Dokumentation Nr. 10 der Rudolf Heß Gesellschaft e.V.
Vortrag von Dr. Walter Post auf der Mitgliederversammlung der Rudolf Hess Gesellschaft am 15. November 1997 in München.
Der Flug von Rudolf Hess am 10. Mai 1941 nach Großbritannien und der Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurde die internationale Politik zunehmend von Spannungen beherrscht: Der Einfall Japans in Zentralchina, die Annexion Abessiniens durch Italien, die deutsch-italienische Intervention im spanischen Bürgerkrieg, vor allem aber die Revision des Versailler Vertrages durch Hitler sowie schließlich die wirtschaftspolitischen Gegensätze zwischen Deutschland und den Westmächten.
Hitlers erklärtes Ziel war die Beseitigung der Ordnung von Versailles und die Errichtung einer direkten oder indirekten deutschen Hegemonie in Mittel- und Osteuropa. Dies mußte fast zwangsläufig zu einem Konflikt mit den Nutznießern des Versailler Systems, England und Frankreich führen.
Nach dem Anschluß Österreichs und des Sudetengebiets sowie der Besetzung der "Rest-Tschechei" im März 1939 versuchte die britische Regierung, eine große antideutsche Koalition, bestehend aus Großbritannien, Frankreich, Polen, Rumänien und der Sowjetunion zustande zu bringen. Diese Koalition hätte das nur unvollständig aufgerüstete Deutschland erdrückt, und Hitler sah sich mit dem Gespenst der Einkreisung konfrontiert. Tatsächlich verhandelte im Sommer 1939 eine britisch-französische Militärdelegation in Moskau über ein Bündnis. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich waren in den vergangenen Jahren schlecht gewesen, aber getreu dem bereits von Lenin formulierten Grundsatz, die "kapitalistischen Imperialisten" gegeneinander auszuspielen, beschloß Stalin, die schwächere Partei, und das war in diesem Falle Deutschland, zu unterstützen.
Stalin signalisierte Berlin seine Bereitschaft, ein Bündnis abzuschließen, und Hitler erkannte sofort die Chance, die drohende Einkreisung Deutschlands zu verhindern. Die Verhandlungsgrundlage für dieses Bündnis war die Aufteilung Polens und Osteuropas in eine deutsche und in eine sowjetische Einflußsphäre.
Am 19. August 1939 wurden die Mitglieder des Politbüros der KPdSU und führende Vertreter der Komintern zu einer geheimen Sitzung zusammengerufen. Stalin erklärte den Anwesenden: "Die Frage Frieden oder Krieg tritt für uns in eine kritische Phase. Wenn wir mit Frankreich und Großbritannien einen Vertrag über gegenseitige Hilfe schließen, wird Deutschland auf Polen verzichten und beginnen, einen modus vivendi mit den westlichen Staaten zu suchen. Der Krieg wird abgewendet werden, aber im weiteren Verlauf können die Ereignisse für die UdSSR einen gefährlichen Charakter annehmen. Wenn wir auf den Vorschlag Deutschlands eingehen, mit ihm einen Nichtangriffspakt abzuschließen, wird es natürlich über Polen herfallen und das Eingreifen Frankreichs und Englands in diesen Krieg wird unausweichlich. Westeuropa wird ernstzunehmender Unruhe und Unordnung ausgesetzt sein. Unter diesen Umständen werden wir viele Möglichkeiten haben, bei diesem Konflikt abseits zu stehen, und wir werden hoffen können, in vorteilhafter Weise in diesen Krieg einzutreten.
Die Erfahrung der letzten 20 Jahre zeigt, daß es in Friedenszeiten unmöglich ist, in Europa eine kommunistische Bewegung zu haben, die stark genug wäre, daß die bolschewistische Partei die Macht erobern könnte. Die Diktatur dieser Partei wird erst als Resultat eines großen Krieges möglich sein. Wir werden unsere Wahl treffen und sie wird eindeutig sein. Wir müssen den deutschen Vorschlag annehmen und die englisch-französische Mission zurückschicken. Der erste Vorteil, den wir ziehen werden, wird die Vernichtung Polens sein . . . "
Stalin erörterte anschließend die Frage, welche Folgen sich aus einer Niederlage bzw. einem Sieg Deutschlands in diesem Krieg ergeben würden: "Im Falle seiner Niederlage wird sich unausweichlich die Sowjetisierung Deutschlands vollziehen und eine kommunistische Regierung wird sich stabilisieren . . . Unser Problem besteht darin, daß Deutschland diesen Krieg möglichst lange führen kann; Ziel dabei ist, daß England und Frankreich erschöpft und soweit ausgezehrt werden, daß sie zur Zerschlagung eines sowjetisierten Deutschland nicht mehr in der Lage sind.
Unter Beibehaltung einer neutralen Position und in Erwartung ihrer Stunde wird die UdSSR dem jetzigen Deutschland Hilfe leisten, indem sie es mit Rohstoffen und Lebensmitteln versorgt . . . Gleichzeitig müssen wir eine aktive kommunistische Propaganda treiben, namentlich im englisch-französischen Block und mit Vorrang in Frankreich . . .
Die Aufgaben der KPF werden in erster Linie Zersetzung und Demoralisierung von Armee und Polizei sein. Ist diese vorbereitende Arbeit in entsprechender Form durchgeführt, dann wird die Sicherheit eines sowjetischen Deutschland gewährleistet sein und dies wird die Sowjetisierung Frankreichs ermöglichen . . .
Wenn Deutschland den Sieg erringt, wird es aus diesem Krieg zu entkräftet hervorgehen, um - wenigstens im Laufe der nächsten zehn Jahre - einen bewaffneten Konflikt mit der UdSSR zu beginnen . . .
