Der Kabelbrand
Von Tillmann Prüfer, Martin Virtel und Christian Baulig, Hamburg
Mit der Pleite von Deutschlands größter Internet-Agentur Kabel New Media verliert der Neue Markt seinen letzten Mythos. Das gesamte Wachstumssegment droht durch den Rückzug der Fonds in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Mitternacht ist bei der Internet-Agentur Kabel New Media keine ungewöhnliche Arbeitszeit. Aber eine ungewöhnliche Zeit, um E-Mails vom Vorstand zu empfangen: "Wie Ihr alle wisst, befinden wir uns zurzeit in einer mehr als kritischen Situation", hob Vorstandschef Peter Kabel an, als er in der Nacht von Donnerstag auf Freitag sein Rundschreiben verschickte. Das Unternehmen habe einen "vorläufigen Zahlungsstopp veranlasst" und werde die ausstehenden Gehälter leider erst Mitte Juli auszahlen. "Das Beste ist es, die Situation besonnen zu verdauen und professionell gegenüber den Kollegen und Kunden zu agieren."
Die Nachtarbeiter handelten in New-Economy-Manier: In einer kollektiven Solidaritätsschicht schufteten sie weiter bis sechs Uhr früh. Kollegen, die noch in den Betten lagen, mailten sie zum Frühstück: "Komm’ heute zur Arbeit, aber sei nicht zu gut gelaunt."
Prickelnde Stimmung war wahrlich nicht zu befürchten im Hamburger Kabel-Headquarter. Die meisten Mitarbeiter traf die Nachricht von der Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers wie ein Schlag. Selbst das obere Management erfuhr erst kurz vor seinen Untergebenen vom Ausmaß der Katastrophe. Für den heutigen Montag wird erwartet, dass Kabel New Media Insolvenz beantragt.
Bis zuletzt hatte der Vorstand mit potenziellen Investoren verhandelt, darunter angeblich auch die US-Internetholding CMGI, die sich in den vergangenen Wochen um Beteiligungen an mehreren Hamburger Multimediafirmen bemüht hat. Aber die Gespräche scheiterten.
Darauf waren selbst die Analysten nicht vorbereitet: "Wir wussten, dass viel daran hing, ob ein neuer Investor gefunden wird. Doch diese dramatische Entwicklung überraschte uns", sagt Aktien-Experte Björn Kirchner von der Investmentbank BNP Paribas, die Kabel im Sommer 1999 an die Börse gebracht hatte. Mit der Insolvenz des Internet-Dienstleisters verliert der Neue Markt einen seiner frühen Mythen - und das zu einer Zeit, wo die Anleger dringend irgendetwas bräuchten, woran sie noch glauben können.
Das ganze Wachstumssegment versackt langsam in der Bedeutungslosigkeit. Schlechte Nachrichten häufen sich: Der Aachener Maschinenbauer Aixtron, bisher Liebling der Analysten, sieht sich neuerdings dem Vorwurf ausgesetzt, die Anleger mit veralteten Marktprognosen getäuscht zu haben. Und die Aktien des angeblich gerade erst geretteten Internet-Händlers Letsbuyit.com wurden am Freitag sogar vom Handel ausgesetzt. Die Verhandlungen mit einem Hauptinvestor sind dort ebenfalls gescheitert, das Unternehmen steht vor der endgültigen Pleite.
Mann guter Nachrichten
Ausgerechnet Kabel New Media wollte das Unternehmen sein, das endlich Schluss macht mit den ständigen Negativmeldungen. Noch im Februar teilte die Agentur mit, sie werde im vierten Quartal des Geschäftsjahres profitabel sein. Vorstandschef Peter Kabel prahlte, das Unternehmen schwimme "klar gegen den Strom am Neuen Markt". Vor zehn Tagen musste er dann allerdings eingestehen, dass die Firma leider noch keinen Gewinn mache, sondern das Geschäftsjahr Ende März mit einem Verlust von bis zu 130 Mio. Euro abschließe. Die Profitabilität, eigentlich für Ende 2000 geplant, solle Ende 2001 eintreten. Jetzt glaubt daran niemand mehr.
