Das Atomkraftwerk Obrigheim bleibt noch ein bisschen am Netz, die Ökosteuer wird nicht vor 2004 weiterentwickelt, die Rentenbeiträge steigen, das Ehegattensplitting wird nicht angetastet. Und damit das alles funktioniert, ist der Sparkurs von Hans Eichel Geschichte. SPD und Grüne einigten sich in den Sachfragen, lassen aber absichtlich viel Spielraum für Interpretationen.
Berlin - "Alle werden davon betroffen sein", drohte der grüne Parteichef Fritz Kuhn. Das sei ein Appell an die "Menschen draußen im Lande". Doch das Gesamtpaket, auf das sich SPD und Grüne am Montag in den Sachfragen geeinigt hatten, verkauften sie nicht als "Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede", sondern folgte der immer wiederkehrenden Rhetorik als ein "Gesamtkunstwerk", das "ökonomisch und ökologisch ausgewogen, sowie sozial gerecht" sei.
Die Lieblingsvokabel von SPD und Grünen am Tag der Verkündung war: flexibel. Im Koalitionsvertrag werden sich in so strittigen Fragen wie der Ökosteuer nur Absichtserklärungen finden, die vorläufig niemandem wehtun, aber beiden Parteien Interpretationsspielraum lassen für ihre Parteitage, um die Zustimmung der Basis nicht zu gefährden.
Die Grünen haben sich bei den Koalitionsgesprächen mit der SPD nicht mit der Forderung durchgesetzt, bei der Ökosteuer die Ausnahmen für das produzierende Gewerbe, vor allem energieintensive Unternehmen, zu streichen. Vereinbart wurde lediglich, diese Ausnahmen so zu gestalten, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht gefährdet wird. Erst 2004 mit Blick auf den geltenden Ölpreis und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung solle geprüft werden, ob Änderungen notwendig seien. Dabei würden die Klimaschutzwirkung beziehungsweise der Lenkungseffekt der Ökosteuer sowie die wirtschaftliche und soziale Wirkung zu bewerten sein. Kuhn leitete daraus die Formulierung ab: "Die Ökosteuer wird weiterentwickelt", eine Formulierung, die er zur Beruhigung der Basis braucht - auch wenn das, wenn überhaupt, erst ab 2004 gilt.
Eine Hintertür bietet sich den Grünen in der Formulierung, dass die Ökosteuer auch auf ihre "soziale Wirkung" zu überprüfen sei. Bisher flossen die Erträge aus der Ökosteuer in das Rentensystem. Und dort könnte der Finanzdruck in den kommenden Jahren so groß werden, dass auch die SPD sich nach weiteren Finanzspritzen, etwa aus der Ökosteuer, sehnen wird.
Schon jetzt werden Beitragssatz und die Bemessungsgrundlage in der Rentenversicherung angehoben. "Wir gehen davon aus, dass in der Rentenversicherung der Beitragssatz bei 19,3 Prozent liegt", sagte Müntefering. Aber auch das ist eine "flexible" Schätzung, andere Experten gehen davon aus, dass der Beitrag bis zu 19,9 Prozent steigen müsste, um die Löcher in der Rentenkasse zu stopfen. Derzeit liegt er bei 19,1 Prozent. Um Geld aufzubringen, wird die Bemessungsgrundlage erhöht. Anfang kommenden Jahres steigt sie laut Müntefering im Westen von 4500 auf 5000 Euro Brutto-Monatseinkommen, im Osten von 3750 auf 4170 Euro.
Eine Niederlage kassierten die Grünen beim Ehegattensplitting, das sie abschmelzen wollten, um bessere Kinderbetreuung zu finanzieren. Die Kommunen sollen dafür einen höheren Anteil von der Umsatzsteuer bekommen, um bessere Ganztagsbetreuung zu gewährleisten.