Vor uns wird ein weites Feld für die Entwicklung der Weltrevolution liegen. Genossen ! Es liegt im Interesse der UdSSR, der Heimat der Werktätigen, daß ein Krieg zwischen dem Reich und dem kapitalistischen englisch-französischen Block ausbricht. Es muß alles getan werden, damit sich dieser Krieg soweit wie möglich in die Länge zieht und beide Seiten erschöpft werden. Insbesondere aus diesem Grund müssen wir uns auf den Abschluß des von Deutschland vorgeschlagenen Paktes einigen und darauf hinarbeiten, daß dieser Krieg, der einmal erklärt werden wird, sich möglichst lange ausdehnt. Es wird erforderlich sein, die Propagandaarbeit in den kriegsführenden Staaten zu verstärken, um auf den Zeitpunkt vorbereitet zu sein, wenn der Krieg endet . . . "
Am 23. August 1939 unterzeichneten Reichsaußenminister Ribbentrop und der Volkskommissar für Äußeres Molotow in Moskau einen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit geheimen Zusatzprotokollen, in denen die territorialen Interessensphären abgegrenzt wurden. Außerdem wurden Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit abgeschlossen, die es dem Deutschen Reich erlaubten, die drohende und dann tatsächlich auch bald einsetzende Wirtschaftsblockade durch die Westmächte mit sowjetischer Hilfe zu umgehen.
Ohne die Sowjetunion waren England und Frankreich nicht in der Lage, Polen wirksam zu helfen; bis zum 17. September hatte die deutsche Wehrmacht die polnischen Streitkräfte zerschlagen, dann marschierte die Rote Armee in Ostpolen ein. Der polnische Staat hörte auf zu existieren. Das deutsch-sowjetische de-Facto-Bündnis wurde am 28. September 1939 durch einen Grenz- und Freundschaftsvertrag besiegelt.
Durch Stalins Politik, einen Nichtangriffspakt mit Deutschland abzuschließen, war in Europa ein Kräftegleichgewicht entstanden, bei dem sich Deutschland und Italien auf der einen sowie England und Frankreich auf der anderen Seite gegenüberstanden. Dies war die Voraussetzung für den von Stalin gewünschten langen Abnutzungskrieg von Faschisten und Imperialisten.
Am 10. Mai 1940 begann der Frankreichfeldzug, der nach 40 Tagen mit einem überwältigenden deutschen Sieg endete. Dies brachte Stalins Kalkulation gründlich durcheinander, denn Deutschland war aus diesem Krieg nicht etwa geschwächt, sondern durch die Kontrolle über das Europa zwischen Atlantik und sowjetischer Grenze erheblich gestärkt hervorgegangen.
Die Sowjetunion hatte im Winter 1939/40 Krieg gegen Finnland geführt, was in Berlin mit Unbehagen verfolgt worden war. Im Juni 1940 marschierte die Rote Armee in den Baltischen Staaten, in Bessarabien und der Nordbukowina ein, womit sich der sowjetische Machtbereich näher an die rumänischen Ölfelder heranschob.
Das militärische Kräfteverhältnis betrug im Juni 1940 in Osteuropa etwa sechs deutsche gegen 100-120 sowjetische Divisionen. Die deutsche Führung befaßte sich zu dieser Zeit in erster Linie mit Plänen für eine Landung in England, betrachtete die sowjetische Politik aber mit zunehmendem Unbehagen. Die brutale Sowjetisierung des Baltikums und die ständig wachsende Stärke der Roten Armee gaben Anlaß zur Sorge.
Anfang Juli 1940 traf der neue britische Botschafter Sir Stafford Cripps in Moskau zu Gesprächen mit Molotow und Stalin zusammen und versuchte, die Sowjetunion zu einem Bündniswechsel auf die Seite Großbritanniens zu gewinnen. Stalin und Molotow zeigten sich an den Vorschlägen von Cripps nicht uninteressiert.
Die deutsche Abwehr konnte den Inhalt dieser Geheimgespräche in Erfahrung bringen, und Hitler war auf das höchste alarmiert, denn es zeichnete sich damit eine Koalition England - USA - Sowjetunion ab, die Deutschland zu erdrücken drohte.
Bei einer Besprechung auf dem Berghof am 31. Juli 1940 befahl Hitler den Wehrmachtsführern, Studien für einen Feldzug gegen die Sowjetunion auszuarbeiten.
Die Planungen wurden in den folgenden Monaten von OKH und OKW ohne besonderen Nachdruck betrieben.
In diesem Sommer 1940 übte die Sowjetunion verstärkt Druck auf Finnland und Rumänien aus. Dies mußte Moskau zwangsläufig in einen Interessenkonflikt mit Berlin bringen, da die Nickelgruben von Petsamo in Finnland und die Ölfelder von Ploesti in Rumänien für die deutsche Kriegswirtschaft lebenswichtig waren.
Trotz der wachsenden Spannungen äußerte Hitler am 4. Oktober 1940 gegenüber dem italienischen Diktator Mussolini die Hoffnung, mit Stalin zu einem erneuten Interessenausgleich kommen zu können. Die deutschen Truppen im Osten wurden auf 35 Divisionen verstärkt, um den mehr als 100 Divisionen der Roten Armee ein Gegengewicht entgegenzusetzen.
Um die bestehenden Interessengegensätze auszuräumen, lud Hitler den Volkskommissar für Äußeres Molotow zu Gesprächen nach Berlin ein. Der deutsche Diktator hoffte, Stalin für einen Beitritt zu dem am 27. September 1940 zwischen Deutschland, Italien und Japan abgeschlossenen Dreimächtepakt gewinnen zu können. Ein Viermächtepakt, bestehend aus Deutschland - Italien - Japan und der Sowjetunion wäre eine unschlagbare Kombination gewesen, die die sich abzeichnende Koalition England - USA nicht zu fürchten gehabt hätte. Die Interessengegensätze aller vier Großmächte sollten ausgeglichen, die sowjetischen Expansionsbestrebungen in Richtung Indien und Persischer Golf, also Teile des Britischen Empire, gelenkt werden.
Molotow ging bei seinem Besuch in Berlin am 12. und 13. November 1940 auf Hitlers Vorschläge nicht ein; statt dessen beharrte der Volkskommissar hartnäckig auf den sowjetischen Interessen in Finnland und in Südosteuropa. Eine Sowjetisierung dieser Gebiete war aber aus den bekannten rüstungswirtschaftlichen Gründen für Hitler unannehmbar, ohne das rumänische Erdöl und den finnischen Nickel wäre die deutsche Kriegswirtschaft gelähmt gewesen. Aber damit nicht genug: Molotow meldete weitreichende Ansprüche Moskaus auf Skandinavien und den gesamten Balkan an. Bei Verwirklichung dieser Forderungen wäre Deutschland in gänzliche wirtschaftliche Abhängigkeit von der UdSSR geraten.
