispielfall erfüllt sein könne, ja, mehr noch, er stellt fest, dass auch eine einmalige Nichtbeachtung des Lügeverbots verheerende Konsequenzen für die Allgemeinheit (die ja im kategorischen Imperativ sozusagen als "Prüfstein" fungiert) nach sich zöge: "Denn sie [die Lüge, Anm. d. Verf.] schadet jederzeit einem Anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht" (KANT 1797). Hiermit hat Kant deutlich gemacht, warum es nicht ausreicht, anhand der Beobachtung der Verfassung beteiligter Personen festzustellen, eine ausgesprochene Lüge habe niemandem Schaden zugefügt und daraus zu folgern, diese sei rechtlich unbedenklich. Gerade die unbeteilgten Personen in ihrer Gesamtheit, modern ausgedrückt die Gesellschaft, hat Schaden erlitten. Er bedient sich eines Dammbruch - Arguments, mit dem er glaubwürdig machen kann, dass die Rechtssicherheit, ja sogar die Relevanz des Rechts überhaupt durch eine Lüge jedweder Art, Motivation und beobachtbarer Konsequenz in Frage gestellt wird: Jede menschliche Interaktion, das Zusammenleben (bzw. die Gesellschaft) bedingt Absprachen, Übereinkünfte und Verträge. Diese kommen aufgrund von Absichtserklärungen (Kant: "Deklarationen") zustande, deren Glaubwürdigkeit die Basis dafür ist, dass andere Menschen in ihrem Handeln einerseits auf diese Rücksicht nehmen, andererseits sich selbst aber auch zum eigenen Vorteil auf diese verlassen können. Die Lüge statuiert nun gleichsam ein Exempel für die Nichtgeltung des letzten Satzes: Wenn mein Gegenüber unter dem Deckmantel der Wahrheit die Unwahrheit spricht, so ist auch seinen Deklarationen und Absprachen zu misstrauen, ja, den Absprachen aller Menschen überhaupt, denn was ich beim einen beobachtet habe, kann ich beim anderen (der nicht weniger Mensch ist als ersterer) nicht als von vornherein unmöglich annehmen - ich muss ihm misstrauen, und damit allen Menschen und letztlich der Institution der Übereinkunft und der wahrhaftigen Aussage an sich. Es träte der groteske Fall ein, dass die Durchführung des dem kategorischen Imperativs innewohnenden Prüfverfahrens (der Verallgemeinerung) unweigerlich zur Selbstzerstörung des praktischen Gesetzes in seiner Gesamtheit führen würde. Unzulässigerweise geschädigt wird zwar nicht der Angelogene im besonderen, wohl aber die Menschheit, deren Teil ja auch der Angelogene selbst ist. Kant selbst präzisiert seine Folgerungen an anderer Stelle so:
Wenn nun ein Mensch falsche Nachrichten ergreift, so thut er dadurch keinem Menschen insbesondere Tort, aber der Menschheit, denn wenn das allgemein wäre, so würde die Wißbegierde des Menschen vereitelt, denn ich kann nur außer der Speculation durch 2 Wege meine Erkenntniße erweitern, durch Erfahrung und Erzählung; weil ich nun aber nicht alles selbst erfahren kann, und die Erzählungen andrer falsche Nachrichten seyn sollten, so kann die Wißbegierde nicht befriediget werden".
(zit. n. GEISMANN 1988)
Nach Ansicht des Verfassers besonders einleuchtend ist Georg Geismanns Zusammenfassung bzw. Verdeutlichung des Zusammenhangs:
1) Das Recht der Menschheit ist das Recht auf die allgemein-gesetzliche Harmonisierung der äußeren Freiheit aller.
2) Verträge sind die notwendige Bedingung der Möglichkeit einer solchen gesetzlichen Übereinstimmung der äußeren Freiheit der Menschen.
3) Die Lüge als Gesetz nimmt Verträgen ihre gesetzliche Möglichkeit.
4) Das ("vermeinte") Recht der Lüge schließt daher eine gesetzliche Übereinstimmung der äußeren Freiheit aller aus und ist somit eine Verletzung des Rechts der Menschheit.
