Ehrlich streiten über Kernenergie
Letzter Teil: Ist der Ausstieg aus der Kernenergie moralisch vertretbar?
Von Dr. Helmut Böttiger
1999 schrieb Prof. Dr. Ing. D. Schwarz aus seinem Privatvermögen für denjenigen einen Preis von 100000 DM aus, der den Nachweis erbringen kann, daß der Ausstieg aus der Kernenergie ethisch zu fordern oder auch nur zu verantworten sei. In seinem Schreiben an zahlreiche bekannte Kernkraftgegner erläuterte er sein Vorhaben: "Es gibt viele Atomkraftgegner, darunter auch viele, die ihre Haltung für ethisch gerechtfertigt halten. Die meisten weigern sich aber, diese Auffassung gegen begründete Kritik zu verteidigen." Bis zu seinem kürzlichen Unfalltod hat sich bei Prof. Schwarz niemand um das nach eindeutigen Kriterien ausgeschriebene Preisgeld beworben.
In Erinnerung an Prof. Schwarz soll hier der Nachweis der ethischen Vertretbarkeit oder Nichtvertretbarkeit der Kernenergie auf drei Ebenen erörtert werden. Als erster ethischer Maßstab wäre die praktische Gerechtigkeit zu nennen, nämlich die Forderung, allen Menschen einer Generation, aber auch den folgenden Generationen, auf Dauer die Voraussetzungen einer menschenwürdigen Existenz zu sichern. Dazu gehören die Versorgung mit Gütern, aber auch die Wahrung des Friedens, wenn wachsender Streit um die knapper werdenden Nahrungsmittel und Süßwasservorräte droht. Die zweite Ebene betrifft den Schutz der Natur vor Mißbrauch und die Förderung und Besserung der Biosphäre, in der die Menschen leben. Die dritte Ebene hat etwas mit der Kultur des Menschen zu tun und ließe sich als Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze und Betätigungsmöglichkeiten der Menschen verstehen, durch die sie ihrem Leben Inhalt, Sinn und Wert verleihen können. Der Maßstab wäre die Frage, ob man durch den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie den angesprochenen Zielen näher kommt oder sich vielmehr von ihnen entfernt.
Praktische Gerechtigkeit
Vor langer Zeit, nämlich auf ihrem Parteitag 1956 in München, forderte die SPD die rasche Entwicklung der friedlichen Nutzung der Kernenergie als objektive Voraussetzung für die Überwindung von Not und Elend besonders in den unterentwickelten Ländern.
Der Zusammenhang von Entwicklung und Energieverbrauch ist nicht zu leugnen. So berichtete die Financial Times Deutschland am 22. Januar 2003, daß China auf der Suche nach neuen Lieferquellen für den wachsenden Rohölbedarf des Landes zunehmend Rückschläge erlebt. Das Land war bis 1990 autark und muß als Folge seines Aufbauprogramms, das seiner riesigen Bevölkerung eine bisher nur geringfügig bessere Grundversorgung sichern half, inzwischen ein Drittel seines Rohölbedarfs importieren.
Die steigende Nachfrage nach Öl, Kohle und Gas treibt zweifellos die Ölpreise auf den Weltmärkten hoch. Außerdem wird in den kommenden zehn Jahren bei den größten, bequem zugänglichen Ölgebieten der Scheitelpunkt der Förderkapazität überschritten sein. Man wird dann weniger leicht zugängliche Ölreserven erschließen müssen. Auch das dürfte die Preise für Rohöl weiter steigen lassen.
Steigende Rohölpreise machen vor allem armen Ländern zu schaffen, die auf Erdölimporte angewiesen sind. In diesen Ländern ist schon heute das Überlebensrisiko der Bevölkerung um Größenordnungen höher als das Risiko, das von Kernkraftwerken einfacher Bauart mit geringem Sicherheitsstandard ausgeht. Nach Angaben der UNO leiden 800 Millionen Arme in der Welt Hunger. Rund 200 Millionen Kinder haben infolge der Unterernährung und Unterversorgung bleibende, geistige und körperliche Schäden erlitten, und jährlich sterben etwa 30 Millionen Menschen vorzeitig an den Folgen der Not - die Hälfte von ihnen bereits im Kindesalter. Auf rund eine Milliarde schätzt die UNO die Zahl der Menschen, die als Folge der Not und sich verschlechternder Umweltbedingungen umsiedeln müssen.