Nach seiner Rückkehr nach Moskau erklärte Molotow vor dem versammelten Politbüro: "Hitler sucht unsere Unterstützung im Kampf mit England und seinen Verbündeten. Wir müssen auf die Zuspitzungen ihrer Auseinandersetzungen warten. Hitler schwankt hin und her. Eines ist klar: Er wird sich nicht entschließen, einen Krieg an zwei Fronten zu führen. Ich glaube, wir haben Zeit, die Westgrenzen zu verstärken. Jedoch müssen wir beide Möglichkeiten im Auge behalten. Schließlich haben wir es mit einem Abenteurer zu tun."
Mit anderen Worten, die sowjetische Führung rechnete bereits mit einem Konflikt zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR. Tatsächlich hatten Generalstabschef Merezkow und der Volkskommissar für Verteidigung Timoschenko bereits fünf Wochen vorher, am 5. Oktober 1940, Stalin einen Operationsentwurf für einen Krieg gegen Deutschland vorgelegt.
Der Besuch Molotows in Berlin war zweifellos ein Wendepunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Hitler hatte trotz erheblicher Bedenken versucht, zu einem langfristigen Interessenausgleich mit der Moskauer Führung zu kommen, um einen Kontinentalblock gegen die Angelsachsen zu bilden. Aber nun rückte ein Krieg in den Bereich des Unausweichlichen.
Am 18. Dezember 1940 unterzeichnete Hitler die "Weisung Nr. 21, Fall Barbarossa", in der es heißt: "Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen."
Damit war aber noch keine endgültige Entscheidung getroffen, denn an anderer Stelle heißt es ausdrücklich "daß es sich um Vorsichtsmaßnahmen handelt für den Fall, daß Rußland seine bisherige Haltung gegen uns ändern sollte."
Ab Mitte Januar setzte sich die erste von insgesamt fünf Staffeln des deutschen Ostaufmarschs langsam in Bewegung. Ab Mitte März trafen in Berlin laufend Meldungen über die Verstärkung der Roten Armee in den Westgebieten der UdSSR ein. Generaloberst Halder, Generalstabschef des OKH, glaubte zunächst nicht an sowjetische Angriffsvorbereitungen, machte sich aber ab Anfang März ernsthafte Gedanken: "Die russische Gliederung gibt zu Gedanken Anlaß: Wenn man sich von dem Schlagwort freimacht, der Russe will Frieden und wird nicht von sich aus angreifen, dann muß man zugeben, daß die russische Gliederung sehr wohl einen raschen Übergang zum Angriff ermöglicht, der uns außerordentlich unbequem werden könnte."
Am 6. April 1941 begann der deutsche Balkanfeldzug gegen Jugoslawien und Griechenland. Einen Tag vorher hatten Moskau und Belgrad einen Freundschaftspakt unterzeichnet, der der deutschen Führung zu schwarzen Verdächtigungen hinsichtlich der Absichten Moskaus Anlaß gab. Erst jetzt, im April 1941, entschloß sich Hitler laut den Aussagen von Halder und Jodl endgültig dazu, "Unternehmen Barbarossa" durchzuführen.
Wegen des Balkanfeldzuges hatte sich der ursprünglich geplante Aufmarsch für "Barbarossa" verzögert, erst ab dem 8. April setzte sich die dritte Staffel in Bewegung und kam der deutsche Aufmarsch in Schwung.
Bei OKH und OKW trafen jetzt laufend Meldungen über den sowjetischen Aufmarsch ein. Die Wehrmachtsführung war gezwungen, ihre Schätzungen über die Stärke der Roten Armee laufend nach oben zu korrigieren; hatte man im März 155 sowjetische Divisionen erkannt, so waren es Mitte Juni bereits 213. Besonders starke Truppenkonzentrationen wurden im Westen der Ukraine festgestellt, wodurch die deutschen Verbindungen zu den rumänischen Ölfeldern gefährdet waren.
Am 5. Juni genehmigte Hitler schließlich den Zeitplan für den Aufmarsch der eigentlichen Angriffsverbände und damit den endgültigen Angriffstermin 22. Juni. Zwischen dem 5. und dem 22. Juni, also in nur 17 Tagen, wurde die Masse der Angriffsverbände, 12 Panzer- und 12 motorisierte Divisionen in ihre Bereitstellungsräume an der sowjetischen Grenze transportiert.
Am 11. und 12. Juni traf Hitler in München mit dem rumänischen Staatsführer Marschall Antonescu zusammen und legte in einer ausführlichen Besprechung dar, warum der Feldzug gegen die Sowjetunion nunmehr unumgänglich geworden sei. Hitler führte zunächst aus, daß Rußland seit dem Sommer 1940 in das Lager der Feinde Deutschlands übergegangen sei. Das Protokoll fährt fort: "Die Folgen dieser Haltung seien sofort zu Tage getreten. Es habe sich dabei um Konzentrationen russischer Truppen, motorisierter und Panzerverbände an der deutschen Ostgrenze, größere Truppentransporte aus dem Inneren Rußlands nach dem Westen und Massierung einer starken Luftflotte an der deutschen Grenze gehandelt.
Weiterhin habe Sir Stafford Cripps ein geneigteres Ohr gefunden als bisher, und die russisch-englische Verbindung . . . sei ständig mehr vertieft worden. . . . es lag auf der Hand, daß die russische Politik entschlossen war, eine günstige Situation wahrzunehmen. Dabei würde sich der Angriff primär wahrscheinlich gar nicht gegen Deutschland richten. Rußland würde sich damit begnügen zu versuchen, Deutschland durch die Massierung einer Riesenarmee an seiner Ostgrenze einzuschüchtern, und im übrigen gegen Finnland und Rumänien aggressiv vorgehen. Der praktischen Auswirkung nach käme jedoch ein solches Vorgehen einem direkten Angriff auf Deutschland gleich . . .