Sie rangen um jeden Zentimeter, auch darum, dass keiner als Verlierer vom Platz geht. Auf beiden Seiten ist man bemüht, den Kurswechsel in der Finanzpolitik - weg vom strikten Sparkurs hin zu mehr Flexibilität - nicht als Niederlage des Finanzministers erscheinen zu lassen. "Ausgesprochen zufrieden", sei er, behauptete Hans Eichel am Montag. Seinen Sparkurs, Markenzeichen der rot-grünen Regierung in der vergangenen Legislaturperiode, sieht er im Großen und Ganzen gerettet. Den Eindruck, dass er Federn lassen musste, auch auf Druck des Kanzlers, versuchte er zu zerstreuen.
Alles diene der guten Sache: Die Koalition will vom Pfad des strikten Konsolidierungskurses abweichen, um den letzten Rest Wirtschaftswachstum nicht auch noch kaputt zu sparen.
Die Finanzlücke von insgesamt zehn Milliarden Euro im Bundeshaushalt 2003 wird damit nicht wie ursprünglich geplant vollständig durch ein Sparpaket geschlossen. Durch Streichung von Steuervergünstigungen und Subventionen würden 4,2 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen erzielt, sagte SPD-Fraktionschef Franz Müntefering. Das restliche Defizit werde durch Sparmaßnahmen ausgeglichen. 2,6 Milliarden sollen durch neue Schulden aufgebracht werden.
Müntefering bekräftigte, dass das Ziel, die Neuverschuldung bis 2006 auf Null herunterzufahren, unangetastet bleibe. Eichels Sparkurs sei der Grundstein des Wahlerfolges gewesen. "So betrachtet das noch immer jeder bei uns", bemühte sich SPD-Generalsekretär Olaf Scholz um die Ehrenrettung des Finanzministers. Gleichzeitig sieht er keine Notwendigkeit, die einzelnen Schritte zur Senkung der Nettokreditaufnahme für die kommenden vier Jahre genau festzulegen, wie Eichel es ursprünglich vorhatte. Flexibel eben.
Im Klartext heißt das: Jetzt herrscht das Prinzip Hoffnung. Im Vertrauen auf einen günstigeren konjunkturellen Rahmen, mehr Beschäftigung und höhere Steuereinnahmen in etwa zwei Jahren wird der Sparkurs in der ersten Hälfte der Legislaturperiode gelockert. Freiwerdende Mittel sollen in Bildung, Forschung, Arbeitsmarkt und Verkehrsinfrastruktur investiert werden und damit die lahmende Konjunktur ankurbeln.
Ab 2005 soll dann umso kräftiger gespart werden, um das Gesamtziel eines ausgeglichenen Haushaltes zu erreichen. "Wir glauben, dass die Dinge, die wir unternehmen, helfen, die Wirtschaft mit zu beleben. Wir glauben auch, dass die weltwirtschaftlich schwierige Lage nicht dauerhaft anhalten wird", blickte Scholz in die rot-grüne Kristallkugel für Politikprognosen. Die weltwirtschaftlichen Folgen eines möglichen Irak-Krieges werden dabei ausgeblendet. Auch der finanzpolitische Flurschaden in Europa, wenn die größte Wirtschaftsnation gemeinsam mit Italien und Frankreich den Spar-Konsens aufgibt.
Zu dem Sinneswandel hatte auch beigetragen, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder seinem neuen Star im Kabinett, dem designierten Superminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, den Rücken stärkte und Eichel damit von seinem herausgehobenen Platz am Kabinettstisch verdrängte: Clement soll machen, auf Eichel komm raus. Durch die Umsetzung des Hartz-Papiers erhofft sich Müntefering eine Entlastung des Haushalts um 1,5 Milliarden Euro im kommenden Jahr. Eine flexible Schätzung: Experten gehen davon aus, dass die Deregulierung des Arbeitsmarkts erst mal Geld kosten wird, bevor er die Staatskasse langfristig entlasten kann.
