Montag, 7. November 2005
"Fiebrige Überreaktion"
Zweifelhafter Export-Boom
Wirtschaftsnachrichten aus Deutschland sind höchst verwirrend: Einerseits ist das Land Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum unter allen europäischen Ländern und stellt traurige Rekorde bei den Arbeitslosenzahlen auf. Andererseits gibt es da noch den Titel Exportweltmeister, auf den in jeder zweiten politischen Talk-Show verwiesen wird.
"Fiebrige Überreaktion eines kranken Körpers"
Hans-Werner Sinn, der streitbare Präsident des Münchner Ifo-Instituts, sieht darin keinen Widerspruch. In seinem jüngst erschienenen Buch "Die Basar-Ökonomie" erklärt der Wirtschaftswissenschaftler, warum wirtschaftliche Stagnation und Export-Boom zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Stärke bei den Ausfuhren ist für Sinn kein Zeichen der Leistungsfähigkeit der deutschen Volkwirtschaft, sondern im Gegenteil die "fiebrige Überreaktion eines kranken Körpers". Nach Meinung des Ökonomen hat sich die deutsche Wirtschaft zu sehr auf ihre kapitalintensiven Exportbranchen spezialisiert.
Die Industrie setzt massenhaft Kapital und Arbeit frei
In Vollzeit-Stellen gerechnet sind in der Industrie von 1995 bis 2004 1,26 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, denen im Rest der Wirtschaft keine neuen Stellen gegenüber stehen, rechnet Sinn vor. Den Hauptgrund für die Misere auf dem Arbeitsmarkt sieht er in zu hohen und starren Löhnen. Durch sie gehen arbeitsintensive Sektoren zu schnell kaputt - beispielsweise in der Textilbranche, beim Tourismus oder den einfachen Dienstleistungen. Es bleibt die Flucht in die kapitalintensiven Exportsektoren, die noch am ehesten mit den hohen Löhnen zurechtkommen. Doch für alle entlassenen Arbeitskräfte ist hier kein Platz, denn Roboter ersetzen zunehmend den Menschen in den Werkshallen.
Die Exportbranchen nehmen die Produktionsfaktoren auf
Kurzfristig wechselt das Kapital lediglich die Branche. Der deutsche Kapitalstock besteht zu 80 Prozent aus Immobilien, ist deshalb zum größten Teil an seinen Standort gebunden und kann nicht ins Ausland abwandern. Den Export-Sektoren kommt das zu Gute. Sie übernehmen die Produktionsstätten, die die sterbende Industrie hinterlässt. Doch langfristig entstehen neuen Fabrikhallen jenseits der deutschen Grenzen; Ersatzinvestitionen im Inland werden unterlassen. "Der Export-Boom ist eine Supernova, die dem Sterben des Sterns vorausgeht", findet Sinn in seinem Buch drastische Worte. Das Wirtschaftswachstum erlahmt, weil die entlassenen Arbeitskräfte aus der Industrie nicht in anderen Sektoren unterschlüpfen, sondern in den Sozialstaat wandern. Zugleich ziehen die Ausfuhren an. "Dass viele gerade den Exportboom als Zeichen der Stärke interpretieren, kann man nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen", so Sinn.
"Sinn ist der schlimmste Rufer der Jammerdepression"
Einige seiner Kollegen sehen das freilich etwas anders. "Sinn ist einer der schlimmsten Rufer der deutschen Jammerdepression", findet der Würzburger Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger. Das Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht den Export als Zeichen deutscher Wirtschaftskraft. Der Wahl-Franke ist ein erbitterter Gegner der Theorien des Wahl-Bayern Sinn. Für Bofinger ist der Beschäftigungsrückgang in der deutschen Industrie nicht Besorgnis erregend. Deutschland beschäftige im internationalen Vergleich immer noch viele Menschen in der Industrie. Den Grund für die hohe Arbeitslosigkeit sieht der Würzburger Ökonom nicht in den hohen Löhnen, sondern in der schwachen Binnennachfrage. "Für Unternehmen ist nicht die Höhe der Lohnkosten entscheidend, sondern die Dicke der Auftragsbücher", so Bofinger, der mit seiner Minderheitenmeinung im Sachverständigenrat schon heftigen Streit auslöste. Er fordert das genaue Gegenteil des Kollegen Sinn. Statt Lohnsenkungen will er durch höhere Tarifabschlüsse und staatliche Investitionsprogramme die Binnenkonjunktur ankurbeln.