Wenn nun in dem Kampf auf Leben und Tod mit England die Luftwaffe im Westen gebraucht würde, so sei sie durch die russische Armee im Osten gebunden. Deutschland könne wohl in der Luft an einer Front defensiv und an der anderen offensiv vorgehen, aber nicht eine Zweifrontenoffensive führen . . .
Im einzelnen faßte der Führer die Lage folgendermaßen zusammen:
Stalin würde Deutschland nie mehr verzeihen, daß es seinem Vordringen auf dem Balkan entgegen getreten sei.
Die Sowjetunion würde durch die Konzentration ihrer Machtmittel an der deutsch-russischen Grenze zu verhindern suchen, daß Deutschland durch die freie Verfügung über seine gesamten Machtmittel dem Krieg eine entscheidende Wendung gäbe. Rußland wolle Deutschland dadurch zwingen, Zeit zu verlieren, und hoffe, für England und sich selbst Zeit zu gewinnen.
Die Sowjetunion würde jede eventuelle Schwächung Deutschlands als eine einmalige historische Gelegenheit benutzen, um gegen den Staat vorzugehen, den es als Haupthindernis für seine weitere Expansion in Europa ansehe . . .
Die Sowjetunion versuche durch ihre Haltung den Widerstandswillen der Engländer zu stärken und Amerika die Hoffnung auf einen starken Festlandsverbündeten in Europa zu geben. Rußland hoffe vor allem, die Beendigung des Krieges im Jahre 1941 verhindern zu können. Andernfalls sei es selbst entschlossen, die Konsequenzen zu ziehen . . .
In den letzten Wochen habe sich die Situation insofern außerordentlich verschlechtert, als das Heranführen russischer Verbände an die deutsche Ostgrenze auch Deutschland zwinge, immer mehr Divisionen nach Osten zu verlegen . . . Es sei klar, daß auf diese Weise eine Ansammlung von Truppen auf beiden Seiten der Grenze erfolgt sei. Eine solche Lage sei reich an Spannungen und Konfliktmöglichkeiten. Jeden Augenblick könne eine Entladung erfolgen . . .
Anschließend erläuterte der Führer anhand von Karten den russischen Aufmarsch in Einzelabschnitten von der finnischen bis zur rumänischen Grenze . . . Einen besonderen Raum in den Erörterungen nahm auch die ebenfalls anhand von Karten vom Führer dargelegte Verteilung der russischen Luftstreitkräfte ein. Der Führer und Antonescu waren sich darin einig, daß die Russen sicher versuchen würden, die Petroleumgebiete und Constanza aus der Luft anzugreifen."
Antonescu beurteilte die strategische Situation im Osten in gleicher Weise wie Hitler, auch er hielt wegen des Aufmarsches der Roten Armee und der Bedrohung des rumänischen Ölgebiets durch die russischen Luftstreitkräfte einen Präventivkrieg für notwendig.
Seit dem September 1939 bereitete sich die Sowjetunion systematisch auf einen Krieg vor. Zwischen dem 1. September 1939 und dem 22. Juni 1941 wuchs die Rote Armee von 1,4 Millionen auf über 5 Millionen Mann an; die Rüstungsproduktion lief auf vollen Touren.
Nach der Niederlage Frankreichs legten der damalige Generalstabschef Schaposchnikow und der Volkskommissar für Verteidigung Timoschenko eine ausführliche Analyse über die möglichen militärischen Gegner sowie über die eigenen Kräfte vor. Am 1. August 1940 wurde Schaposchnikow als Generalstabschef von Armeegeneral Merezkow abgelöst. Ausgehend von der Kräfteanalyse Schaposchnikows arbeiteten Merezkow und Timoschenko einen ersten Operationsentwurf aus, den sie am 18. September 1940 fertigstellten und anschließend Stalin zur Begutachtung vorlegten. Der Entwurf trug den Titel "Überlegungen hinsichtlich der Grundlagen des strategischen Aufmarsches der Streitkräfte der Sowjetunion im Westen und im Osten für die Jahre 1940 und 1941."
Merezkow und Timoschenko schlugen alternativ zwei verschiedene Operationen vor: "Die Hauptkräfte der Roten Armee im Westen können - in Abhängigkeit von der jeweiligen Lage - entwickelt werden entweder: südlich von Brest-Litowsk, um mit einem machtvollen Schlag in den Frontabschnitten Lublin und Krakau und weiter Richtung Breslau schon in der ersten Phase des Krieges Deutschland von den Balkanstaaten abzuschneiden, es so seiner wichtigsten wirtschaftlichen Fundamente berauben und mit Entschiedenheit auf die Balkanstaaten in der Frage ihrer Teilnahme am Krieg einzuwirken; oder nördlich von Brest-Litowsk mit dem Auftrag, einen Schlag gegen die Hauptkräfte der deutschen Armee innerhalb der Grenzen von Ostpreußen zu führen und letzteres zu erobern."
Es sollten dazu drei Fronten (das sowjetische Gegenstück zur deutschen Heeresgruppe) gebildet werden, die Nordwestfront, die Westfront und die Südwestfront.
Sollte sich die politische Führung für die südliche Operation entscheiden, so sollte der Hauptschlag durch die Südwestfront aus der Westukraine geführt werden, für die ein Kräfteumfang von 6 Armeen mit insgesamt 78 Divisionen geplant war. Dabei sollte sie zusammen mit dem linken Flügel der Westfront (die aus Weißrußland vorstieß) zunächst die deutschen Kräfte im Raum Warschau - Lublin einschließen und vernichten, um anschließend durch Südpolen in den Raum Breslau vorzustoßen. Wörtlich hieß es: "Der Stoß unserer Kräfte Richtung Krakau, Breslau gewinnt, indem er Deutschland von den Balkanstaaten [und damit den Öl- und Gedreidezufuhren, Anmerkung Walter Post] abschneidet, außerordentliche politische Bedeutung."
Dagegen galt Ostpreußen nur als ein zweitrangiges strategisches Ziel. Dieser Operationsentwurf wurde am 14. Oktober 1940 von Stalin gebilligt. Am 18. Dezember hatte Hitler die "Weisung Barbarossa" unterzeichnet.