Zähneknirschendes Einverständnis
Während die grobe Linie mit Eichels zähneknirschendem Einverständnis am Montag feststand, steckte der Teufel im Detail. Die steuerlichen Maßnahmen sollen dem Bund bis zum Jahr 2006 Mehreinnahmen von 11,6 Milliarden Euro bringen. Bereits im kommenden Jahr flössen dem Bund 4,2 Milliarden Euro zu, hofft Müntefering. Zusätzliche Mehreinnahmen werde es für Länder und Gemeinden geben. Geplant sind auch eine Beschränkung der Eigenheimzulage auf Familien mit Kindern sowie - ähnlich wie bei leichtem Heizöl - eine Steuer auf Gas.
SPD und Grüne wollen zudem die staatliche Förderung beim Kauf selbst genutzten Wohneigentums kürzen. Die Grundförderung für Bauherren wird abgeschafft. Im Gegenzug solle die Zulage pro Kind auf 1200 Euro erhöht werden. Die Einkommensgrenze, bis zur der ein Anspruch auf die Eigenheimzulage besteht, wird gesenkt. Alleinerziehende sollen den Anspruch künftig bei einem Jahreseinkommen von mehr als 70.000 Euro verlieren, ein Ehepaar bei einem Jahreseinkommen von mehr als 140.000 Euro. Derzeit gibt es neben der Kinder-Zulage für Neubauten über einen Zeitraum von acht Jahren eine Grundförderung von bis zu 2556 Euro pro Jahr, für Altbauten die Hälfte.
Für ihr Entgegenkommen in der Ökosteuer darf der kleine Partner die Verkehrs- und Energiepolitik etwas begrünen. "Wir werden die Mehrwertsteuerbefreiung für Flüge in andere EU-Länder künftig aufheben", sagte Kuhn. Dies sei ein wichtiger Punkt für die Wettbewerbsgleichheit zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln erklärte er im Hinblick auf die Bahn. Zudem kündigte der Parteichef an, das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien im Jahr 2006 auf 230 Millionen Euro zu steigern.
Flexibel zeigten sich die Koalitionspartner beim Streit um das Atomkraftwerk Obrigheim. Es darf zwei Jahre länger betrieben werden. Die Laufzeitverlängerung für das älteste Atomkraftwerk Deutschlands geht auf Kosten des Kraftwerks Philipsburg I, dessen Laufzeit entsprechend reduziert wird. Umweltminister Jürgen Trittin betonte, damit stehe fest, dass das AKW Obrigheim in dieser Wahlperiode endgültig abgeschaltet werde. Die Grünen hatten auf die Stilllegung von Obrigheim gedrungen. Die Anlage ist seit 33 Jahren am Netz.
Laut Atomkonsens hat jede Anlage eine Reststrommenge, nach deren Produktion die Genehmigung automatisch erlischt. Für Obrigheim hätte dies spätestens im Frühjahr 2003 das Aus bedeutet. Die EnBW als Betreiber hatte aber die Übertragung eines Stromkontingents vom Kraftwerk Neckarwestheim II auf Obrigheim beantragt. Nach Darstellung des Unternehmens hatte der Bundeskanzler dem Unternehmen einen Weiterbetrieb der Atomanlage zugesichert.
Ob die grüne Basis dieses flexible Abschalten gutheißt, wird sich auf dem Parteitag am Freitag und Sonnabend zeigen. Trittin wird sich bemühen, den Kompromiss als Doppel-Erfolg zu verkaufen, weil es ihm gelang, die Restlaufzeit für Obrigheim von Philipsburg I abzuschneiden, statt wie von EnBW gewünscht beim Kraftwerk Neckarwestheim II. Denn Philipsburg I gilt an der grünen Basis gleich nach Obrigheim als dringendstes "Abschaltprojekt".
