KalenderBlatt
28.10.2003
Börsenkrach in Berlin - Vor 130 Jahren
Anette Schneider
28. Oktober 1873. Nach Wien, London und New York ist es nun auch in Berlin zum Börsenkrach gekommen...
Seit Anfang Oktober waren Banken zusammengebrochen, da Unternehmen ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen konnten. Eine Flut von Konkursen und Bankrotten folgte. Der Börsenkrach wurde zum Gründerkrach. Der wiederum war Teil einer zwölf Jahre währenden Weltwirtschaftskrise. - Dabei hatte alles so schön angefangen...
Die Reichsgründung von 1871 ermöglichte Unternehmen, Industrie und Banken endlich, ohne hinderliche Zollschranken zu wirtschaften. Gleichzeitig flossen Milliarden Goldfrancs an Reparationsleistungen aus Frankreich in die preußische Staatskasse, von denen ein beträchtlicher Teil in die Modernisierung der Armee sowie den Eisenbahnbau investiert wurden. In Deutschland herrschte wirtschaftliche Aufbruchstimmung.
Boom im Baugeschäft, im Eisenbahngeschäft, im Bankengeschäft. Und an der Börse.
Von allen Seiten strömen die Jünger Merkurs herbei. Sie kommen zu Fuß und zu Wagen. In Droschken zweiter und erster Klasse, auch in eigenen, oft kostbaren Equipagen, mit galonierten Kutschern und Bedienten. Es kommen die "jungen Leute", die Boten und Ausläufer; es kommen die Makler, Agenten und Banquiers. Alles drängt und flutet in das Vestibül der Börse, wo ein Portier und zwei Kontrolleure Wache halten.
Das schreibt Otto Glagau, Mitarbeiter der "Gartenlaube".
Führte die Berliner Börse eben noch ein Siebenschläfer-Dasein, wird sie nun in einem Atemzug mit den Börsen von London, Paris und New York genannt.
Kolossal!
So lautet das Modewort der Zeit.
Kolossal!
... ist das Tempo, das die wirtschaftliche Entwicklung des geeinten Deutschland vorlegt: Überall werden Familienbetriebe von "Aktiengesellschaften" abgelöst. Zumeist nach einem bestimmten Muster: Das Gründungskomitee kauft dem bisherigen Besitzer sein Unternehmen zu einem weit überhöhten Preis ab, schlägt darauf noch ein hübsches Sümmchen für Spesen und Provisionen und gibt dann so viele Aktien aus, dass das Grundkapital nicht selten doppelt und dreifach so hoch ist wie der tatsächliche Wert des Betriebes.
Damit das so weitergeht, versuchen Unternehmer wie Spekulanten, den Bürgern den Besitz von Aktien schmackhaft zu machen.
Die "kleinen Leute" und selbst die Bürger kannten noch 1870 Aktien kaum dem Namen nach, und der Kurszettel war ihnen eine Tafel mit Hieroglyphen...
...heißt es in der "Gartenlaube".
Doch dann legte sich jedes Blatt und jedes Blättchen einen Kurszettel zu, errichtete eine ständige Rubrik für Börsennachrichten und brachte täglich Reklamen für neue Gründungen und neue Aktien.
Fortan wird zur "Aktiengesellschaft", was sich mit Hilfe von Hochglanzbroschüren und prominenten Namen verkaufen lässt. Und die Zeitungen, die von dem Werbegeschäft gut leben, liefern die Berichte über sensationelle Gründungserfolge gleich mit.
Sie kamen in hellen Haufen, sie versperrten die Straße, sie belagerten das Haus. Und als die Türen endlich öffneten, quoll der Strom herein, und in einem Augenblick waren die ausliegenden Bogen mit Unterschriften bedeckt. Der eine zeichnete 100 Taler, der andere 500, der dritte 1.000, der vierte 3.000, der fünfte 10.000.
Längst haben die Aktienwerte nichts mehr mit den realen Werten zu tun. Doch es wird weitergegründet. Jeder will teilhaben am Aufschwung. Und so sind die Gewinne, die etwa der Verkauf märkischen Ackerlandes einbringt:
kolossal!