Dabei hatte dieses Gutwettermachen lange funktioniert: Keiner am Neuen Markt verstand es so gut wie der mediengewandte Peter Kabel, Optimismus zu verbreiten und in steigende Kurse umzusetzen. Als erste Internet-Agentur brachte er 1999 Kabel New Media zu 6,15 Euro an die Wachstumsbörse. Und ohne das neue Börsensegment und die New-Economy-Euphorie wäre Kabels Aufstieg nicht möglich gewesen - ebenso wenig wie der jähe Sturz. Stärker noch als bei den Konkurrenten, Pixelpark etwa oder Icon Medialab, war die Aktieneuphorie der Treibstoff für die planlose Expansion, an der das Unternehmen nun zerbricht.
Peter Kabel zog von Podium zu Podium, sagte Sätze wie: "Die Internet-Branche befindet sich noch ganz am Anfang, und sie wird für die nächsten 20 bis 30 Jahre unser Leben bestimmen." Und gelobte, "für eine Vision das persönliche Leben einzusetzen". Im Februar 2000 war die Aktie 82 Euro wert. Kabel hatte stets eine griffige Parole bereit. Als es galt, viel Geld für schnelles Wachstum auszugeben, verkündete er: "Wir wollen in der Champions League spielen, nicht in der Bezirksliga." Als der Neue Markt abzuschmieren drohte und Kabel auf ein schnelles Erreichen der Gewinnschwelle drängen musste, hörte sich das so an: "Ich bin ein bisschen altmodisch, ein Unternehmen ist doch eigentlich dazu da, um Geld zu verdienen."
Vielleicht auch wegen solcher Weisheiten krönte ihn das "Manager Magazin" zum "Entrepreneur des Jahres 2000". Die Unternehmensberatung Ernst & Young nominierte ihn im Frühjahr sogar für den Titel des "World Entrepreneur Of The Year". Wenig später sah es düster aus für Kabel New Media.
Der Gründer wollte seine Firma zum Full-Service-Anbieter ausbauen. Er kaufte in weniger als einem Jahr elf Unternehmen auf und machte Kabel New Media mit 800 Mitarbeitern und Vorzeigekunden wie BMW von einer Web-Agentur zu einem kleinen Mischkonzern. Zur Kabel-Gruppe gehören mittlerweile so wenig aufs Internet ausgerichtete Firmen wie der Call-Center-Betreiber Linkenheil & Friends. Um diese Neupositionierung durchzusetzen, soll Kabel sich sogar mit seiner Konsortialbank Paribas überworfen haben. An der Börse wurde das Konzept jedoch eher als Verzettelung aufgenommen.
"Wir standen dem Full-Service-Ansatz schon länger kritisch gegenüber", sagt Internet-Analyst Peter Barkow von HSBC Trinkaus & Burkhardt: "Große schwedische Agenturen wie Icon-Media-Lab sind längst wieder dabei, ihr Geschäft zu fokussieren. Kabel hat das verpasst." Ein anderer Analyst meint: "Offenbar ist Kabel daran gescheitert, die starke Expansion wieder zurückzudrehen." Nun werden Insolvenzverwalter diese Aufgabe übernehmen. Sie werden vor allem die teuren Auslandsbeteiligungen von Kabel auflösen.
Im hastig zusammengekauften Kabel-Salat gibt es tatsächlich Filet-Stücke, von denen auch die Konkurrenten voller Hochachtung reden. "Kabel hat bei Kunden wie BMW sehr gute Arbeit geleistet", bestätigt Oliver Sinner. Er ist Vorstand der kleineren, aber bereits seit längerem profitabel arbeitenden Agentur SinnerSchrader, einem der wenigen Unternehmen der Branche, das sich derzeit nicht mit den Trümmern einer gescheiterten Expansionsstrategie herumschlagen muss.
Selbst wenn Kabel sich in Teilen noch retten lässt, das Vertrauen ist dahin: "Kabel ist keine Aktiengesellschaft mehr, die man an der Börse bewerten kann", sagt ein Analyst. Ein Problem, das die Aktien-Experten mit immer mehr Unternehmen am Neuen Markt haben.