Flexible Finanzpolitik
Auch die flexible Finanzpolitik wird SPD und Grüne weiter in Atem halten. In die zehn Milliarden Miese für 2003 seien Steuerausfälle von weiteren 5,5 Milliarden Euro, wie sie die Steuerschätzung im November ergeben werde, schon eingerechnet, erläuterte zwar am Montag die Finanzexpertin der Grünen, Christine Scheel. Erst bei Einbrüchen darüber hinaus - etwa ein Wachstum unterhalb der angenommenen 0,5 Prozent für 2002, oder noch höhere Steuerausfälle bei der Schätzung im Mai 2003 -, muss der Sparpfad verlassen werden. Da muss man dann flexibel reagieren.
Dann steht nicht nur der kontinuierliche Abbau der Neuverschuldung in Frage, sondern die Einhaltung des europäischen Defizitlimits von drei Prozent. "2003 werden wir sichtbar darunter liegen", versprach Eichel am Montag. Auf die Einhaltung des Kriteriums für 2002 wolle er sich aber nicht festlegen. Eine solche Festlegung sei eben erst nach den Ergebnissen der Steuerschätzung im November möglich, sagte der Finanzminister. Zwar betonte SPD-Fraktionschef Franz Müntefering am Montag wiederholt: "Wir werden versuchen, drei Prozent zu erreichen." Doch sprach er auch sibyllinisch davon, dass sich Deutschland "im europäischen Geleitzug" bewegen werde.
Von den Euro-Staaten hat bereits Frankreich angekündigt, dass es andere Prioritäten habe, als die Nettoneuverschuldung kontinuierlich zurückzuführen. Italien findet die EU-Vorgaben auch irgendwie lästig. Die EU-Kommission in Brüssel sieht in der Linie der Bundesregierung deshalb schon einen schwarzen Montag, ein weiteres Signal für die Aufweichung des Stabilitätskriteriums. Deshalb aus Brüssel auch prompt die Arbeitsaufforderung an Berlin, sich klar zur Haushaltskonsolidierung zu bekennen. Eine rhetorische Lösung fand Rot-Grün in den vielen Gummiparagrafen der "fexiblen Finanzpolitik" - frei nach dem Motto: Jetzt machen wir mal und dann schaun wir mal. Wie flexibel SPD und Grüne sonst noch sind, wird sich am Dienstag zeigen, wenn der letzte offene Punkt der Koalitionsvereinbarungen verhandelt wird: die Ressortzuschnitte und die Personalfragen.
Berlin - "Alle werden davon betroffen sein", drohte der grüne Parteichef Fritz Kuhn. Das sei ein Appell an die "Menschen draußen im Lande". Doch das Gesamtpaket, auf das sich SPD und Grüne am Montag in den Sachfragen geeinigt hatten, verkauften sie nicht als "Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede", sondern folgte der immer wiederkehrenden Rhetorik als ein "Gesamtkunstwerk", das "ökonomisch und ökologisch ausgewogen, sowie sozial gerecht" sei.
Die Lieblingsvokabel von SPD und Grünen am Tag der Verkündung war: flexibel. Im Koalitionsvertrag werden sich in so strittigen Fragen wie der Ökosteuer nur Absichtserklärungen finden, die vorläufig niemandem wehtun, aber beiden Parteien Interpretationsspielraum lassen für ihre Parteitage, um die Zustimmung der Basis nicht zu gefährden.
Die Grünen haben sich bei den Koalitionsgesprächen mit der SPD nicht mit der Forderung durchgesetzt, bei der Ökosteuer die Ausnahmen für das produzierende Gewerbe, vor allem energieintensive Unternehmen, zu streichen. Vereinbart wurde lediglich, diese Ausnahmen so zu gestalten, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht gefährdet wird. Erst 2004 mit Blick auf den geltenden Ölpreis und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung solle geprüft werden, ob Änderungen notwendig seien. Dabei würden die Klimaschutzwirkung beziehungsweise der Lenkungseffekt der Ökosteuer sowie die wirtschaftliche und soziale Wirkung zu bewerten sein. Kuhn leitete daraus die Formulierung ab: "Die Ökosteuer wird weiterentwickelt", eine Formulierung, die er zur Beruhigung der Basis braucht - auch wenn das, wenn überhaupt, erst ab 2004 gilt.