(GEISMANN 1988)
Der nächste Schritt im Gedankengang Kants soll hier nur kurz skizziert werden, da er erheblichen Diskussionsstoff für das Thema des nächsten Kapitels bietet, die Frage der Praxisbewährung der kantischen Beispiele. Kant behauptet, bei vorschriftskonformem Verhalten (der zum Aufenthaltsort des Opfers Befragte gibt denselben preis) könne der Betreffende von der "öffentlichen Gerechtigkeit" (A.A.O.) nicht für die (möglicherweise unvorhergesehenen) Folgen dieses Handelns zur Verantwortung gezogen werden, wohingegen er, benutzt er die Notlüge, um den Aufenthaltsort geheimzuhalten bzw. den Mörder irrezuführen, für alle Folgen, auch für unvorhersehbare, haftet. Kant versucht dies anhand der Gegenüberstellung zweier Extremfälle zu untermauern: Im ersten sagt der Befragte die Wahrheit, ohne zu wissen, dass das Opfer vorher doch weggegangen ist und sich nicht mehr in seiner Wohnung befindet; der Mörder trifft sein Opfer folglich nicht an und die Tat wäre verhindert. Im zweiten setzt der Befragte die vermeintliche Notlüge ein und sagt, das Opfer sei abwesend; wieder ist das Opfer auch tatsächlich (ohne Wissen des Befragten) ausser Haus; der Mörder kehrt um, begegnet beim Rückzug dem heimkehrenden Opfer und ermordet es. Kant rechnet die rechtliche Verantwortung für die im zweiten Fall geschilderten Folgen dem Befragten zu, mit der Begründung, es wäre denkbar, dass, falls der Befragte nach bestem Wissen ehrlich antwortet, der Täter beim Suchen nach seinem Opfer im Haus bzw. in der Wohnung durch herbeigelaufene Nachbarn an der Tat gehindert würde. Der Verfasser hält es für angezeigt,
der Versuchung trotzen, bereits hier einen Kommentar zur Stringenz dieser Argumentation abzugeben und verweist hierzu auf das nächste Kapitel.
Im folgenden nimmt Kant dann direkt auf Constant bezug, und zwar auf dessen Hinweis auf die Notwendigkeit eines "mittleren Grundsatzes". Wie schon im betreffenden Kapitel erläutert, beabsichtigte Constant unbeschadet des allgemeinen Lügenverbots, das er im Kern akzeptierte, eine Anwendungsregel zu finden, die genau definiert, unter welchen ausnahmeartigen Umständen das Verbot eingeschränkt werden kann oder muss, ohne in seiner Gesamtheit an Geltung bzw. Kraft zu verlieren. Dem erteilt Kant eine Absage: Seiner Meinung nach war diese Suche Constants von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es eine solche Anwendungsregel schlechterdings nicht gibt. Anschliessend begründet Kant, wieso (wie bereits zuvor erwähnt) der Aufrichtige selbst für die schlimmsten Konsequenzen dieser Aufrichtigkeit (im Beispielfall der drohende Tod des Opfers durch Ermordung) nicht verantwortlich sein kann: Kant unterscheidet zwischen dem "Tatbestand" des Schadens und dem des Unrecht Tuns. Der Schaden am Opfer wird ihm zufolge vom Zufall und nicht durch die Aufrichtigkeit des Befragten verursacht. Dieser sorgt für ein Zusammentreffen empirischer Umstände, die das Opfer erst der Gefährdung durch die aufrichtige Aussage aussetzen. Ausserdem hatte der Befragte streng kantisch gedacht gar keine andere Wahl als pflichtgemäß zu handeln (das heisst in diesem Fall aufrichtig zu sein). Zum Unrecht Tun dagegen gehört für Kant ohne jeden Zweifel auch jede Verletzung des Lügenverbots, wofür der Handelnde dann sehr wohl haftbar ist. Hieraus ergibt sich auch, warum Kant den Constantschen Satz "Die Wahrheit ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf Wahrheit hat" (CONSTANT 1797) ablehnen muss: Wahrheit erscheint ihm hier als Besitzgut missverstanden, auf welches Rechte individuell zugestanden und abgesprochen werden können. Aus der erkannten Konsequenz, die aus der Vernachlässigung der Wahrhaftigkeitspflicht resultiert, nämlich das Begehen von Unrecht an der Menschheit überhaupt, erklärt sich, wieso es niemals um einzelne Personen für sich genommen gehen kann, und warum es irrelevant ist, ob diesen im Einzelfall Schaden entsteht oder nicht: Weil die Schädigung bzw. Rechtsverletzung nicht an ihnen, sondern an allen Menschen überhaupt begangen wird. Kant verlangt von einem Menschen, der sich dessen bewusst ist, dass dieser bereits wenn er von jemandem gefragt würde, ob er beabsichtigt, die folgende Frage aufrichtig oder nicht zu beantworten, sich entrüste ob des Verdachts, er könne sich mit dem Gedanken tragen, die Unwahrheit zu sagen. Denn wer vor seiner Antwort auf eine solche heikle Frage erst abwägt, ob er wahrhaftig antworten oder Notlügen benutzen soll, ist in Kants Denkweise bereits ein potentieller Lügner, da er sich der ausnahmslosen Geltung des Lügenverbots nicht bewusst ist oder nicht bewusst sein will.
Abschliessend sollten wir noch einmal Kants und Constants Positionen in verkürzter Form gegenüberstellen:
1) Kant leitet aus dem kategorischen Imperativ eine unbedingte Geltung des Lügenverbots ab. Constant erkennt diese Überlegung prinzipiell an: "Ein als wahr erkannter Grundsatz muß also niemals verlassen werden: wie anscheinend auch Gefahr dabei sich befindet" (CONSTANT 1797).
2) Beide argumentieren aus der Gefahr heraus, dass die Menschheit in ihrer Gesamtheit oder in den Funktionsprinzipien ihres Zusammen