Verlorener Markt
Für die Analysten der GZ-Bank sind viele Neuer-Markt-Werte zweifelhaft, weil ihre Bilanzen zu einem großen Teil schwer überprüfbare Bewertungen enthalten. "Oft stellen sich die immateriellen Vermögensgegenstände als weit weniger werthaltig heraus als zuvor bilanziert", schreiben sie in einer Studie. Außerordentliche Abschreibungen bringen die Firmen dann oft in finanzielle Bedrängnis.
Je höher der Anteil der immateriellen Vermögensgegenstände an der Bilanzsumme, desto schlechter schneiden die Aktien der Unternehmen im Vergleich zum gesamten Markt ab. Kabel New Media ist hierfür ein Paradebeispiel: Unter allen Unternehmen am Neuen Markt hatte Kabel im vergangenen Geschäftsjahr mit 73 Prozent den fünfthöchsten Anteil an immateriellen Vermögenswerten. Seit Jahresbeginn ist die Aktie 50 Prozent stärker gefallen als der Nemax All Share Index.
Institutionelle Anleger meiden das Segment mittlerweile wie einen Räuberwald. "Versicherungen und Publikumsfonds, die nicht unbedingt müssen, haben sich längst zurückgezogen", sagt Kai Franke, Leiter der Analyseabteilung bei der BHF-Bank. Wobei der Abschied vom Zukunftssegment den Investoren nicht leicht gemacht wird: "Zeitweise ist es schwierig, ein Aktienpaket zu verkaufen", heißt es bei der Fondsgesellschaft Union Investment.
Besonders ausländische Investoren meiden das entzauberte Wachstumssegment - nicht zuletzt, weil Unternehmen allzu oft ihre Prognosen kräftig revidieren mussten. "Unzuverlässigkeit ist gerade für Angelsachsen ein rotes Tuch", sagt Rolf Elgeti, Stratege bei Commerzbank Securities in London.
Der Umsatz an dem einstigen Prestige-Segment der Deutschen Börse hat sich binnen eines Jahres fast gedrittelt: Im Mai wickelten die Computer in Frankfurt-Hausen gerade noch Transaktionen im Wert von 5 Mrd. Euro ab. Die 30 Dax-Werte dagegen bringen es auf knapp 70 Mrd. Euro. Rekorde gibt es am Wachstumsmarkt nur noch in negativer Hinsicht: So wurde vom Hamburger Internetdienstleisters Emprise am Freitag genau eine Aktie gehandelt - zum Sparpreis von 3,74 Euro.
Fondsberater Bernd Förtsch hält von den rund 350 Unternehmen am Neuen Markt "bestenfalls 100" für überlebensfähig. Er plädiert für ein Drittsegment am Neuen Markt, "in das Aktien zwischen 3 und 5 Euro abgeschoben werden können".
Kein Interesse mehr
Zusammen mit den Großanlegern verlieren auch die Analysten das Interesse. Firmen, über die zu Hochzeiten monatlich neue Reports vorgelegt wurden, werden heute kaum noch beobachtet. Insbesondere Firmen außerhalb des Nemax 50 haben es extrem schwer. "Die sind vom Radar der Analysten verschwunden", sagt Commerzbank-Stratege Elgeti. Wozu sollten die Researchabteilungen teure Berichte über Unternehmen verfassen, deren Aktien ohnehin niemand kaufen will?
Die Frankfurter Analystenfirma Independent Research (IR) schmückte sich noch bis vor kurzem mit dem Anspruch, den gesamten Neuen Markt zu verfolgen. Inzwischen hat IR den Aufwand dafür massiv zurückgefahren. Wer neu im Team anfängt, muss sich bei Smax und M-Dax-Werten auskennen. "Statt 300 Unternehmen beobachten wir nur noch 150 intensiv", sagt IR-Geschäftsführer Pierre Drach. Intern tragen diese Aktien die Kategorien A und B. Der Rest trägt den Buchstaben "C", und der steht bei Independent Research für "Zockerwert".
Seit Freitag eignet sich auch Kabel New Media bestens zum Zocken. Der Wert schloss nach Verlusten von 50 Prozent bei 50 Cent . Und wenn man Unternehmenssprecherin Caroline Götz glaubt, ist jede Menge Phantasie drin: Der Nachrichtenagentur Reuters versicherte sie, Kabel New Media halte weiter an dem Ziel fest, zum Ende des Geschäftsjahres die Gewinnzone zu erreichen.