Das Fehlen oder die Unerschwinglichkeit von Energie ist sicherlich nur ein Grund neben anderen für die wachsende Not, aber es ist auch offensichtlich, daß die zur Behebung der Not erforderlichen Versorgungsgüter bei allen anderen günstigen Reformen nicht ohne Energie hergestellt werden können.
Wird der Energiepreis angehoben oder sein Anstieg in Kauf genommen, dann werden diese Völker "unter Lebensbedingungen gestellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen". Genau so definiert unser Strafgesetzbuch (Par. 220a, Ziffer 3) Völkermord. Natürlich bilden die Energiekosten neben Auflagen des IWF und gezielter Spekulationsoperationen nur einen Faktor bei der Verelendung der Völker. Die Anhebung der Energiekosten durch den Ausstieg aus der Kernenergie ist aber mindestens eine - ebenfalls strafbare - "Beihilfe zum Völkermord".
Friedenssicherung
Der augenblickliche Irakkrieg ist sicherlich nicht nur ein Raubkrieg ums knapper werdende Öl. Doch spielt die Kontrolle der Energiereserven auch eine wichtige Rolle im Bestreben, die Macht über die Welt auszuweiten und diese Kontrolle zu verfestigen. Energie ist für eine Gesellschaft das, was die Nahrung für den einzelnen Menschen ist. Wer die entsprechende Versorgung kontrolliert, kann den einzelnen oder Gesellschaften auch ein bestimmtes Verhalten abpressen. Was aber ist Machtausübung anderes als die Nötigung, sich so zu verhalten, wie es der Machtausübende wünscht? Der Ausstieg aus der Kernenergie wird diese Art der Machtausübung und Erpreßbarkeit national wie auch international deutlich verstärken.
Die Rolle der Kernenergie ist in diesem Zusammenhang sogar besonders wichtig. Die hohe Energiedichte in den nuklearen Brennstoffen und der relativ geringe Anteil der direkten Brennstoffkosten bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie ermöglicht es - anders als im Fall von Öl, Kohle und Gas - auch kleineren Nationen, sich auf engem Raum relativ große Energievorräte anzulegen und sich so gegen derartige Erpressungsversuche zu schützen.
Der Ausstieg aus der Kernenergie verknappt nicht nur die verfügbaren Energiereserven mit entsprechendem Preisanstieg, sondern macht als Folge der Knappheit auch Verteilungskämpfe um die Ressourcen wahrscheinlicher. Das gilt vor allem auch für Wasser. Denn ein Blick auf die Erdkarte zeigt, daß es auf der Erde keineswegs an Wasser fehlt, wohl aber an Energie, um das reichlich vorhandene Wasser in einen für den Menschen und seine Landwirtschaft genießbaren und verwendungsfähigen Zustand zu bringen und es an die Stellen zu leiten, an denen es besonders dringend benötigt wird.
Das gleiche gilt auch für andere Rohstoffe aller Art: In einem Kubikkilometer normalen Erdreichs sind alle Rohstoffe und Materialien enthalten, welche die Menschheit benötigt. Die noch vorherrschende Energieknappheit ist der einzige Grund, weshalb immer noch nach Lagerstätten Ausschau gehalten wird, in denen einzelne Stoffe in besonders hoher Konzentration vorhanden sind. Ein systematisches Rohstoffmanagement, dem eine sehr hohe Energiedichte zur Verfügung stünde, könnte mit höherer Energieeffizienz die Rohstoffbeschaffung aus normalem Oberflächengestein bewältigen. Die dafür benötigte Energiequelle steht spätestens mit der Beherrschung der Kernfusion zur Verfügung. Damit nämlich ließe sich dieses Gestein in Plasma umwandeln und in die einzelnen Elemente auftrennen.
