Du hast ja recht mit Deinen Argumenten: Die aktuelle Situation ist sehr schwierig, und möglicherweise geht es noch weiter bergab.
Aber wie verhält sich denn die Börse seit Jahrhunderten? - Sie dreht, wenn niemand es erwartet. So war es auch im Frühjahr 2000: Monatelang nach den Höchstkursen waren die Wirtschaftsdaten noch erstklassig. Die Masse der Anleger ging von einer kurzfristigen Korrektur aus, erwartete anschließend aber weiter steigende Kurse. Es wurde also der Fehler gemacht, die Entwicklung der vergangenen Jahre gedanklich in die Zukunft fortzuschreiben. Die Leute waren weiterhin optimistisch für Aktien, weil in den Jahren zuvor auf eine Korrektur immer wieder neue Höchstkurse folgten. Die abnorme Bewertung hat nur wenige irritiert.
Ich weiß, dass diese Argumentation in den letzten beiden Jahren schon häufiger in ähnlicher Weise gebracht wurde. Was ist aber heute anders?
Schauen wir uns dazu zunächst mal die jüngste Erholungsrallye an: Ich habe den Eindruck, dass in erster Linie die Aktien mit hohen Umsätzen - also eher die Unternehmen mit hoher Marktkapitalisierung - gestiegen sind. Das führe ich darauf zurück, dass Short Seller sich eindecken mussten. (Ich gehe davon aus, dass Short Seller sich auf Aktien mit hohem Handelsvolumen konzentrieren.)
Kleinere Unternehmen sind eher vernachlässigt worden, was für mich wiederum heißt: Die Stimmung ist nach wie vor pessimistisch, und die Erholung der letzten Tage hat die Investoren nicht aus der Reserve gelockt, also nicht zu Käufen animiert. In der Vergangenheit war es aber schon häufig so, dass sich mit steigenden Kursen sehr schnell großer Optimismus breitgemacht hat ("das Schlimmste haben wir hinter uns"). Diesmal scheint es anders zu sein; darauf deuten auch die vielen skeptischen Kommentare hier bei Ariva hin. Die meisten Leute gehen also von einer Fortsetzung der Baisse aus, einerseits aufgrund der Jahreszeit, andererseits aufgrund der aktuellen Wirtschaftsdaten.
Hinzu kommt die fundamentale Bewertung einiger Branchen. So kann man aktuelle viele Biotech-Aktien fast zu ihrem Buchwert erwerben. Einige notieren nur leicht oberhalb ihrer Cash-Reserven (MLNM, MEDX, ABGX). (Angaben ohne Gewähr :-)
All diese Dinge werden zur Zeit gern ignoriert, was mich persönlich einfach optimistisch stimmt. Ich gehe davon aus, dass die US-Wirtschaft sich langsam erholt, und die Börse wird dies vorwegnehmen (allerdings mit einer Seitwärts- oder eine gemächlichen Aufwärtsbewegung).
Noch einige Worte zu meiner persönlichen Anlagestrategie:
Ich investiere hauptsächlich in US-Werten. Daher interessiert mich vor allem die Entwicklung in den USA, was für Deutschland ja auch nicht verkehrt ist, da wir uns häufig dem US-Trend anschließen.
Außerdem denke ich, dass wir den Höhepunkt der Technologiewelle erreicht haben. Soll heißen: Die EDV wird in den kommenden 20 Jahren nicht mehr die große Lokomotive sein. Dort werden deutlich weniger Arbeitsplätze entstehen als in der Vergangenheit. Auch die Entwicklung der Aktienkurse der großen AGs wird nicht mehr so dynamisch verlaufen. Daher besitze ich keine einzige Aktie von Unternehmen wie Oracle, Sun, Cisco, IBM, Microsoft etc. Auch Telekom-Titel meide ich grundsätzlich.
Selbstverständlich wird die EDV weiterhin eine sehr wichtige Branche sein. Nehmen wir als Beispiel die Automobilindustrie: Mit Automobilaktien ist schon seit vielen Jahren nicht besonders gut Geld zu verdienen. Trotzdem ist die Industrie für die Wirtschaft sehr wichtig. Dort sind viele Menschen beschäftigt, und PKWs bestimmen das Gesicht unserer Städte immer mehr. Aber als Geldanlage sind Automobilaktien eher ungeeignet. Eine ähnliche Entwicklung erwarte ich für den Tech-Sektor, denn die Markteintrittsbarrieren sind gering. EDV/Technologie ist Alltag und nichts Besonderes mehr. (Ausnahme sind kleine Unternehmen, die in Nischen Marktführer sind.)
Ich gehe weiterhin davon aus, dass die US-Unternehmen viel flexibler als europäische Unternehmen sind, wenn es um Kosteneinsparungen geht (allein wegen der Flexibilität beim Personalabbau). Daher werden die Gewinne wieder steigen, und zwar schneller und deutlicher als es in der jetzigen Stimmung erwartet wird. Die Kurse werden also, so meine persönliche Einschätzung, nicht weiter einbrechen - und zwar auch dann nicht, wenn die Ergebnisse des 3. Quartals eher schlecht ausfallen werden.
Jemand schrieb hier bei Ariva vor einigen Tagen, dass die US-Companys das 3. Quartal wohl nutzen würden, um alles Negative in die Zahlen hineinzupacken (aufgrund der neuen Rechtsprechung). Auch ich kann mir dies vorstellen, und zwar sogar grundsätzlich: Die negative Stimmung macht es leichter, negative Zahlen zu veröffentlichen, weil man damit aktuell nicht negativ aus der Masse herausragt. Beispielsweise dürften Goodwill-Abschreibung den Managern aktuell nicht besonders schwerfallen, denke ich.
Um nochmal oben anzuknüpfen: Auf Technologiewerte setze ich also nicht. Stattdessen z.B. auf Biotech-Werte, u.a. weil deren Entwicklung relativ unabhängig von der allgemeinen Konjunktur laufen sollte.
Für die Indizes (Dow, Nasdaq) gehe ich für die nächsten Jahre eher von einer Seitwärtsbewegung aus: Die Kurse der großen Gesellschaft, die die Indizes dominieren, erholen sich lediglich leicht, stoßen aber nicht mehr in die alten Dimensionen vor. Die Kurse der gesunden (!) kleineren Unternehmen gehen stärker hoch. Die Stimmung wird verhalten bleiben, weil die Masse der Anleger auf die Indices und auf die alten (Tech-)Favoriten schaut. Erst wenn klar wird, dass andere Branchen das Wirtschaftsgeschehen stärker bestimmen als in der Vergangenheit, wird die Masse der Anleger auf die betroffenen Aktien aufmerksam - deren Kurse werden dann aber viel höher stehen. Noch einige Beispiele für kleine US-Biotechs, die meinen Infos zufolge an der Gewinnschwelle stehen: LGND, VLGC, LIFC; evtl. ILXO.
So, das war's jetzt erst mal. Soviel wollte ich eigentlich gar nicht schreiben. Hast Du Dir tatsächlich alles durchgelesen?
Ich gestehe ein, dass in obiger "Analyse" auch eine ordentliche Portion Zweckoptimismus enthalten ist. Wird dieser mir zum Verhängnis?
Gruß
Kalle