von Ulf Sommer, Handelsblatt
Charttechniker im Frankfurter Gespräch - Ein nachhaltiger Bullenmarkt ist nicht in Sicht
Ein Artikel von Kathrin Quandt und Ulf Sommer
Auch wenn die Aktienkurse in Deutschland und in den USA im Moment auf der Stelle treten - in den nächsten Monaten sollten Anleger nach Meinung technisch orientierter Analysten noch investiert bleiben. Sogar Neu-Engagements empfehlen sich. Doch längerfristig überwiegt für Standard- und Technologiewerte Skepsis.
Egal, wie gut die Konjunkturdaten im Moment auch ausfallen, die meisten Indizes bewegen sich seitwärts. Nicht einmal der stärkste Anstieg des wichtigen Verbrauchervertrauens in den USA vermag die Börsen zu beflügeln, von einzelnen zyklischen Titeln abgesehen. Ist das Potenzial an den Märkten nach oben ausgereizt, weil gute Nachrichten verpuffen? Nein, lautet das mehrheitliche Fazit der Charttechniker im Frankfurter Redaktionsgespräch mit dem Handelsblatt. Zumindest bis zum Sommer haben der Deutsche Aktienindex (Dax), der Euro Stoxx 50 sowie die bedeutendsten Technologie-Indizes an der Nasdaq und am Neuen Markt noch Luft nach oben, ist ihre Meinung.
So hat Wieland Staud von der Frankfurter Staud Research GmbH für deutsche Wachstumstitel kurzfristig gute Nachrichten auf Lager: Seiner Einschätzung nach hat der Nemax 50 gerade eine für die Elliott-Waves-Theorie typische fünfstufige Abwärtsbewegung hinter sich. Nun stehe im Laufe dieses Jahres eine Aufwärtsbewegung bevor. Solch eine Gegenbewegung sei jedenfalls nach dieser Theorie der Kurswellen an der Börse zu erwarten. Der Anstieg könne in die Zone zwischen 1 800 bis 2 000 Punkten reichen - „und das ist noch konservativ geschätzt“, sagt Staud. Derzeit notiert das Kursbarometer des Neuen Marktes bei rund 1 020 Punkten. Doch der Chartexperte macht auch klar: „Ein Bullenmarkt ist in weiter Ferne.“ Nach diesem Aufschwung werde es wieder bergab gehen. Staud zufolge liegen derzeit wichtige Widerstände bei 1 150 und danach bei 1 320 Punkten, bedeutende Unterstützungen sieht er bei 950 und dann bei 860 Stellen. Staud schlägt deshalb längerfristig orientierten Anlegern vor, eine Stop-Loss-Marke - die automatisch Verkäufe auslöst - bei 860 Indexpunkten zu setzen.
Für US-Technologietitel kurzfristig optimistisch ist auch Michael Riesner von der DZ-Bank. Den amerikanischen Nasdaq-Composite-Index sieht er bis maximal Mai/Juni auf bis zu 2 300 Punkte steigen. In diesem Bereich verläuft der langfristige Abwärtstrend, der im März 2000 begann (siehe Chart).
Für den Rest des Jahres überwiegt bei Riesner allerdings Pessimismus: „Nach wie vor sind wir in einem Bärenmarkt. Die Blase in der Nasdaq ist immer noch nicht abgebaut.“ Neben wichtigen charttechnischen Indikatoren deuteten die extrem niedrige Volatilität (geringe Kursschwankungen) und die vielen Aktienverkäufe der US-Manager auf schwächere Kurse hin. Auch dass die Börsenschwergewichte „Schwierigkeiten“ hätten - ihre Kurse steigen schon länger nicht mehr - stimme bedenklich. „Vieles spricht dafür, dass wir kein Jahr der Aktie bekommen. Spätestens im Herbst ist ein kräftiger Rutsch in den Bereich der alten Tiefststände wahrscheinlich“, meint Riesner. Für die Nasdaq würde das ein Rückfall um über 20 Prozent bedeuten.
Indessen sind die mittelfristigen Aussichten für Standardwerte nicht ganz so klar vorauszusagen, wie der Frankfurter Charttechniker Marcel Mußler erläutert. Wenn man die Kursentwicklung des Dax seit Sommer 1998 betrachtet, könnte der Index eine langfristige Schulter-Kopf-Schulter-Formation ausbilden. So eine Bewegung besteht aus drei Kursgipfeln, wobei der mittlere am höchsten ist. Falls diese Formation zustande kommt, also eine zweite Schulter in Höhe des ersten Gipfels entsteht, würde damit laut Lehrbuch eine Trendwende eingeleitet; das würde dann einen Abwärtstrend bedeuten. „Doch noch ist die zweite Schulter nicht vollendet“, erklärt Mußler. Aus diesem Grund erwartet er kurzfristig bis zum Sommer noch einen Anstieg auf 6 200 bis 6300 Punkte - hier liegt das Hoch von 1998, ehe es im Zuge der Asienkrise kräftig bergab ging. Doch erst nach einem möglichen Abschluss der Formation könnten weitere Prognosen getroffen werden. Das dürfte Mußler zufolge im Spätsommer oder Herbst der Fall sein.
Dagegen will sich Uwe Wagner von der Deutschen Bank weder dem kurzfristigen Optimismus noch dem längerfristigen Pessismismus für den Dax anschließen. Ebenso wie den Euro Stoxx 50 sieht er den Dax nach dem fulminanten Anstieg im Herbst in einer Seitwärtsbewegung. Obwohl das deutsche Börsenbarometer derzeit nahe der oberen Begrenzung von 5 467 Punkten notiert, glaubt Wagner nicht an einen Durchbruch: „Im Dax und Euro Stoxx gehen die Schwungkraft deutlich zurück, und die Stabilität lässt nach. Das macht anfällig für negative Reaktionen.“ Sollte der Dax in den kommenden Tagen unter die wichtige Begrenzung von 5 233 Punkten (dem Tief vom März) fallen - „das wahrscheinliche Szenario“ - liege das Rückschlagsrisiko bei knapp 5 100 und maximal bei 4 970 Punkten. Den Euro Stoxx 50 sieht Wagner im schlimmsten Fall auf 3 544 Zähler fallen. Das wären vom aktuellen Niveau aus betrachtet ein Verlust von sieben Prozent für den Dax und fünf Prozent für die europäischen Titel.
Handelsblatt am 28.3.2002