Umweltschutz
Der Ausstieg aus der Kernenergie verhindert auch einen wirksamen, wirklichen Umweltschutz und ein entsprechendes, möglichst vollständiges Recycling aller Abfallstoffe. Der Grund, warum das so ist, ließe sich zwar leicht einsehen, wird aber von den wenigsten Kernkraftgegnern durchdacht.
Alle Umweltprobleme gehen im Grunde auf zwei Problemarten zurück: Zum einen entstehen durch menschliche Eingriffe im Zuge der Güterproduktion oder ihrer Verwendung chemische Verbindungen (Abfälle), die sich nicht weiter verwenden lassen. Zum anderen sammeln sich solche Moleküle in der Umwelt an, bis sie einen schädlichen Dosiswert erreichen oder überschreiten.
Wenn man nun bedenkt, daß alle Stoffe dieser Erde aus molekularen Verbindungen der nur rund 80 verschiedenen Elemente bestehen, dann wird deutlich, daß sich alle lästigen oder gefährlichen chemischen Verbindungen in ihre Bestandteile - nämlich diese Elemente - zerlegen lassen. Sie können im Gegenzug dann wieder zu den gewünschten Verbindungen zusammengebracht werden, die als Werkstoffe einen hohen Gebrauchswert haben. Hinzu kommt die Einsicht, daß stofflich gesehen die Erde ein weitgehend geschlossenes System ist. Das heißt, Stoffe können im nennenswerten Umfang weder von außen hinzukommen noch nach außen abgegeben werden. Wenn Umweltprobleme auftreten, dann muß es an der Verteilung der Stoffe liegen.
Der Schlüssel, um beide mögliche Mißstände - die Ansammlung gefährlicher Stoffe oder das Verschwinden benötigter Stoffe an bestimmten Stellen der Erdoberfläche - zu beheben, ist die Verfügbarkeit über Energie. Mit ihrer Hilfe lassen sich gefährliche oder nicht mehr benötigte chemische Verbindungen wieder in ihre Bestandteile zerlegen, um daraus nützliche Stoffe zu bilden und verhindern, daß sich schädliche Stoffe in einem nicht gewünschten Grad anreichern.
Die Spaltung der Moleküle in ihre Elemente, um daraus nützliche chemische Verbindungen zu machen, ist jedoch erst wirtschaftlich machbar, wenn eine andere, wesentlich dichtere Energiequelle als die der chemischen Bindungskräfte zur Verfügung steht. Nur weil diese nicht in geeigneter Menge und zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten zur Verfügung steht, bleiben Abfälle liegen. Erst die millionenfach dichteren Kernbindungskräfte machen es sinnvoll, damit die entsprechend weniger festen molekularen Verbindungen aufzubrechen und deren Bestandteile neu zu verfügen.
Die dazu benötigte hohe Energiedichte läßt erkennen, warum der oft vorgetragene Hinweis auf die reichlich auf die Erde eingestrahlte Sonnenenergie keinen Ausweg aus der Energieknappheit bietet. Diese Energieform hat den Nachteil, daß sie nur halbtags zur Verfügung steht und außerdem jeweils über die Hälfte der Erdoberfläche verteilt ist. Der eigentliche Aufwand besteht darin, diese Energie einzusammeln und zu verdichten. Das gleiche, was für Walderdbeeren gilt, trifft auch auf die Sonnenenergie zu. Obwohl diese im Wald kostenlos zur Verfügung stehen, erzielen sie auf dem Wochenmarkt hohe Preise.
