ftd.de, Mi, 31.10.2001, 7:00
Geldanlage: Legenden im Koma
Von Horst Fugger
In der zweiten Oktoberwoche haben zwei traditionsreiche amerikanische Unternehmen Gläubigerschutz nach Chapter 11 des US-Konkursrechts beantragt. In der Regel ist das der letzte Schritt vor der Pleite.
In friedlicheren Zeiten als jetzt hätte es sicher auch mehr Aufsehen erregt, dass mit Polaroid und Bethlehem Steel zwei Ikonen der amerikanischen Industrie- und Börsengeschichte vor dem Aus stehen. Über Polaroid konnte man in deutschen Medien einiges lesen, weil die Produkte weit verbreitet sind. Auch in Deutschland gibt es kaum einen Haushalt, in dem nicht eine Sofortbildkamera aus den 70er oder 80er Jahren auf dem Dachboden verstaubt. Wer oder was aber ist Bethlehem Steel?
Weihnachtliche Assoziationen sind nicht angebracht: Das Unternehmen ist nach einem gleichnamigen Ort nicht in Israel, sondern in Pennsylvania benannt. Und es gehörte vor nicht allzu langer Zeit zu den größten und wichtigsten Industrieunternehmen in den USA. Der zweitgrößte amerikanische Stahlproduzent war von 1928 bis 1997 im Dow Jones vertreten. Bethlehem Steels Wurzeln reichen bis ins Jahr 1857 zurück, und einige der bedeutendsten amerikanischen Wahrzeichen, so das Empire State Building in New York oder die Golden Gate Bridge in San Francisco, wurden mit Stahlträgern aus Pennsylvania erbaut. Vergleiche zwischen Unternehmen aus verschiedenen Ländern hinken zwar immer ein wenig, aber Bethlehem Steel spielte in der amerikanischen Industriegeschichte in etwa die Rolle, die Krupp in der deutschen spielte. Im Zweiten Weltkrieg beschäftigte "Bessie" bis zu 300.000 Arbeitnehmer.
Hohe Überschuldung
Heute sind es noch 13.000, und die bangen ebenso um ihren Arbeitsplatz wie die 74.000 Pensionäre um die Sicherheit ihrer Altersversorgung. Die Pensionszahlungsverpflichtungen in Höhe von drei Mrd. $ sind denn auch der schwerste Brocken in Bessies Verbindlichkeitspaket von 4,5 Mrd. $. Die Vermögensgegenstände belaufen sich auf 4,2 Mrd. $. Diese Überschuldung war der eine Grund für den Antrag auf Gläubigerschutz, der katastrophale Verlust von 152 Mio. $ im dritten Quartal 2001 war der andere. Nach den Terroranschlägen vom 11. September hagelte es Auftragsstornierungen. Unternehmenschef Robert Miller sprach davon, ein ohnehin schwaches Umfeld sei nach dem 11. September in den freien Fall übergegangen. Letzten Endes war dies aber nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Gründe für den Niedergang von Bethlehem Steel und der gesamten amerikanischen Stahlindustrie sind anderswo zu suchen.
Die Branche ist auf Grund ihrer hohen Fixkosten gegenüber ausländischen Billiganbietern schlicht nicht konkurrenzfähig. Jährlich überschwemmen 40 Millionen Tonnen Billigstahl aus Südkorea, Russland, Südafrika und Lateinamerika den US-Markt. In den vergangenen drei Jahren haben 24 amerikanische Stahlhersteller Gläubigerschutz beantragt; fünf davon haben die Geschäftstätigkeit eingestellt.
Forderung nach Schutzzöllen
In den USA ist die Aufregung groß, es häufen sich die Forderungen nach Schutzzöllen. Die US-Behörde International Trade Comission (ITC) hat am 22. Oktober konstatiert, dass die US-Stahlbranche durch Einfuhren ausländischer Stahlproduzenten geschädigt wird. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die US-Regierung Importbeschränkungen erlässt. Die ITC hat bis zum 19. Dezember Zeit, um Empfehlungen für Sanktionen zu formulieren. Präsident Bush muss sich dann bis zum 19. Februar 2002 entscheiden.