Von Johannes Christ
Adresse:
www.n-tv.de/598436.html
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Professor Sinn ist in der Tat ein übler Marktschreier, in einem
aber liegt er richtig: die jahrzehntelange extreme Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft hat sich mehr und mehr als Problem herausgestellt - nicht nur auf dem
Arbeitsmarkt, sondern in allen ökonomischen Belangen. Das beginnt damit,
dass wichtige Industrien und Wirtschaftszweige, die keine Spitzentechnologie
produzieren, zurückgefahren, vernachläsigt, ausgegliedert oder ganz
aufgegeben werden. Kohle, Stahl, Landwirtschaft, Textil, Bildung - alles,
was für das Dasein und die Zukunft eines Landes höchste Priorität
besitzt, ist am Entschwinden. Und kann auch durch "Dienstleistung", die dröge
Arbeitsplatzersatzparole, nicht zurück gewonnen werden. Oder wird man durchs
Handy schlau bzw. satt? Oder ist ein embedded system zugleich ein Haus, in dem sich wohnen lässt? Der Verkauf Deutschlands auf dem Weltmarkt hat viele Dimensionen und Gesichter. Letztere werden uns mal als "Bildungsdefizit", mal als "neue Armut" in die Augen sehen. Was wir brauchen, ist nicht mehr Spitzentechnologie, wie Meister Ede aus
Bayern ständig herumblökt, denn davon haben wir wahrlich genug, sondern eine Industrie,
die der Entwicklung des Landes und der Menschen dient.
"Fiebrige Überreaktion"
Zweifelhafter Export-Boom
Wirtschaftsnachrichten aus Deutschland sind höchst verwirrend: Einerseits ist das Land Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum unter allen europäischen Ländern und stellt traurige Rekorde bei den Arbeitslosenzahlen auf. Andererseits gibt es da noch den Titel Exportweltmeister, auf den in jeder zweiten politischen Talk-Show verwiesen wird.
"Fiebrige Überreaktion eines kranken Körpers"
Hans-Werner Sinn, der streitbare Präsident des Münchner Ifo-Instituts, sieht darin keinen Widerspruch. In seinem jüngst erschienenen Buch "Die Basar-Ökonomie" erklärt der Wirtschaftswissenschaftler, warum wirtschaftliche Stagnation und Export-Boom zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Stärke bei den Ausfuhren ist für Sinn kein Zeichen der Leistungsfähigkeit der deutschen Volkwirtschaft, sondern im Gegenteil die "fiebrige Überreaktion eines kranken Körpers". Nach Meinung des Ökonomen hat sich die deutsche Wirtschaft zu sehr auf ihre kapitalintensiven Exportbranchen spezialisiert.
Die Industrie setzt massenhaft Kapital und Arbeit frei
In Vollzeit-Stellen gerechnet sind in der Industrie von 1995 bis 2004 1,26 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, denen im Rest der Wirtschaft keine neuen Stellen gegenüber stehen, rechnet Sinn vor. Den Hauptgrund für die Misere auf dem Arbeitsmarkt sieht er in zu hohen und starren Löhnen. Durch sie gehen arbeitsintensive Sektoren zu schnell kaputt - beispielsweise in der Textilbranche, beim Tourismus oder den einfachen Dienstleistungen. Es bleibt die Flucht in die kapitalintensiven Exportsektoren, die noch am ehesten mit den hohen Löhnen zurechtkommen. Doch für alle entlassenen Arbeitskräfte ist hier kein Platz, denn Roboter ersetzen zunehmend den Menschen in den Werkshallen.