Ähnlich bestehen die eigentlichen Kosten der Sonnenenergie im Sammeln und Verdichten dieser Energieform. Diese Tätigkeit und die dazu erforderlichen Anlagen verschlingen mehr Energie, als mit ihnen an nutzbarer Energie schließlich gewonnen wird. In Geld ausgedrückt wird das klarer: Wer eine Energieanlage für hundert Euro kauft, um dann in Centbeträgen Energie zu erzeugen, und schließlich, wenn die Anlage verbraucht ist und verschrottet werden muß, gerade 80 Euro zurückgewonnen hat, der hat ein schlechtes Geschäft gemacht. Höhere Energiepreise mildern dieses Mißverhältnis nicht, sondern verschärfen es noch. Müßten die Solaranlagen schließlich selbst mit Hilfe der Solarenergie hergestellt werden, wird der trügerische Charakter der Hoffnung auf diese Energiequelle vollends offensichtlich.
Fortschritt und menschliche Zivilisation
Not - vor allem die unnötig verlängerte und sinnlos beibehaltene - lenkt uns von uns selbst ab und von der Herausforderung an uns, "wesentlich" zu werden, so wie es dem Wesen des Menschen entspricht. Der Mensch ist erwiesenermaßen aber das Wesen, das sich - anders als Tiere - selbst entwickeln, über sich selbst hinauswachsen kann. Es ist den Menschen "eigentümlich", daß wir durch unseren ureigenen Beitrag, den jeder einzelne einzigartig zur Besserung der Lebensumstände unserer Mitmenschen oder der Biosphäre insgesamt beitragen kann und will, erst wir selbst werden.
Ein solcher eigener, schöpferischer Beitrag für andere - und sei es nur der geglückte Versuch, in traurigen Augen wieder den Schimmer von Freude zu wecken - oder für die Allgemeinheit ist das einzige wirkliche "Eigentum", das wir uns im Unterschied zu unwesentlichem Besitz erwerben können. Kreativität, Weiterentwicklung ist aber, religiös ausgedrückt, immer verbunden mit dem Tod des alten und der Neugeburt des "neuen" Menschen. Wo werden größere Ängste frei als in diesem wesentlichen Zusammenhang des Menschseins?
Es wird behauptet, Technik habe mit Moral nichts zu tun, es käme nur darauf an, was der Mensch mit seinen technischen Möglichkeiten anfängt. Das mag in den meisten Fällen stimmen, trifft aber nicht auf die Ablehnung oder gar Verhinderung technischer Möglichkeiten zu, welche die Menschen von materiellem Mangel und Not befreien könnten - durch deren Verhinderung anderen eine menschenwürdigere Existenz oder der sog. "Überbevölkerung" sogar die nackte Existenz verweigert wird. Eine solche Ablehnung ist eine grundlegende Frage der Moral. Ist es doch kaum verwerflicher, einen Menschen zu erschlagen, als ihn durch aufgezwungene Lebensumstände - wie es heute weltweit aus politischen und wirtschaftlichen und angeblichen umweltbedingten Gründen geschieht - verhungern zu lassen oder dies doch wenigstens billigend in Kauf zu nehmen.
Es wird ohne die Nutzung der Kerntechnik in Zukunft weder eine Industriegesellschaft noch eine menschenwürdige Zivilisation geben. Der Mensch bleibt in gewisser Weise noch menschlich, wenn es ihm die materiellen Umstände nicht erlauben, sich zu entwickeln. Wenn er sich aus Faulheit oder Schlechtigkeit selbst aber der Entwicklungsmöglichkeit beraubt, wird er mit Sicherheit unmenschlich und sinkt noch unter die Stufe des "bewußtlos unschuldigen" Tiers.
Die Frage der Kernenergie - nicht nur der Kernspaltung, von der hier die Rede war, sondern mehr noch der Kernfusion, der Materie-Antimaterie-Reaktion und anderer Energie freisetzender Kernreaktionen - ist aus diesem Grunde eine Schicksalsfrage der Menschheit. Und das macht sie neben all den wissenschaftlichen und technischen Fragen, die im Zusammenhang mit der Verwendung der Kernenergie zu lösen sind, zu einer Frage der Moral. Die Kernenergie zu meistern, ist nicht nur eine technische, auch nicht nur eine politische, sondern vor allem eine menschliche Aufgabe.