Eine Hintertür bietet sich den Grünen in der Formulierung, dass die Ökosteuer auch auf ihre "soziale Wirkung" zu überprüfen sei. Bisher flossen die Erträge aus der Ökosteuer in das Rentensystem. Und dort könnte der Finanzdruck in den kommenden Jahren so groß werden, dass auch die SPD sich nach weiteren Finanzspritzen, etwa aus der Ökosteuer, sehnen wird.
Schon jetzt werden Beitragssatz und die Bemessungsgrundlage in der Rentenversicherung angehoben. "Wir gehen davon aus, dass in der Rentenversicherung der Beitragssatz bei 19,3 Prozent liegt", sagte Müntefering. Aber auch das ist eine "flexible" Schätzung, andere Experten gehen davon aus, dass der Beitrag bis zu 19,9 Prozent steigen müsste, um die Löcher in der Rentenkasse zu stopfen. Derzeit liegt er bei 19,1 Prozent. Um Geld aufzubringen, wird die Bemessungsgrundlage erhöht. Anfang kommenden Jahres steigt sie laut Müntefering im Westen von 4500 auf 5000 Euro Brutto-Monatseinkommen, im Osten von 3750 auf 4170 Euro.
Eine Niederlage kassierten die Grünen beim Ehegattensplitting, das sie abschmelzen wollten, um bessere Kinderbetreuung zu finanzieren. Die Kommunen sollen dafür einen höheren Anteil von der Umsatzsteuer bekommen, um bessere Ganztagsbetreuung zu gewährleisten.
Sie rangen um jeden Zentimeter, auch darum, dass keiner als Verlierer vom Platz geht. Auf beiden Seiten ist man bemüht, den Kurswechsel in der Finanzpolitik - weg vom strikten Sparkurs hin zu mehr Flexibilität - nicht als Niederlage des Finanzministers erscheinen zu lassen. "Ausgesprochen zufrieden", sei er, behauptete Hans Eichel am Montag. Seinen Sparkurs, Markenzeichen der rot-grünen Regierung in der vergangenen Legislaturperiode, sieht er im Großen und Ganzen gerettet. Den Eindruck, dass er Federn lassen musste, auch auf Druck des Kanzlers, versuchte er zu zerstreuen.
Alles diene der guten Sache: Die Koalition will vom Pfad des strikten Konsolidierungskurses abweichen, um den letzten Rest Wirtschaftswachstum nicht auch noch kaputt zu sparen.
Die Finanzlücke von insgesamt zehn Milliarden Euro im Bundeshaushalt 2003 wird damit nicht wie ursprünglich geplant vollständig durch ein Sparpaket geschlossen. Durch Streichung von Steuervergünstigungen und Subventionen würden 4,2 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen erzielt, sagte SPD-Fraktionschef Franz Müntefering. Das restliche Defizit werde durch Sparmaßnahmen ausgeglichen. 2,6 Milliarden sollen durch neue Schulden aufgebracht werden.
Müntefering bekräftigte, dass das Ziel, die Neuverschuldung bis 2006 auf Null herunterzufahren, unangetastet bleibe. Eichels Sparkurs sei der Grundstein des Wahlerfolges gewesen. "So betrachtet das noch immer jeder bei uns", bemühte sich SPD-Generalsekretär Olaf Scholz um die Ehrenrettung des Finanzministers. Gleichzeitig sieht er keine Notwendigkeit, die einzelnen Schritte zur Senkung der Nettokreditaufnahme für die kommenden vier Jahre genau festzulegen, wie Eichel es ursprünglich vorhatte. Flexibel eben.
Im Klartext heißt das: Jetzt herrscht das Prinzip Hoffnung. Im Vertrauen auf einen günstigeren konjunkturellen Rahmen, mehr Beschäftigung und höhere Steuereinnahmen in etwa zwei Jahren wird der Sparkurs in der ersten Hälfte der Legislaturperiode gelockert. Freiwerdende Mittel sollen in Bildung, Forschung, Arbeitsmarkt und Verkehrsinfrastruktur investiert werden und damit die lahmende Konjunktur ankurbeln.
