HANDELSBLATT, Dienstag, 06. Dezember 2005, 09:14 Uhr |
Anspruchsvolle Branchen blühen Indien wagt die industrielle Revolution Von Oliver Müller Als globaler Lieferant von Software und IT-Dienstleistungen hat sich Indien Land fest etabliert, nun probt Indien eine verspätete industrielle Revolution. Das Land entwickelt sich in technologieintensiven Produktionsbereichen zu einem ernsten Wettbewerber für China. NEU DELHI. Als globaler Lieferant von Software und IT-Dienstleistungen hat sich Indien Land fest etabliert, nun probt Indien eine verspätete industrielle Revolution. „Indien entwickelt sich in technologieintensiven Bereichen zum ernsten Wettbewerber Chinas“, sagt Manu Bhaskaran, Asien-Chef der Strategieberatung Centennial Group. „In wenigen Jahren werden in den USA und Europa erste Fabriken schließen, weil sie gegen seine Exporte keine Chance mehr haben.“ Indiens Warenexporte könnten in zehn Jahren von 50 auf 300 Mrd. Dollar explodieren, heißt es in einer McKinsey-Studie. Die Berater rechnen mit einer zweiten Welle der Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer, die dem Land in die Hände spielt: Nach der Abwanderung von Billig-Produkten wie Spielzeug und Textilen aus dem Westen – hauptsächlich nach China – steht für sie eine noch größere Welle bei technologieintensiver Fertigung an. Das könnte Indiens Anteil am globalen Warenhandel von einem auf 3,5 Prozent steigen. Bereits jetzt entfallen 40 Prozent seiner Produktion auf wissensintensive Fertigung. Tatsächlich blühen anspruchsvolle Branchen wie Autoteile, Feinchemie, Pharma, Elektrotechnik sowie Maschinen- und Anlagenbau auf. Sie profitieren von niedrigen Ingenieurslöhnen und Standortvorteilen bei Forschung und Entwicklung. Und das trotz diverser Hürden: So wird das Wachstum behindert von drakonischen Arbeitsgesetzen und von eklatanten Infrastrukturengpässen. Bislang kommt in Indien die Industrie nur für ein Viertel der Wirtschaftsleistung auf – in China sind es dagegen 53 Prozent. „Bei Muskelarbeit kann Indien gegen China nicht mithalten“, gibt Baba Kalyani zu, Chef von Bharat Forge, der zweitgrößte Schmiedekonzern der Welt, „aber bei Kopfarbeit hat unsere Industrie Vorteile.“ In seinem hoch technisiertem Schmiedewerk haben 70 Prozent der Mitarbeiter einen Hochschulabschluss. Die Hälfte der Produktion geht an Konzerne wie DaimlerChrysler und Toyota nach Übersee. „Ohne bessere Infrastruktur und ein lockeres Arbeitsrecht bleibt billige, arbeitsintensive Massenfertigung wie in China in Indien unmöglich“, sagt Arvind Virmani, Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts Icrier. Dass wissensintensive Industrien dauerhaft mit zehn Prozent oder mehr wachsen, prognostiziert aber auch er. Lesen Sie weiter auf Seite 2: Erweiterungsinvestitionen boomen -->Nach langer sozialistischer Gängelung und der harten Restrukturierung vieler Firmen wächst Indiens Industrie seit drei Jahren mit rund acht Prozent. Erweiterungsinvestitionen boomen und die Exporte steigen um über 20 Prozent. Ihre Ankunft auf der Weltbühne wollen die Industriellen des Landes kommenden April mit einem großen Stand auf der Hannover-Messe unterstreichen – Indien ist 2006 deren Partnerland. Bharat Forge ist kein Einzelfall. So hat der Datenspeicher-Hersteller Moser Baer gegen harte Konkurrenz aus Taiwan 20 Prozent Weltmarktanteil bei CD-Roms errungen, und Pharmafirmen wie Ranbaxy, Cipla oder Wockhard fluten den Weltmarkt mit billigen Medikamenten. Auslandsinvestoren ziehen China bei der Fertigung weiter vor, aber immer mehr bauen Indien zum zweiten Standbein auf. Ein Grund ist sein Binnenmarkt. Motorola hat gerade den Bau einer Handy-Fabrik bekannt gegeben, die den am schnellsten wachsenden Mobilfunkmarkt der Welt lokal bedienen soll. Auch Nokia investiert 150 Mill. Dollar in den Aufbau einer Produktion. LG Electronics baut eine Fabrik für 20 Mill. Handys im Jahr, von denen die Hälfte ausgeführt werden soll. Die Exporte der Südkoreaner aus Indien wachsen seit drei Jahren um 80 Prozent und sollen 2010 die Milliarden-Schwelle überschreiten. Philips hat ähnliche Pläne und Intel erwägt, sein lokales Chip-Forschungszentrum um eine Fertigung zu erweitern. Boschs Exporte aus indischen Fabriken steigen seit 2001 im Schnitt um 27 Prozent pro Jahr. Sind im kommenden Jahr Erweiterungsinvestitionen von 200 Mill. Euro beendet, soll das Tempo noch stärker anziehen. Auch ABB, Siemens und Honey-well integrieren das Land in ihren globalen Produktionsverbund. Mc-Kinsey zufolge liegen die Produktionskosten für Elektrotechnik bis 40 Prozent unter denen in Europa. Siemens etwa exportiert neben Medizintechnik zunehmend Transformer und Hochspannungsanlagen. Für Anlagenbauer ist Indien vom reinen Entwicklungszentrum bereits zur Exportdrehscheibe geworden. „Es ist für uns keine verlängerte Werkbank“, sagt der Chef von ThyssenKrupp-Technologies, Olaf Berlien, „wir liefern von dort schlüsselfertige Anlagen in alle Welt.“ STÄRKEN UND SCHWÄCHEN Ohne Atempause Seit 2003 expandiert Indiens Wirtschaft rasant und entwickelt sich zu einem neuen Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft. Trotz des hohen Ölpreises gibt es auch im dritten Boom-Jahr in Folge keine Anzeichen für eine Atempause. Die Zentralbank hat ihre Wachstumsprognose für das laufende Haushaltsjahr gerade auf sieben bis 7,5 Prozent angehoben. Viele Volkswirte sind noch optimistischer. Neuer Wachstumsmotor Neben einem dank hoher IT-Exporte seit Jahren mit acht bis neuen Prozent expandierendem Dienstleistungssektor wächst auch die Industrieproduktion im dritten Jahr in Folge stark und ist ein zweiter Wachstumsmotor geworden. Alte Wachstumsbremse Die Landwirtschaft ist wegen ihrer strukturellen Schwächen die größte Wachstumsbremse Indiens. Sie kommt für ein Fünftel der Wirtschaftsleistung auf, beschäftigt aber direkt und indirekt 600 Millionen Menschen und beeinflusst daher die Nachfrage von Fernsehern bis zu Zement und Traktoren. In den vergangenen fünf Jahren war Indiens kaum mechanisierter Ackerbau im Schnitt nur um zwei Prozent expandiert. Volkswirte erwarten für dieses Jahr eine Beschleunigung auf mehr als drei Prozent. |