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gruß
proxi
Letzter Teil: Ist der Ausstieg aus der Kernenergie moralisch vertretbar?
Von Dr. Helmut Böttiger
1999 schrieb Prof. Dr. Ing. D. Schwarz aus seinem Privatvermögen für denjenigen einen Preis von 100000 DM aus, der den Nachweis erbringen kann, daß der Ausstieg aus der Kernenergie ethisch zu fordern oder auch nur zu verantworten sei. In seinem Schreiben an zahlreiche bekannte Kernkraftgegner erläuterte er sein Vorhaben: "Es gibt viele Atomkraftgegner, darunter auch viele, die ihre Haltung für ethisch gerechtfertigt halten. Die meisten weigern sich aber, diese Auffassung gegen begründete Kritik zu verteidigen." Bis zu seinem kürzlichen Unfalltod hat sich bei Prof. Schwarz niemand um das nach eindeutigen Kriterien ausgeschriebene Preisgeld beworben.
In Erinnerung an Prof. Schwarz soll hier der Nachweis der ethischen Vertretbarkeit oder Nichtvertretbarkeit der Kernenergie auf drei Ebenen erörtert werden. Als erster ethischer Maßstab wäre die praktische Gerechtigkeit zu nennen, nämlich die Forderung, allen Menschen einer Generation, aber auch den folgenden Generationen, auf Dauer die Voraussetzungen einer menschenwürdigen Existenz zu sichern. Dazu gehören die Versorgung mit Gütern, aber auch die Wahrung des Friedens, wenn wachsender Streit um die knapper werdenden Nahrungsmittel und Süßwasservorräte droht. Die zweite Ebene betrifft den Schutz der Natur vor Mißbrauch und die Förderung und Besserung der Biosphäre, in der die Menschen leben. Die dritte Ebene hat etwas mit der Kultur des Menschen zu tun und ließe sich als Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze und Betätigungsmöglichkeiten der Menschen verstehen, durch die sie ihrem Leben Inhalt, Sinn und Wert verleihen können. Der Maßstab wäre die Frage, ob man durch den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie den angesprochenen Zielen näher kommt oder sich vielmehr von ihnen entfernt.
Praktische Gerechtigkeit
Vor langer Zeit, nämlich auf ihrem Parteitag 1956 in München, forderte die SPD die rasche Entwicklung der friedlichen Nutzung der Kernenergie als objektive Voraussetzung für die Überwindung von Not und Elend besonders in den unterentwickelten Ländern.
Der Zusammenhang von Entwicklung und Energieverbrauch ist nicht zu leugnen. So berichtete die Financial Times Deutschland am 22. Januar 2003, daß China auf der Suche nach neuen Lieferquellen für den wachsenden Rohölbedarf des Landes zunehmend Rückschläge erlebt. Das Land war bis 1990 autark und muß als Folge seines Aufbauprogramms, das seiner riesigen Bevölkerung eine bisher nur geringfügig bessere Grundversorgung sichern half, inzwischen ein Drittel seines Rohölbedarfs importieren.
Die steigende Nachfrage nach Öl, Kohle und Gas treibt zweifellos die Ölpreise auf den Weltmärkten hoch. Außerdem wird in den kommenden zehn Jahren bei den größten, bequem zugänglichen Ölgebieten der Scheitelpunkt der Förderkapazität überschritten sein. Man wird dann weniger leicht zugängliche Ölreserven erschließen müssen. Auch das dürfte die Preise für Rohöl weiter steigen lassen.
Steigende Rohölpreise machen vor allem armen Ländern zu schaffen, die auf Erdölimporte angewiesen sind. In diesen Ländern ist schon heute das Überlebensrisiko der Bevölkerung um Größenordnungen höher als das Risiko, das von Kernkraftwerken einfacher Bauart mit geringem Sicherheitsstandard ausgeht. Nach Angaben der UNO leiden 800 Millionen Arme in der Welt Hunger. Rund 200 Millionen Kinder haben infolge der Unterernährung und Unterversorgung bleibende, geistige und körperliche Schäden erlitten, und jährlich sterben etwa 30 Millionen Menschen vorzeitig an den Folgen der Not - die Hälfte von ihnen bereits im Kindesalter. Auf rund eine Milliarde schätzt die UNO die Zahl der Menschen, die als Folge der Not und sich verschlechternder Umweltbedingungen umsiedeln müssen.