Ab 2005 soll dann umso kräftiger gespart werden, um das Gesamtziel eines ausgeglichenen Haushaltes zu erreichen. "Wir glauben, dass die Dinge, die wir unternehmen, helfen, die Wirtschaft mit zu beleben. Wir glauben auch, dass die weltwirtschaftlich schwierige Lage nicht dauerhaft anhalten wird", blickte Scholz in die rot-grüne Kristallkugel für Politikprognosen. Die weltwirtschaftlichen Folgen eines möglichen Irak-Krieges werden dabei ausgeblendet. Auch der finanzpolitische Flurschaden in Europa, wenn die größte Wirtschaftsnation gemeinsam mit Italien und Frankreich den Spar-Konsens aufgibt.
Zu dem Sinneswandel hatte auch beigetragen, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder seinem neuen Star im Kabinett, dem designierten Superminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, den Rücken stärkte und Eichel damit von seinem herausgehobenen Platz am Kabinettstisch verdrängte: Clement soll machen, auf Eichel komm raus. Durch die Umsetzung des Hartz-Papiers erhofft sich Müntefering eine Entlastung des Haushalts um 1,5 Milliarden Euro im kommenden Jahr. Eine flexible Schätzung: Experten gehen davon aus, dass die Deregulierung des Arbeitsmarkts erst mal Geld kosten wird, bevor er die Staatskasse langfristig entlasten kann.
Zähneknirschendes Einverständnis
Während die grobe Linie mit Eichels zähneknirschendem Einverständnis am Montag feststand, steckte der Teufel im Detail. Die steuerlichen Maßnahmen sollen dem Bund bis zum Jahr 2006 Mehreinnahmen von 11,6 Milliarden Euro bringen. Bereits im kommenden Jahr flössen dem Bund 4,2 Milliarden Euro zu, hofft Müntefering. Zusätzliche Mehreinnahmen werde es für Länder und Gemeinden geben. Geplant sind auch eine Beschränkung der Eigenheimzulage auf Familien mit Kindern sowie - ähnlich wie bei leichtem Heizöl - eine Steuer auf Gas.
SPD und Grüne wollen zudem die staatliche Förderung beim Kauf selbst genutzten Wohneigentums kürzen. Die Grundförderung für Bauherren wird abgeschafft. Im Gegenzug solle die Zulage pro Kind auf 1200 Euro erhöht werden. Die Einkommensgrenze, bis zur der ein Anspruch auf die Eigenheimzulage besteht, wird gesenkt. Alleinerziehende sollen den Anspruch künftig bei einem Jahreseinkommen von mehr als 70.000 Euro verlieren, ein Ehepaar bei einem Jahreseinkommen von mehr als 140.000 Euro. Derzeit gibt es neben der Kinder-Zulage für Neubauten über einen Zeitraum von acht Jahren eine Grundförderung von bis zu 2556 Euro pro Jahr, für Altbauten die Hälfte.
Für ihr Entgegenkommen in der Ökosteuer darf der kleine Partner die Verkehrs- und Energiepolitik etwas begrünen. "Wir werden die Mehrwertsteuerbefreiung für Flüge in andere EU-Länder künftig aufheben", sagte Kuhn. Dies sei ein wichtiger Punkt für die Wettbewerbsgleichheit zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln erklärte er im Hinblick auf die Bahn. Zudem kündigte der Parteichef an, das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien im Jahr 2006 auf 230 Millionen Euro zu steigern.