Dank der guten Arbeit der sowjetischen Nachrichtendienste war diese Tatsache nur elf Tage später dem Generalstab in Moskau bekannt, der auch in den folgenden Monaten über die deutschen Pläne gut informiert war.
Anfang Januar 1941 führte der sowjetische Generalstab eine Stabsübung auf Karten durch, bei der die Eroberung von Königsberg (die nördliche Operation) und Budapest (die südliche Operation) durchgespielt wurde. Bei diesen Kriegsspielen zeichnete sich Armeegeneral Schukow so aus, daß Stalin ihn zum neuen Generalstabschef ernannte.
Schukow und Timoschenko machten sich sofort an die Überarbeitung der vorhandenen Operationsentwürfe und schlugen Stalin am 11. März 1941 vor, die Variante der nördlichen Operation gegen Ostpreußen fallen zu lassen, da es hier bei der Durchführung des Kriegsspiels vom Januar Schwierigkeiten gegeben hatte.
Während die Verbände der Roten Armee in den westlichen Militärbezirken der Sowjetunion laufend verstärkt wurden, versicherte Moskau dem Deutschen Reich seine Vertragstreue und Friedensliebe.
Am 5. Mai 1941 hielt Stalin im Kreml vor den Absolventen der Militärakademien eine wichtige Rede. Stalin sprach von den enormen Fortschritten in der Modernisierung der Roten Armee, die jetzt 300 Divisionen umfasse; in der deutschen Armee habe sich dagegen Selbstzufriedenheit und Stagnation breitgemacht, sie sei keineswegs unbesiegbar. Im weiteren Verlauf des Empfangs brachte Stalin drei Trinksprüche aus; beim letzten Trinkspruch erklärte er: "Bis zu einer bestimmten Zeit haben wir die Linie der Verteidigung vertreten, bis zum Zeitpunkt, bis wir unsere Armee noch nicht umgerüstet haben . . . Jetzt aber, da wir unsere Armee umgestaltet haben, sie reichlich mit Technik für den modernen Kampf ausgestattet haben, jetzt, da wir stark geworden sind, jetzt muß man von der Verteidigung zum Angriff übergehen. Bei der Verwirklichung der Verteidigung unseres Landes sind wir verpflichtet, offensiv zu handeln. Wir müssen von der Verteidigung zur Militärpolitik des offensiven Handelns übergehen. Wir müssen unsere Erziehung, unsere Propaganda, Agitation, unsere Presse im offensiven Geist umbauen. Die Rote Armee ist eine moderne Armee, eine moderne Armee aber ist eine offensive Armee."
Der sowjetische Aufmarsch war bereits in vollem Gange; 800.000 Reservisten wurden einberufen, die Divisionen und Korps in den westlichen Grenzmilitärbezirken erhielten Befehl, näher an die Grenze aufzuschließen und Frontgefechtsstände einzurichten.
Schukow und Timoschenko, die sich über Umfang und Tempo des deutschen Aufmarschs zunehmend Sorgen machten, legten Mitte Mai Stalin einen neuen Operationsplan vor, der den Titel trug: "Erwägungen für den strategischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krieges mit Deutschland und seinen Verbündeten."
Die wichtigsten Thesen der "Erwägungen" wurden von Stalin gebilligt. Nach einer Analyse des deutschen Aufmarschs schreiben Schukow und Timoschenko: "Im gesamten kann Deutschland mit seinen Verbündeten gegen die Sowjetunion 240 Divisionen aufmarschieren lassen. Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein Heer mit eingerichteten rückwärtigen Diensten mobil gemacht hält, so kann es uns beim Aufmarsch zuvorkommen und einen Überraschungsschlag führen. Um dies zu verhindern und die deutsche Armee zu zerschlagen, erachte ich es für notwendig, dem deutschen Kommando unter keinen Umständen die Initiative zu überlassen, dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und das deutsche Heer dann anzugreifen, wenn es sich im Aufmarschstadium befindet, noch keine Front aufbauen und das Gefecht der verbundenen Waffen noch nicht organisieren kann."
Die Stärke der Landstreitkräfte der Roten Armee gaben Schukow und Timoschenko mit 303 Divisionen an. Von diesen sollten 85 Prozent im Westen zum Einsatz kommen, darunter fast alle Panzer- und motorisierte Divisionen: 163 Schützendivisionen, 58 Panzerdivisionen, 30 motorisierte Divisionen und 7 Kavalleriedivisionen, insgesamt 258 Divisionen und 165 Fliegergeschwader.
Die zentrale Idee für die sowjetischen Operationen, ein Vorstoß aus der Westukraine durch Südpolen nach Schlesien, sowie ein gleichzeitiger Zangenangriff aus der Westukraine und aus Westweißrußland zur Einschließung starker deutscher Kräfte im Raum Lublin - Warschau geht auf den Entwurf vom 18. September 1940 zurück. Schukow und Timoschenko erweiterten diese Grundidee um einen anschließenden Vorstoß aus dem Raum Krakau - Kattowitz in nördlicher Richtung zur Ostsee, um möglichst viele deutsche Truppen in Polen und Ostpreußen abzuschneiden und zu vernichten. Dank der Vergrößerung der Roten Armee konnten wesentlich stärkere Kräfte eingeplant werden, als dies im Spätsommer 1940 möglich gewesen war; für den Hauptangriff der Südwestfront waren nicht weniger als 8 Armeen mit 122 Divisionen vorgesehen. Die Südwestfront sollte über fast die Hälfte aller Panzer- und motorisierte Divisionen verfügen, das waren etwa 7000 einsatzbereite Panzer, doppelt so viele, wie die deutsche Wehrmacht für "Unternehmen Barbarossa" insgesamt einsetzte.
Ein Gelingen der sowjetischen Offensive mußte Deutschland in eine prekäre Lage bringen, denn nach Abschneidung von den rumänischen Ölquellen und dem Verlust einer großen Zahl von Truppen und schweren Waffen in Polen und Ostpreußen würde es den Krieg nur noch unter größten Schwierigkeiten fortsetzen können.
Der deutsche Plan "Barbarossa" sah einen Angriff mit 3 Heeresgruppen vor, wobei insgesamt 4 Panzergruppen die eigentlichen Angriffsspitzen bildeten.