Das Fehlen oder die Unerschwinglichkeit von Energie ist sicherlich nur ein Grund neben anderen für die wachsende Not, aber es ist auch offensichtlich, daß die zur Behebung der Not erforderlichen Versorgungsgüter bei allen anderen günstigen Reformen nicht ohne Energie hergestellt werden können.
Wird der Energiepreis angehoben oder sein Anstieg in Kauf genommen, dann werden diese Völker "unter Lebensbedingungen gestellt, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen". Genau so definiert unser Strafgesetzbuch (Par. 220a, Ziffer 3) Völkermord. Natürlich bilden die Energiekosten neben Auflagen des IWF und gezielter Spekulationsoperationen nur einen Faktor bei der Verelendung der Völker. Die Anhebung der Energiekosten durch den Ausstieg aus der Kernenergie ist aber mindestens eine - ebenfalls strafbare - "Beihilfe zum Völkermord".
Friedenssicherung
Der augenblickliche Irakkrieg ist sicherlich nicht nur ein Raubkrieg ums knapper werdende Öl. Doch spielt die Kontrolle der Energiereserven auch eine wichtige Rolle im Bestreben, die Macht über die Welt auszuweiten und diese Kontrolle zu verfestigen. Energie ist für eine Gesellschaft das, was die Nahrung für den einzelnen Menschen ist. Wer die entsprechende Versorgung kontrolliert, kann den einzelnen oder Gesellschaften auch ein bestimmtes Verhalten abpressen. Was aber ist Machtausübung anderes als die Nötigung, sich so zu verhalten, wie es der Machtausübende wünscht? Der Ausstieg aus der Kernenergie wird diese Art der Machtausübung und Erpreßbarkeit national wie auch international deutlich verstärken.
Die Rolle der Kernenergie ist in diesem Zusammenhang sogar besonders wichtig. Die hohe Energiedichte in den nuklearen Brennstoffen und der relativ geringe Anteil der direkten Brennstoffkosten bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie ermöglicht es - anders als im Fall von Öl, Kohle und Gas - auch kleineren Nationen, sich auf engem Raum relativ große Energievorräte anzulegen und sich so gegen derartige Erpressungsversuche zu schützen.
Der Ausstieg aus der Kernenergie verknappt nicht nur die verfügbaren Energiereserven mit entsprechendem Preisanstieg, sondern macht als Folge der Knappheit auch Verteilungskämpfe um die Ressourcen wahrscheinlicher. Das gilt vor allem auch für Wasser. Denn ein Blick auf die Erdkarte zeigt, daß es auf der Erde keineswegs an Wasser fehlt, wohl aber an Energie, um das reichlich vorhandene Wasser in einen für den Menschen und seine Landwirtschaft genießbaren und verwendungsfähigen Zustand zu bringen und es an die Stellen zu leiten, an denen es besonders dringend benötigt wird.
Das gleiche gilt auch für andere Rohstoffe aller Art: In einem Kubikkilometer normalen Erdreichs sind alle Rohstoffe und Materialien enthalten, welche die Menschheit benötigt. Die noch vorherrschende Energieknappheit ist der einzige Grund, weshalb immer noch nach Lagerstätten Ausschau gehalten wird, in denen einzelne Stoffe in besonders hoher Konzentration vorhanden sind. Ein systematisches Rohstoffmanagement, dem eine sehr hohe Energiedichte zur Verfügung stünde, könnte mit höherer Energieeffizienz die Rohstoffbeschaffung aus normalem Oberflächengestein bewältigen. Die dafür benötigte Energiequelle steht spätestens mit der Beherrschung der Kernfusion zur Verfügung. Damit nämlich ließe sich dieses Gestein in Plasma umwandeln und in die einzelnen Elemente auftrennen.
