FINANZEN 07.03.2001
Aufsichtsräte am Neuen Markt - Überfordert und unterbezahlt
"Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung zu überwachen", heißt es knapp im Aktiengesetz. Dies gilt natürlich auch für den Neuen Markt . Doch erste Pleiten und dubiose Zahlenangaben von mehr als einem Unternehmen dieses so genannten Wachstumsmarktes wecken Zweifel an der Effizienz dieser Kontrolle.
Vier Jahre nach seinem Debüt (10. März) häufen sich Meldungen über existenzgefährdende Verluste, Liquiditätsengpässe, Insiderverdacht, massive Verfehlung von Prognosen und teilweise sogar revidierte Jahresabschlüsse. Der ehemalige Überflieger EM.TV & Merchandising beschäftigt ebenfalls wie das Augsburger Softwarehouse Infomatec bereits die Juristen. Doch die Liste der Unternehmen, die am Neuen Markt in die Negativschlagzeilen gekommen sind, lässt sich mit Gigabell , Abit , CPU Softwarehouse , Letsbuyit.com , Metabox , Teamwork , Team Communications , Ad Pepper Advanced Medien , Blue C , Heyde , Infomatec und Micrologica fast täglich erweitern.
Während bei vielen Unternehmen wie zuletzt bei dem Bad Nauheimer Software-Unternehmen Heyde der Vorstand die Konsequenzen zieht und zurücktritt, wurde die Frage, wer die Vorstände der Neuen Markt-Unternehmen beaufsichtigt hat, bisher kaum gestellt. Bei einem der ehemaligen Vorzeigeunternehmen am Neuen Markt fällen Analysten vernichtende Urteile: "Das Management hat den Überblick über das Unternehmen verloren", kommentierte Reinhard Rother von Delbrück Asset Management die schwierige Lage des Unternehmens. Die Heyde AG sei "sehr aggressiv" gewachsen, das habe "eklatante Managementschwächen" offenbart. Doch dafür, dass Aufsichtsräte krisengeschüttelter Unternehmen ihr Amt niederlegen, muss das Unternehmen offenbar fast pleite gehen.
"Gerade bei jungen Unternehmen sind die Aufsichtsräte besonders stark gefordert", sagte Reinhild Keitel von der Schutzgemeinschaft für Kleinaktionäre (SdK) der dpa-AFX. Auch hätten sich die Mandatsträger bezüglich der Ad-hoc-Publizität etwas mehr vornehmen müssen. "Der Aufsichtsrat sollte nach Meinung der Aktionärsschützerin eine Art Berichtswesen installieren, um immer auf dem Laufenden zu sein." In einigen Fälle habe die Kontrolle total versagt, erklärte Keitel, die auch auf strukturelle Probleme am schrumpfenden Wachstumssegment verweist.
Markus Straub, der ebenfalls die Schutzgemeinschaft vertritt, fordert: "Aufsichtsräte müssen mit Sachverstand und Wissen an ihre Aufgabe gehen und sollten möglichst auch Strukturierungserfahrung haben. Statt dessen sitzen in dem Gremium nicht selten Familienangehörige, Freunde oder Bekannte des Vorstandes", kritisiert Reinhild Keitel: "Am Neuen Markt ist meist der Vorstand auch Großaktionär und bestimmt damit seinen Aufsichtsrat selbst."
Bei der Metabox AG in Hildesheim sitze dem Aufsichtsrat sogar mit Manfred Drung der Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft vor, erklärten Analysten. Der Gigabell-Aufsichtsratschef und ehemalige Postminister Christian Schwarz-Schilling trat im Sommer beim Einstieg eines neuen Investors zurück. Bei dem Augsburger Unternehmen Infomatec, von dem zwei ehemaligen Vorstände in Haft sitzen, kam die WestLB stärkerer Kritik am von ihr entsandten Aufsichtsratsvorsitzenden zuvor: Die Bank, die Infomatec an die Börse gebracht hatte und das Unternehmen am Neuen Markt als Designated Sponsor auch betreute, zog im August mit dem Betreuermandat auch ihren leitenden Mitabeiter Volker Müller-Scheessel vom Aufsichtsratsvorsitz zurück.
Universitätsprofessor Wolfgang Gerke vom Lehrstuhl für Bank- und Börsenwesen der Universität Nürnberg-Erlangen fordert, dass die Aufsichtsräte besser honoriert werden solle. Die Bezahlung sollte erfolgs- und ergebnisorientiert erfolgen. Als Kriterium könnten der Aktienkurs und der Jahresüberschuss dienen. Die derzeitige Bezahlung sei vom Renommee der Aufsichtsräte abhängig, erklärte Gerke ohne Nennung von Beträgen. Andere Quellen sprechen von Summen zwischen 20.000 und 100.000 Mark.
Bei EM.TV hat der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Nickolaus Becker, im Hauptberuf Rechtsanwalt, nach Presseberichten bei großen Transaktionen wie Jim Henson und dem Formel-eins-Einstieg mitverhandelt. "Es ist nicht verboten, das zu kontrollierende Unternehmen auch rechtlich zu beraten", räumten sowohl Keitel wie auch Gerke ein. Eine Beratungstätigkeit, die je nach Umfang und Komplexität den beratenden Anwälten fette Prämien einbringe, sollte jedoch vom Aufsichtsrat genehmigt und im Geschäftsbericht ausgewiesen werden, fordert die SdK. Hier geht es darum, das schwindende Vertrauen der Anleger wieder zu gewinnen.
Die Deutsche Börse stellt an alle Emittenten am Neuen Markt höhere Anforderungen, als das Gesetz für den amtlichen Handel vorsieht, und hat ihr Regelwerk für das Wachstumssegment Anfang des Monats weiter verschärft. Sie verweist in der Aufsichtsratsfrage jedoch auf das Bundesfinanzministerium und die Regierungskommission "Corporate Governance". Finanzminister Hans Eichel will die Finanzmarktaufsicht reformieren und einen Gesetzesentwurf noch vor der Sommerpause vorlegen.
Viele Grüße
aus dem Ruhrpott