Wie all das, was für eine neureiche Klientel in der Reichshauptstadt Berlin entsteht: Einkaufspassagen nach Pariser Vorbild, Edelrestaurants, Luxushotels. Das Nachsehen haben die Massen armer Arbeiter, die eine Wohnung suchen:
Ein Heer von Direktoren und Verwaltungsräten, Bankiers und Maklern, Prokuristen und Agenten wuchs empor, die sich alle luxuriös einrichteten. Ihnen war keine Wohnung zu teuer; sie überboten sich in den Preisen, sie verdrängten die bisherigen Insassen und trieben die Mieten systematisch in die Höhe.
So berichtet der "Gartenlaube"-Autor Otto Glagau. Im Frühjahr 1873 folgt die Ernüchterung für die Spekulanten.
Nur mit Not gelang es in der "Kaiserpassage" an der Friedrichstraße die Läden zu vermieten, nachdem man die zuerst in Aussicht genommenen Mieten bedeutend herabgesetzt hatte. Die Festsäle aber blieben leer, die großen Restaurants in den oberen Etagen fanden bald keinen Pächter mehr.
Nach dem Börsenkrach m 28. Oktober 1873 entpuppen sich eben noch "flukturierende Betriebe" plötzlich als zahlungsunfähig. Schwindelfirmen - gestern noch "hoch-seriös" - verschwinden über Nacht von der Bildfläche. In wenigen Wochen müssen 61 Banken, 116 Industrienunternehmen und vier Eisenbahngesellschaften Konkurs anmelden.
Über Nacht wurde der deutsche Wortschatz um ein zweites Wort bereichert, welches jäh durch die Stadt gällte, welches viele tausende Existenzen ruinierte, welches namenloses Unglück über zahllose solide Familien brachte, welches zu einer Welle von Selbstmorden führte, und dieses Wort hieß "Krach"!
Das notiert der Berliner Schriftsteller Felix Philippi. Doch trifft der "Krach" nicht jeden. So kaufen etliche große Konzerne und Banken die angeschlagene Konkurrenz auf und gehen gestärkt aus der Spekulations- und Überproduktionskrise hervor: Die Deutsche, die Dresdner und die Commerzbank zum Beispiel werden durch sie erst richtig groß.
www.dradio.de/dlr/sendungen/kalender/195394/
Grüße
NL
28.10.2003
Börsenkrach in Berlin - Vor 130 Jahren
Anette Schneider
28. Oktober 1873. Nach Wien, London und New York ist es nun auch in Berlin zum Börsenkrach gekommen...
Seit Anfang Oktober waren Banken zusammengebrochen, da Unternehmen ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen konnten. Eine Flut von Konkursen und Bankrotten folgte. Der Börsenkrach wurde zum Gründerkrach. Der wiederum war Teil einer zwölf Jahre währenden Weltwirtschaftskrise. - Dabei hatte alles so schön angefangen...
Die Reichsgründung von 1871 ermöglichte Unternehmen, Industrie und Banken endlich, ohne hinderliche Zollschranken zu wirtschaften. Gleichzeitig flossen Milliarden Goldfrancs an Reparationsleistungen aus Frankreich in die preußische Staatskasse, von denen ein beträchtlicher Teil in die Modernisierung der Armee sowie den Eisenbahnbau investiert wurden. In Deutschland herrschte wirtschaftliche Aufbruchstimmung.
Boom im Baugeschäft, im Eisenbahngeschäft, im Bankengeschäft. Und an der Börse.
Von allen Seiten strömen die Jünger Merkurs herbei. Sie kommen zu Fuß und zu Wagen. In Droschken zweiter und erster Klasse, auch in eigenen, oft kostbaren Equipagen, mit galonierten Kutschern und Bedienten. Es kommen die "jungen Leute", die Boten und Ausläufer; es kommen die Makler, Agenten und Banquiers. Alles drängt und flutet in das Vestibül der Börse, wo ein Portier und zwei Kontrolleure Wache halten.
Das schreibt Otto Glagau, Mitarbeiter der "Gartenlaube".
Führte die Berliner Börse eben noch ein Siebenschläfer-Dasein, wird sie nun in einem Atemzug mit den Börsen von London, Paris und New York genannt.
Kolossal!
So lautet das Modewort der Zeit.
Kolossal!