Umweltschutz
Der Ausstieg aus der Kernenergie verhindert auch einen wirksamen, wirklichen Umweltschutz und ein entsprechendes, möglichst vollständiges Recycling aller Abfallstoffe. Der Grund, warum das so ist, ließe sich zwar leicht einsehen, wird aber von den wenigsten Kernkraftgegnern durchdacht.
Alle Umweltprobleme gehen im Grunde auf zwei Problemarten zurück: Zum einen entstehen durch menschliche Eingriffe im Zuge der Güterproduktion oder ihrer Verwendung chemische Verbindungen (Abfälle), die sich nicht weiter verwenden lassen. Zum anderen sammeln sich solche Moleküle in der Umwelt an, bis sie einen schädlichen Dosiswert erreichen oder überschreiten.
Wenn man nun bedenkt, daß alle Stoffe dieser Erde aus molekularen Verbindungen der nur rund 80 verschiedenen Elemente bestehen, dann wird deutlich, daß sich alle lästigen oder gefährlichen chemischen Verbindungen in ihre Bestandteile - nämlich diese Elemente - zerlegen lassen. Sie können im Gegenzug dann wieder zu den gewünschten Verbindungen zusammengebracht werden, die als Werkstoffe einen hohen Gebrauchswert haben. Hinzu kommt die Einsicht, daß stofflich gesehen die Erde ein weitgehend geschlossenes System ist. Das heißt, Stoffe können im nennenswerten Umfang weder von außen hinzukommen noch nach außen abgegeben werden. Wenn Umweltprobleme auftreten, dann muß es an der Verteilung der Stoffe liegen.
Der Schlüssel, um beide mögliche Mißstände - die Ansammlung gefährlicher Stoffe oder das Verschwinden benötigter Stoffe an bestimmten Stellen der Erdoberfläche - zu beheben, ist die Verfügbarkeit über Energie. Mit ihrer Hilfe lassen sich gefährliche oder nicht mehr benötigte chemische Verbindungen wieder in ihre Bestandteile zerlegen, um daraus nützliche Stoffe zu bilden und verhindern, daß sich schädliche Stoffe in einem nicht gewünschten Grad anreichern.
Die Spaltung der Moleküle in ihre Elemente, um daraus nützliche chemische Verbindungen zu machen, ist jedoch erst wirtschaftlich machbar, wenn eine andere, wesentlich dichtere Energiequelle als die der chemischen Bindungskräfte zur Verfügung steht. Nur weil diese nicht in geeigneter Menge und zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten zur Verfügung steht, bleiben Abfälle liegen. Erst die millionenfach dichteren Kernbindungskräfte machen es sinnvoll, damit die entsprechend weniger festen molekularen Verbindungen aufzubrechen und deren Bestandteile neu zu verfügen.
Die dazu benötigte hohe Energiedichte läßt erkennen, warum der oft vorgetragene Hinweis auf die reichlich auf die Erde eingestrahlte Sonnenenergie keinen Ausweg aus der Energieknappheit bietet. Diese Energieform hat den Nachteil, daß sie nur halbtags zur Verfügung steht und außerdem jeweils über die Hälfte der Erdoberfläche verteilt ist. Der eigentliche Aufwand besteht darin, diese Energie einzusammeln und zu verdichten. Das gleiche, was für Walderdbeeren gilt, trifft auch auf die Sonnenenergie zu. Obwohl diese im Wald kostenlos zur Verfügung stehen, erzielen sie auf dem Wochenmarkt hohe Preise.