Für spekulative Anleger ist dies eine interessante Situation: Sollte der politische Druck tatsächlich dazu führen, dass Stahlimporte in die USA künftig stärkeren Restriktionen unterliegen, werden die Produzenten aus den Billiglohnländern erhebliche Probleme bekommen, während sich Marktführer USX US-Steel über eine Geschäftsbelebung und Bethlehem Steel über eine Rettung in letzter Minute freuen könnte. Hält der Strom der Billigimporte aber an, dann dürfte der amerikanischen Stahlindustrie dasselbe drohen, was zum Beispiel der deutschen Textilindustrie in den 70er Jahren widerfahren ist: Ein schleichender Tod mangels Konkurrenzfähigkeit - nicht in der Qualität, aber bei den Produktionskosten.
Starke Nerven gefragt
Der Kauf von Aktien, die sich im Reorganisationsverfahren nach Chapter 11 des US-Konkursrechts befinden, ist hochspekulativ. Bethlehem Steel hat immerhin von GE Capital einen Überbrückungskredit erhalten, um den Umschwung bis Anfang kommenden Jahres zu bewerkstelligen. Ob das gelingen wird, steht in den Sternen. Was aber bedeutet dieses oft zitierte Chapter 11? Die Regelung kommt dann zur Anwendung, wenn der Wert des laufenden Geschäfts eines Unternehmens höher ist als der Erlös, der durch die Veräußerung ruhender Teilbereiche zu erzielen wäre. Das betroffene Unternehmen erhält eine Frist von maximal 120 Tagen, innerhalb derer ein Sanierungsplan erstellt werden muss. Während dieser Frist ruhen alle Gläubigerforderungen.
Wer auf eine Sanierung oder Rettung von Bethlehem Steel setzt, muss also starke Nerven haben und darf keinesfalls zu viel Geld riskieren. Unmöglich erscheint es jedoch nicht, dass "Bessie" überleben wird. Die Chancen stehen jedenfalls deutlich besser als bei Polaroid.
© 2001 Financial Times Deutschland
Geldanlage: Legenden im Koma
Von Horst Fugger
In der zweiten Oktoberwoche haben zwei traditionsreiche amerikanische Unternehmen Gläubigerschutz nach Chapter 11 des US-Konkursrechts beantragt. In der Regel ist das der letzte Schritt vor der Pleite.
In friedlicheren Zeiten als jetzt hätte es sicher auch mehr Aufsehen erregt, dass mit Polaroid und Bethlehem Steel zwei Ikonen der amerikanischen Industrie- und Börsengeschichte vor dem Aus stehen. Über Polaroid konnte man in deutschen Medien einiges lesen, weil die Produkte weit verbreitet sind. Auch in Deutschland gibt es kaum einen Haushalt, in dem nicht eine Sofortbildkamera aus den 70er oder 80er Jahren auf dem Dachboden verstaubt. Wer oder was aber ist Bethlehem Steel?
Weihnachtliche Assoziationen sind nicht angebracht: Das Unternehmen ist nach einem gleichnamigen Ort nicht in Israel, sondern in Pennsylvania benannt. Und es gehörte vor nicht allzu langer Zeit zu den größten und wichtigsten Industrieunternehmen in den USA. Der zweitgrößte amerikanische Stahlproduzent war von 1928 bis 1997 im Dow Jones vertreten. Bethlehem Steels Wurzeln reichen bis ins Jahr 1857 zurück, und einige der bedeutendsten amerikanischen Wahrzeichen, so das Empire State Building in New York oder die Golden Gate Bridge in San Francisco, wurden mit Stahlträgern aus Pennsylvania erbaut. Vergleiche zwischen Unternehmen aus verschiedenen Ländern hinken zwar immer ein wenig, aber Bethlehem Steel spielte in der amerikanischen Industriegeschichte in etwa die Rolle, die Krupp in der deutschen spielte. Im Zweiten Weltkrieg beschäftigte "Bessie" bis zu 300.000 Arbeitnehmer.