Flexibel zeigten sich die Koalitionspartner beim Streit um das Atomkraftwerk Obrigheim. Es darf zwei Jahre länger betrieben werden. Die Laufzeitverlängerung für das älteste Atomkraftwerk Deutschlands geht auf Kosten des Kraftwerks Philipsburg I, dessen Laufzeit entsprechend reduziert wird. Umweltminister Jürgen Trittin betonte, damit stehe fest, dass das AKW Obrigheim in dieser Wahlperiode endgültig abgeschaltet werde. Die Grünen hatten auf die Stilllegung von Obrigheim gedrungen. Die Anlage ist seit 33 Jahren am Netz.
Laut Atomkonsens hat jede Anlage eine Reststrommenge, nach deren Produktion die Genehmigung automatisch erlischt. Für Obrigheim hätte dies spätestens im Frühjahr 2003 das Aus bedeutet. Die EnBW als Betreiber hatte aber die Übertragung eines Stromkontingents vom Kraftwerk Neckarwestheim II auf Obrigheim beantragt. Nach Darstellung des Unternehmens hatte der Bundeskanzler dem Unternehmen einen Weiterbetrieb der Atomanlage zugesichert.
Ob die grüne Basis dieses flexible Abschalten gutheißt, wird sich auf dem Parteitag am Freitag und Sonnabend zeigen. Trittin wird sich bemühen, den Kompromiss als Doppel-Erfolg zu verkaufen, weil es ihm gelang, die Restlaufzeit für Obrigheim von Philipsburg I abzuschneiden, statt wie von EnBW gewünscht beim Kraftwerk Neckarwestheim II. Denn Philipsburg I gilt an der grünen Basis gleich nach Obrigheim als dringendstes "Abschaltprojekt".
Flexible Finanzpolitik
Auch die flexible Finanzpolitik wird SPD und Grüne weiter in Atem halten. In die zehn Milliarden Miese für 2003 seien Steuerausfälle von weiteren 5,5 Milliarden Euro, wie sie die Steuerschätzung im November ergeben werde, schon eingerechnet, erläuterte zwar am Montag die Finanzexpertin der Grünen, Christine Scheel. Erst bei Einbrüchen darüber hinaus - etwa ein Wachstum unterhalb der angenommenen 0,5 Prozent für 2002, oder noch höhere Steuerausfälle bei der Schätzung im Mai 2003 -, muss der Sparpfad verlassen werden. Da muss man dann flexibel reagieren.
Dann steht nicht nur der kontinuierliche Abbau der Neuverschuldung in Frage, sondern die Einhaltung des europäischen Defizitlimits von drei Prozent. "2003 werden wir sichtbar darunter liegen", versprach Eichel am Montag. Auf die Einhaltung des Kriteriums für 2002 wolle er sich aber nicht festlegen. Eine solche Festlegung sei eben erst nach den Ergebnissen der Steuerschätzung im November möglich, sagte der Finanzminister. Zwar betonte SPD-Fraktionschef Franz Müntefering am Montag wiederholt: "Wir werden versuchen, drei Prozent zu erreichen." Doch sprach er auch sibyllinisch davon, dass sich Deutschland "im europäischen Geleitzug" bewegen werde.
Von den Euro-Staaten hat bereits Frankreich angekündigt, dass es andere Prioritäten habe, als die Nettoneuverschuldung kontinuierlich zurückzuführen. Italien findet die EU-Vorgaben auch irgendwie lästig. Die EU-Kommission in Brüssel sieht in der Linie der Bundesregierung deshalb schon einen schwarzen Montag, ein weiteres Signal für die Aufweichung des Stabilitätskriteriums. Deshalb aus Brüssel auch prompt die Arbeitsaufforderung an Berlin, sich klar zur Haushaltskonsolidierung zu bekennen. Eine rhetorische Lösung fand Rot-Grün in den vielen Gummiparagrafen der "fexiblen Finanzpolitik" - frei nach dem Motto: Jetzt machen wir mal und dann schaun wir mal. Wie flexibel SPD und Grüne sonst noch sind, wird sich am Dienstag zeigen, wenn der letzte offene Punkt der Koalitionsvereinbarungen verhandelt wird: die Ressortzuschnitte und die Personalfragen.