Ähnlich bestehen die eigentlichen Kosten der Sonnenenergie im Sammeln und Verdichten dieser Energieform. Diese Tätigkeit und die dazu erforderlichen Anlagen verschlingen mehr Energie, als mit ihnen an nutzbarer Energie schließlich gewonnen wird. In Geld ausgedrückt wird das klarer: Wer eine Energieanlage für hundert Euro kauft, um dann in Centbeträgen Energie zu erzeugen, und schließlich, wenn die Anlage verbraucht ist und verschrottet werden muß, gerade 80 Euro zurückgewonnen hat, der hat ein schlechtes Geschäft gemacht. Höhere Energiepreise mildern dieses Mißverhältnis nicht, sondern verschärfen es noch. Müßten die Solaranlagen schließlich selbst mit Hilfe der Solarenergie hergestellt werden, wird der trügerische Charakter der Hoffnung auf diese Energiequelle vollends offensichtlich.
Fortschritt und menschliche Zivilisation
Not - vor allem die unnötig verlängerte und sinnlos beibehaltene - lenkt uns von uns selbst ab und von der Herausforderung an uns, "wesentlich" zu werden, so wie es dem Wesen des Menschen entspricht. Der Mensch ist erwiesenermaßen aber das Wesen, das sich - anders als Tiere - selbst entwickeln, über sich selbst hinauswachsen kann. Es ist den Menschen "eigentümlich", daß wir durch unseren ureigenen Beitrag, den jeder einzelne einzigartig zur Besserung der Lebensumstände unserer Mitmenschen oder der Biosphäre insgesamt beitragen kann und will, erst wir selbst werden.
Ein solcher eigener, schöpferischer Beitrag für andere - und sei es nur der geglückte Versuch, in traurigen Augen wieder den Schimmer von Freude zu wecken - oder für die Allgemeinheit ist das einzige wirkliche "Eigentum", das wir uns im Unterschied zu unwesentlichem Besitz erwerben können. Kreativität, Weiterentwicklung ist aber, religiös ausgedrückt, immer verbunden mit dem Tod des alten und der Neugeburt des "neuen" Menschen. Wo werden größere Ängste frei als in diesem wesentlichen Zusammenhang des Menschseins?
Es wird behauptet, Technik habe mit Moral nichts zu tun, es käme nur darauf an, was der Mensch mit seinen technischen Möglichkeiten anfängt. Das mag in den meisten Fällen stimmen, trifft aber nicht auf die Ablehnung oder gar Verhinderung technischer Möglichkeiten zu, welche die Menschen von materiellem Mangel und Not befreien könnten - durch deren Verhinderung anderen eine menschenwürdigere Existenz oder der sog. "Überbevölkerung" sogar die nackte Existenz verweigert wird. Eine solche Ablehnung ist eine grundlegende Frage der Moral. Ist es doch kaum verwerflicher, einen Menschen zu erschlagen, als ihn durch aufgezwungene Lebensumstände - wie es heute weltweit aus politischen und wirtschaftlichen und angeblichen umweltbedingten Gründen geschieht - verhungern zu lassen oder dies doch wenigstens billigend in Kauf zu nehmen.
Es wird ohne die Nutzung der Kerntechnik in Zukunft weder eine Industriegesellschaft noch eine menschenwürdige Zivilisation geben. Der Mensch bleibt in gewisser Weise noch menschlich, wenn es ihm die materiellen Umstände nicht erlauben, sich zu entwickeln. Wenn er sich aus Faulheit oder Schlechtigkeit selbst aber der Entwicklungsmöglichkeit beraubt, wird er mit Sicherheit unmenschlich und sinkt noch unter die Stufe des "bewußtlos unschuldigen" Tiers.
Die Frage der Kernenergie - nicht nur der Kernspaltung, von der hier die Rede war, sondern mehr noch der Kernfusion, der Materie-Antimaterie-Reaktion und anderer Energie freisetzender Kernreaktionen - ist aus diesem Grunde eine Schicksalsfrage der Menschheit. Und das macht sie neben all den wissenschaftlichen und technischen Fragen, die im Zusammenhang mit der Verwendung der Kernenergie zu lösen sind, zu einer Frage der Moral. Die Kernenergie zu meistern, ist nicht nur eine technische, auch nicht nur eine politische, sondern vor allem eine menschliche Aufgabe.
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