... ist das Tempo, das die wirtschaftliche Entwicklung des geeinten Deutschland vorlegt: Überall werden Familienbetriebe von "Aktiengesellschaften" abgelöst. Zumeist nach einem bestimmten Muster: Das Gründungskomitee kauft dem bisherigen Besitzer sein Unternehmen zu einem weit überhöhten Preis ab, schlägt darauf noch ein hübsches Sümmchen für Spesen und Provisionen und gibt dann so viele Aktien aus, dass das Grundkapital nicht selten doppelt und dreifach so hoch ist wie der tatsächliche Wert des Betriebes.
Damit das so weitergeht, versuchen Unternehmer wie Spekulanten, den Bürgern den Besitz von Aktien schmackhaft zu machen.
Die "kleinen Leute" und selbst die Bürger kannten noch 1870 Aktien kaum dem Namen nach, und der Kurszettel war ihnen eine Tafel mit Hieroglyphen...
...heißt es in der "Gartenlaube".
Doch dann legte sich jedes Blatt und jedes Blättchen einen Kurszettel zu, errichtete eine ständige Rubrik für Börsennachrichten und brachte täglich Reklamen für neue Gründungen und neue Aktien.
Fortan wird zur "Aktiengesellschaft", was sich mit Hilfe von Hochglanzbroschüren und prominenten Namen verkaufen lässt. Und die Zeitungen, die von dem Werbegeschäft gut leben, liefern die Berichte über sensationelle Gründungserfolge gleich mit.
Sie kamen in hellen Haufen, sie versperrten die Straße, sie belagerten das Haus. Und als die Türen endlich öffneten, quoll der Strom herein, und in einem Augenblick waren die ausliegenden Bogen mit Unterschriften bedeckt. Der eine zeichnete 100 Taler, der andere 500, der dritte 1.000, der vierte 3.000, der fünfte 10.000.
Längst haben die Aktienwerte nichts mehr mit den realen Werten zu tun. Doch es wird weitergegründet. Jeder will teilhaben am Aufschwung. Und so sind die Gewinne, die etwa der Verkauf märkischen Ackerlandes einbringt:
kolossal!
Wie all das, was für eine neureiche Klientel in der Reichshauptstadt Berlin entsteht: Einkaufspassagen nach Pariser Vorbild, Edelrestaurants, Luxushotels. Das Nachsehen haben die Massen armer Arbeiter, die eine Wohnung suchen:
Ein Heer von Direktoren und Verwaltungsräten, Bankiers und Maklern, Prokuristen und Agenten wuchs empor, die sich alle luxuriös einrichteten. Ihnen war keine Wohnung zu teuer; sie überboten sich in den Preisen, sie verdrängten die bisherigen Insassen und trieben die Mieten systematisch in die Höhe.
So berichtet der "Gartenlaube"-Autor Otto Glagau. Im Frühjahr 1873 folgt die Ernüchterung für die Spekulanten.
Nur mit Not gelang es in der "Kaiserpassage" an der Friedrichstraße die Läden zu vermieten, nachdem man die zuerst in Aussicht genommenen Mieten bedeutend herabgesetzt hatte. Die Festsäle aber blieben leer, die großen Restaurants in den oberen Etagen fanden bald keinen Pächter mehr.
Nach dem Börsenkrach m 28. Oktober 1873 entpuppen sich eben noch "flukturierende Betriebe" plötzlich als zahlungsunfähig. Schwindelfirmen - gestern noch "hoch-seriös" - verschwinden über Nacht von der Bildfläche. In wenigen Wochen müssen 61 Banken, 116 Industrienunternehmen und vier Eisenbahngesellschaften Konkurs anmelden.
Über Nacht wurde der deutsche Wortschatz um ein zweites Wort bereichert, welches jäh durch die Stadt gällte, welches viele tausende Existenzen ruinierte, welches namenloses Unglück über zahllose solide Familien brachte, welches zu einer Welle von Selbstmorden führte, und dieses Wort hieß "Krach"!
Das notiert der Berliner Schriftsteller Felix Philippi. Doch trifft der "Krach" nicht jeden. So kaufen etliche große Konzerne und Banken die angeschlagene Konkurrenz auf und gehen gestärkt aus der Spekulations- und Überproduktionskrise hervor: Die Deutsche, die Dresdner und die Commerzbank zum Beispiel werden durch sie erst richtig groß.
www.dradio.de/dlr/sendungen/kalender/195394/
Grüße
NL