Die überstarke Heeresgruppe Mitte mit den Panzergruppen 2 und 3 hatte die Aufgabe, nach der Zerschlagung der feindlichen Kräfte in Weißrußland nach Norden einzuschwenken, um zusammen mit der Heeresgruppe Nord und der Panzergruppe 4 die sowjetischen Verbände im Baltikum zu vernichten und damit die Voraussetzung für die Einnahme von Leningrad zu schaffen.
Erst danach sollte die Heeresgruppe Mitte den Vorstoß auf das "wichtige Verkehrs- und Rüstungszentrum Moskau" weiterführen.
Die Heeresgruppe Süd mit der Panzergruppe 1 sollte in allgemeiner Richtung auf Kiew vorstoßen, um "die vollständige Vernichtung der in der Ukraine stehenden russischen Kräfte noch westlich des Dnjepr anzustreben."
Allgemeine Absicht der Operation war, die im westlichen Grenzgebiet der Sowjetunion konzentrierte Masse der Roten Armee durch tiefe Vorstöße von Panzerkeilen zu vernichten und den Abzug kampfkräftiger Teile in die Tiefe des Raumes zu verhindern. Endziel sollte die Linie Astrachan - Archangelsk sein, nach deren Erreichung das Industriegebiet im Ural durch die deutsche Luftwaffe zerstört werden sollte. Am 22. Juni 1941 standen auf deutscher Seite folgende Kräfte für "Unternehmen Barbarossa" bereit: 153 Divisionen, davon 19 Panzer- und 14 motorisierte Divisionen, sowie 37 Divisionen der Verbündeten, insgesamt also 190.
Das deutsche Heer verfügte über etwa 3600 Panzer sowie über 8100 Geschütze der Feldartillerie und der schweren Flak. Die Luftwaffe besaß 2500 Frontflugzeuge, denen noch 900 Maschinen der Verbündeten hinzugerechnet werden konnten.
Der Aufmarsch der Roten Armee gliederte sich in 2 strategische Staffeln. Am 22. Juni 1941 waren 237 Divisionen aufmarschiert oder im Aufmarsch begriffen.
Die Rote Armee besaß insgesamt 23.200 Panzer, von denen am 22. Juni 14.700 gefechtsbereit waren; außerdem verfügte das russische Heer über 79.100 Geschütze und Granatwerfer ab einem Kaliber von 76 mm.
Die sowjetischen Luftstreitkräfte besaßen etwa 20.000 Frontflugzeuge, von denen am 22. Juni 13.300 einsatzbereit waren. Etwa 3700 davon konnten als modern und den deutschen Typen in etwa ebenbürtig angesehen werden.
Die aufmarschierenden zwei strategischen Staffeln der Roten Armee waren dem deutschen Ostheer und seinen Verbündeten von der Zahl der Divisionen her nur im Verhältnis 1,3 : 1 überlegen, bei den schweren Waffen war das Übergewicht aber erheblich. Es betrug bei der Artillerie 8 : 1, bei den einsatzbereiten Panzern 4 : 1. Dabei verfügten die russischen Fliegerkräfte über mindestens ebenso viele moderne Frontflugzeuge wie die Verbände der deutschen Luftwaffe im Osten. Diese zahlenmäßige Überlegenheit wurde in der Praxis durch die schlechtere Ausbildung und Führung der sowjetischen Truppen und Fliegerkräfte wieder aufgehoben.
Während in Deutschland wie in der Sowjetunion die Kriegsvorbereitungen auf vollen Touren liefen, ereignete sich ein spektakulärer Zwischenfall: Am 10. Mai 1941 sprang der Stellvertreter Hitlers als Führer der NSDAP, Rudolf Heß, nach einem Alleinflug über Schottland mit dem Fallschirm ab. Heß trug den Vertretern der britischen Regierung ein Friedensangebot vor, das im wesentlichen folgendes enthielt: Für freie Hand in Europa erkenne das Deutsche Reich an, daß England ebenso freie Hand in seinem Empire habe; nur die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika müßten England zurückgegeben werden. Die Gerüchte über einen baldigen deutschen Angriff auf Rußland wurden von Heß dementiert. Das Angebot des Stellvertreters des Führers ging somit inhaltlich nicht über Hitlers Friedensappell an England in seiner Reichstagsrede vom 19. Juli 1940 hinaus; so wenn man nach den Protokollen der Gespräche der Ex-Diplomaten Sir Ivone Kirkpatrick und Sir John Simon, die die englische Regierung vertraten, mit Rudolf Heß geht.
Der ungeheure Aufwand, der jahrzehntelang getrieben wurde, um Heß von der Außenwelt zu isolieren, und die Tatsache, daß die wichtigsten englischen Akten zum Fall Heß bis zum Jahr 2017 gesperrt sind, legen jedoch den Verdacht nahe, daß der Stellvertreter des Führers sehr viel weitergehende und konkretere Angebote gemacht hat, und daß seine Friedensmission durchaus mit dem Einverständnis Hitlers erfolgte. Tatsächlich fand sich in englischen Archiven ein Dokument, demzufolge Heß in einem Gespräch mit Staatssekretär Alexander Cadogan, der als Stellvertreter Anthony Edens praktisch die englische Außenpolitik leitete, folgende Vorschläge gemacht haben soll (Es ist wie vieles in der Affäre Heß allerdings nicht ganz sicher, ob dieses Dokument wirklich die Vorschläge des Führerstellvertreters wiedergibt):
Deutschland und England schließen einen weltpolitischen Kompromiß auf der Basis des status quo - also ohne einen deutschen Eroberungsfeldzug gegen die Sowjetunion.
Deutschland läßt seine kolonialen Ansprüche fallen und erkennt dafür Kontinentaleuropa als deutsche Interessensphäre an.
Die gegenwärtigen militärischen Kräfteverhältnisse zwischen Deutschland und England im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte werden aufrechterhalten - also keine Verstärkung durch die USA.
Deutschland räumt Frankreich nach einer totalen Abrüstung der französischen Armee und Flotte.