Hohe Überschuldung
Heute sind es noch 13.000, und die bangen ebenso um ihren Arbeitsplatz wie die 74.000 Pensionäre um die Sicherheit ihrer Altersversorgung. Die Pensionszahlungsverpflichtungen in Höhe von drei Mrd. $ sind denn auch der schwerste Brocken in Bessies Verbindlichkeitspaket von 4,5 Mrd. $. Die Vermögensgegenstände belaufen sich auf 4,2 Mrd. $. Diese Überschuldung war der eine Grund für den Antrag auf Gläubigerschutz, der katastrophale Verlust von 152 Mio. $ im dritten Quartal 2001 war der andere. Nach den Terroranschlägen vom 11. September hagelte es Auftragsstornierungen. Unternehmenschef Robert Miller sprach davon, ein ohnehin schwaches Umfeld sei nach dem 11. September in den freien Fall übergegangen. Letzten Endes war dies aber nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Gründe für den Niedergang von Bethlehem Steel und der gesamten amerikanischen Stahlindustrie sind anderswo zu suchen.
Die Branche ist auf Grund ihrer hohen Fixkosten gegenüber ausländischen Billiganbietern schlicht nicht konkurrenzfähig. Jährlich überschwemmen 40 Millionen Tonnen Billigstahl aus Südkorea, Russland, Südafrika und Lateinamerika den US-Markt. In den vergangenen drei Jahren haben 24 amerikanische Stahlhersteller Gläubigerschutz beantragt; fünf davon haben die Geschäftstätigkeit eingestellt.
Forderung nach Schutzzöllen
In den USA ist die Aufregung groß, es häufen sich die Forderungen nach Schutzzöllen. Die US-Behörde International Trade Comission (ITC) hat am 22. Oktober konstatiert, dass die US-Stahlbranche durch Einfuhren ausländischer Stahlproduzenten geschädigt wird. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die US-Regierung Importbeschränkungen erlässt. Die ITC hat bis zum 19. Dezember Zeit, um Empfehlungen für Sanktionen zu formulieren. Präsident Bush muss sich dann bis zum 19. Februar 2002 entscheiden.
Für spekulative Anleger ist dies eine interessante Situation: Sollte der politische Druck tatsächlich dazu führen, dass Stahlimporte in die USA künftig stärkeren Restriktionen unterliegen, werden die Produzenten aus den Billiglohnländern erhebliche Probleme bekommen, während sich Marktführer USX US-Steel über eine Geschäftsbelebung und Bethlehem Steel über eine Rettung in letzter Minute freuen könnte. Hält der Strom der Billigimporte aber an, dann dürfte der amerikanischen Stahlindustrie dasselbe drohen, was zum Beispiel der deutschen Textilindustrie in den 70er Jahren widerfahren ist: Ein schleichender Tod mangels Konkurrenzfähigkeit - nicht in der Qualität, aber bei den Produktionskosten.
Starke Nerven gefragt
Der Kauf von Aktien, die sich im Reorganisationsverfahren nach Chapter 11 des US-Konkursrechts befinden, ist hochspekulativ. Bethlehem Steel hat immerhin von GE Capital einen Überbrückungskredit erhalten, um den Umschwung bis Anfang kommenden Jahres zu bewerkstelligen. Ob das gelingen wird, steht in den Sternen. Was aber bedeutet dieses oft zitierte Chapter 11? Die Regelung kommt dann zur Anwendung, wenn der Wert des laufenden Geschäfts eines Unternehmens höher ist als der Erlös, der durch die Veräußerung ruhender Teilbereiche zu erzielen wäre. Das betroffene Unternehmen erhält eine Frist von maximal 120 Tagen, innerhalb derer ein Sanierungsplan erstellt werden muss. Während dieser Frist ruhen alle Gläubigerforderungen.
Wer auf eine Sanierung oder Rettung von Bethlehem Steel setzt, muss also starke Nerven haben und darf keinesfalls zu viel Geld riskieren. Unmöglich erscheint es jedoch nicht, dass "Bessie" überleben wird. Die Chancen stehen jedenfalls deutlich besser als bei Polaroid.
© 2001 Financial Times Deutschland