Die Exportbranchen nehmen die Produktionsfaktoren auf
Kurzfristig wechselt das Kapital lediglich die Branche. Der deutsche Kapitalstock besteht zu 80 Prozent aus Immobilien, ist deshalb zum größten Teil an seinen Standort gebunden und kann nicht ins Ausland abwandern. Den Export-Sektoren kommt das zu Gute. Sie übernehmen die Produktionsstätten, die die sterbende Industrie hinterlässt. Doch langfristig entstehen neuen Fabrikhallen jenseits der deutschen Grenzen; Ersatzinvestitionen im Inland werden unterlassen. "Der Export-Boom ist eine Supernova, die dem Sterben des Sterns vorausgeht", findet Sinn in seinem Buch drastische Worte. Das Wirtschaftswachstum erlahmt, weil die entlassenen Arbeitskräfte aus der Industrie nicht in anderen Sektoren unterschlüpfen, sondern in den Sozialstaat wandern. Zugleich ziehen die Ausfuhren an. "Dass viele gerade den Exportboom als Zeichen der Stärke interpretieren, kann man nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen", so Sinn.
"Sinn ist der schlimmste Rufer der Jammerdepression"
Einige seiner Kollegen sehen das freilich etwas anders. "Sinn ist einer der schlimmsten Rufer der deutschen Jammerdepression", findet der Würzburger Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger. Das Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sieht den Export als Zeichen deutscher Wirtschaftskraft. Der Wahl-Franke ist ein erbitterter Gegner der Theorien des Wahl-Bayern Sinn. Für Bofinger ist der Beschäftigungsrückgang in der deutschen Industrie nicht Besorgnis erregend. Deutschland beschäftige im internationalen Vergleich immer noch viele Menschen in der Industrie. Den Grund für die hohe Arbeitslosigkeit sieht der Würzburger Ökonom nicht in den hohen Löhnen, sondern in der schwachen Binnennachfrage. "Für Unternehmen ist nicht die Höhe der Lohnkosten entscheidend, sondern die Dicke der Auftragsbücher", so Bofinger, der mit seiner Minderheitenmeinung im Sachverständigenrat schon heftigen Streit auslöste. Er fordert das genaue Gegenteil des Kollegen Sinn. Statt Lohnsenkungen will er durch höhere Tarifabschlüsse und staatliche Investitionsprogramme die Binnenkonjunktur ankurbeln.
Von Johannes Christ
Adresse:
www.n-tv.de/598436.html
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Professor Sinn ist in der Tat ein übler Marktschreier, in einem
aber liegt er richtig: die jahrzehntelange extreme Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft hat sich mehr und mehr als Problem herausgestellt - nicht nur auf dem
Arbeitsmarkt, sondern in allen ökonomischen Belangen. Das beginnt damit,
dass wichtige Industrien und Wirtschaftszweige, die keine Spitzentechnologie
produzieren, zurückgefahren, vernachläsigt, ausgegliedert oder ganz
aufgegeben werden. Kohle, Stahl, Landwirtschaft, Textil, Bildung - alles,
was für das Dasein und die Zukunft eines Landes höchste Priorität
besitzt, ist am Entschwinden. Und kann auch durch "Dienstleistung", die dröge
Arbeitsplatzersatzparole, nicht zurück gewonnen werden. Oder wird man durchs
Handy schlau bzw. satt? Oder ist ein embedded system zugleich ein Haus, in dem sich wohnen lässt? Der Verkauf Deutschlands auf dem Weltmarkt hat viele Dimensionen und Gesichter. Letztere werden uns mal als "Bildungsdefizit", mal als "neue Armut" in die Augen sehen. Was wir brauchen, ist nicht mehr Spitzentechnologie, wie Meister Ede aus
Bayern ständig herumblökt, denn davon haben wir wahrlich genug, sondern eine Industrie,
die der Entwicklung des Landes und der Menschen dient.