Deutschland errichtet Satellitenstaaten in Polen, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Serbien. Es zieht sich aber aus Norwegen, Rumänien, Bulgarien und Griechenland (außer Kreta) zwei Jahre nach Friedensschluß zurück. Damit würde Deutschland den Druck auf die Stellung Englands im östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten aufheben.
Deutschland erkennt Abbessinien und das Rote Meer als englische Einflußsphäre an.
Eine gewisse Verwirrung herrschte bei dem Gesprächspartner von Heß in Bezug darauf, ob Italien den Friedensvorschlägen des Stellvertreters des Führers zugestimmt habe oder nicht.
Heß gab zu, daß seine angebliche "Unzurechnungsfähigkeit" mit Hitler abgesprochen, er also mit Wissen des Führers geflogen war.
Unter der Vorraussetzung, daß dies tatsächlich die Vorschläge von Heß sind, fällt auf, daß hier von einem Kompromiß auf der Grundlage des status quo, also ohne deutschem "Lebensraum" in der Sowjetunion die Rede ist. Auch in den Gesprächen mit Kirkpatrick und Simon sprach Heß immer nur von einem neuen Übereinkommen zwischen Hitler und Stalin, nicht aber von einem Krieg. Mit anderen Worten, Heß ging davon aus, daß im Falle eines deutsch-englischen Kompromißfriedens "Unternehmen Barbarossa" nicht stattfinden würde.
Damit erhebt sich die Frage, wie realistisch die Vorschläge von Heß und wie groß die Erfolgsaussichten seiner spektakulären Mission überhaupt waren.
Die britische Regierung unter Churchill hatte sich spätestens im März 1941, also zwei Monate vor dem Heßflug, auf einen totalen Krieg gegen Deutschland bis zum völligen Sieg festgelegt. Sie hofften, durch einen baldigen Kriegseintritt der USA und wenn möglich auch der Sowjetunion den Krieg über kurz oder lang zu gewinnen. Heß' Unternehmung hatte damit von vorne herein nur sehr geringe Erfolgsaussichten. Heß und Hitler hatten bereits seit dem Sommer 1940 über den deutschen Theoretiker der Geopolitik, Prof. Karl Haushofer, und seinen Sohn, Albrecht Haushofer, über die Schweiz und Portugal mit dem schottischen Herzog von Hamilton in Kontakt gestanden und dabei versucht herauszufinden, inwieweit konservative britische Politiker, die Churchills bedingungslosen Kriegskurs ablehnten, zu einer Verständigung bereit seien. Da im Herbst 1940 bereits absehbar war, daß England bei einer Fortsetzung des Krieges der finanzielle Bankrott und die völlige Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten drohten, ging man in Berlin davon aus, daß es eine heimliche Opposition gegen Churchill geben müsse. Hitler und Heß setzten dabei insbesondere auf den Zeitungsverleger Lord Beaverbrook, der damals britischer Minister für Flugzeugproduktion war. Inwieweit es eine solche Opposition tatsächlich gab, ist unklar, auf jeden Fall erfuhr der britische Geheimdienst sehr bald von den inoffiziellen Kontakten von Heß und den Haushofers zum Herzog von Hamilton und begann, diese für seine eigenen Zwecke auszunutzen. Nachdem Hitler angedeutet hatte, er würde seinen Stellvertreter nach England schicken, war es das Ziel der britischen Geheimdienstführung, Heß zu einem Alleinflug nach England zu bewegen. Offen ist, welche Absicht der Secret Intelligence Service damit verfolgte. Entweder wollte man Heß nach England locken, um dann als Instrument der psychologischen Kriegsführung und der Desinformation einzusetzen, insbesondere um durch die Vorspiegelung ernsthafter Verhandlungen mit der deutschen Reichsregierung Druck auf die amerikanische und die sowjetische Führung auszuüben. Oder es gab tatsächlich eine Opposition gegen Churchills Kriegspolitik, und der Flug von Heß nach England sollte das Signal zum Sturz des Premierministers sein.
Es ist durchaus möglich, daß zwei verschiedene Gruppierungen unabhängig voneinander die beiden genannten Ziele verfolgten, und es ist ebenso möglich, daß einige britische Geheimdienstleute dabei ein Doppelspiel trieben.
Auf jeden Fall flog Heß am 10. Mai 1941 nach Schottland, um sich mit dem Herzog von Hamilton zu treffen, der dort die britische Luftverteidigung kommandierte. Churchill hatte auf bisher unbekannten Wegen rechtzeitig von dem Erscheinen von Heß erfahren und seine Gegenmaßnahmen getroffen, so daß aus dem geplanten Umsturz, wenn er je ernsthaft geplant gewesen sein sollte, nichts wurde. Damit war die Mission von Heß gescheitert.
Nach einer kurzen Phase der Unsicherheit, wie die Affäre Heß propagandistisch am besten auszunutzen sei, startete die britische Regierung eine Desinformationskampagne.
Die militärische Lage war für Großbritannien im Frühjahr 1941 ausgesprochen schlecht, die englische Rüstungsindustrie war der deutschen weit unterlegen.
London hatte bisher wenig Erfolg damit gehabt, Moskau zu einem Bündniswechsel auf die Seite Englands und Washington zum offenen Kriegseintritt zu bewegen. Der Flug von Heß wurde nun dazu benutzt, wie von einem Teil der Geheimdienstführung wahrscheinlich ursprünglich vorgesehen, bei der sowjetischen wie der amerikanischen Führung den Eindruck zu erwecken, daß gewisse Kreise in der englischen Regierung bereit seien, auf das deutsche Friedensangebot einzugehen. Dieses Manöver um angeblich ernsthafte Gespräche mit Heß sollte die amerikanische Regierung zu mehr materieller Unterstützung und zum baldigen Kriegseintritt veranlassen. Die Sowjets sollten durch die Drohung, den Kriegszustand zwischen England und Deutschland zu beenden, davon abgehalten werden, ein neues, noch umfangreicheres Abkommen als das vom 28. September 1939 mit Berlin abzuschließen.
Mitte April 1941 hatte London aus diplomatischen Quellen Berichte über einen für Anfang Juni geplanten deutschen Angriff auf die Sowjetunion sowie über deutsche Kriegsvorbereitungen im Osten erhalten. Die britische Regierung hielt dies aber für Bestandteile eines Nervenkrieges, da ein Feldzug gegen die Sowjetunion die deutschen militärischen Kräfte überspannen und die deutsche Wirtschaft in erhebliche Schwierigkeiten bringen würde, da sie auf sowjetische Rohstofflieferungen angewiesen war, die im Kriegsfall natürlich fortfielen.
Ende April/Anfang Mai konnte "Ultra", die englische geheime Funkaufklärung, durch Entschlüsselung des Funkverkehrs der deutschen Luftwaffe, der mittels der Chiffriermaschine "Enigma" betrieben wurde, fragmentarisch deutsche Truppenbewegungen nach Osten feststellen. Mitte Mai waren außergewöhnliche deutsche militärische Vorbereitungen gegen Rußland nicht mehr zu übersehen. Die Nachrichten aus diplomatischen Quellen waren aber widersprüchlich, ein Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde in London ebenso für möglich gehalten wie der Abschluß eines neuen Abkommens.
Über die sowjetischen Kriegsvorbereitungen wußten die britischen Nachrichtendienste so gut wie nichts; sie litten nicht nur unter der rigorosen sowjetischen Geheimhaltung, die auch den deutschen Nachrichtendiensten schwer zu schaffen machte, sie hatten auch seit Mitte der dreißiger Jahre ihre Anstrengungen fast ausschließlich auf die Achsenmächte konzentriert. Im Ergebnis war der Wissensstand Londons über das militärische Potential sowie die politischen Absichten Sowjetrußlands nur sehr gering.
Die britische Regierung spielte Moskau nun ernsthafte Verhandlungen mit dem Stellvertreter des Führers Rudolf Heß vor und übermittelte den Sowjets gleichzeitig Informationen des britischen Nachrichtendienstes über den deutschen Aufmarsch im Osten, über den Moskau allerdings aus eigenen Quellen gut informiert war. Durch das Zusammenwirken von Drohungen und Kooperationsangeboten sollte die sowjetische Führung zu einer Annäherung an England bewegt werden.
Moskau reagierte auf dieses Spiel aus guten Gründen nervös und äußerst mißtrauisch.
Molotow hatte durch seine provozierenden Forderungen im November 1940 in Berlin die deutsche Aufmerksamkeit nach Osten gelenkt, um "Unternehmen Seelöwe", die deutsche Landung in England, zu verhindern, und die weitere Kriegsteilnahme Englands zu sichern. Ein deutsch-englischer Kompromißfrieden hätte die Sowjetführung, nachdem sie zugunsten Londons die Konfrontation mit Berlin gesucht hatte, in die Lage gebracht, allein gegen das Deutsche Reich zu stehen, ja möglicherweise die gesamte kapitalistische Welt gegen sich zu haben - der alte Alptraum Moskaus. Inwieweit das britische Spiel mit Heß die Entscheidungen Stalins im Frühjahr 1941 tatsächlich beeinflußt hat, ist mangels Unterlagen nicht festzustellen; die russische Geschichtsschreibung schweigt sich zu diesem Thema bislang aus.
Zuletzt stellt sich die Frage, ob, wenn es Heß tatsächlich gelungen wäre, einen Kompromißfrieden oder einen modus vivendi zwischen Deutschland und England auszuhandeln, es dann noch zum Krieg zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion gekommen wäre. Diese Frage läßt sich nur spekulativ beantworten, da der Moskauer Entscheidungsprozeß trotz der Aktenveröffentlichungen der letzten Jahre nur bruchstückhaft bekannt ist, und da im Falle Heß die wichtigsten englischen Akten nach wie vor gesperrt sind.
Was Stalin und die sowjetische Führung angeht, so hatten diese seit den Tagen der Oktoberrevolution immer wieder die Befürchtung geäußert, die kapitalistischen Mächte könnten sich, ähnlich wie während der alliierten Intervention im russischen Bürgerkrieg 1918 - 1920, zusammenschließen um dem ersten sozialistischen Staat der Welt ein gewaltsames Ende zu bereiten. Nach Lenin und Stalin waren die Uneinigkeit und die Schwäche der kapitalistischen Welt die unverzichtbare Voraussetzung für den siegreichen Vormarsch des Sozialismus, für die Sowjetisierung Europas mit Hilfe der Roten Armee. Solange Großbritannien und die Vereinigten Staaten dem Deutschen Reich feindlich gegenüberstanden und sogar ein Bündnis mit der Sowjetunion anstrebten, war die Korrelation der Kräfte für eine gewaltsame Ausbreitung des Sozialismus in Europa günstig. Fanden Deutschland und England jedoch zu einem modus vivendi, so war die Korrelation der Kräfte nicht nur ungünstig, es drohte dann in den Augen Stalins ein gegen die Sowjetunion gerichtetes Bündnis der deutschen und britischen Imperialisten, dem sich möglicherweise auch noch Amerikaner und Japaner anschlossen. Ein Angriff der Roten Armee auf Mitteleuropa würde unter diesen Umständen nicht nur auf die volle, ungeteilte Kampfkraft der deutschen Wehrmacht treffen, er würde wahrscheinlich die Herbeiführung des von Moskau gefürchteten Bündnisses auch noch beschleunigen.
Zwar ging die Moskauer Führung nach ihren Äußerungen von der Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Deutschland aus, es ist aber sehr fraglich, ob Stalin diesen Krieg unter den geschilderten Umständen eröffnet hätte.
Was nun Hitler angeht, so ist zunächst festzustellen, daß die These, er hätte einen Stufenplan mit dem Ziel eines "rassenideologischen Vernichtungskrieges" und der Gewinnung von "Lebensraum im Osten" verfolgt, auf schwachen Beinen steht. Eine Überprüfung des deutschen Entscheidungsprozesses zeigt, daß Hitler gegenüber der Sowjetunion in den Jahren 1939-1941 zwischen Kooperation und Konflikt schwankte, daß die Planung für einen Feldzug gegen die Sowjetunion überwiegend real- und sicherheitspolitische Motive hatte, und daß die endgültige Entscheidung für "Unternehmen Barbarossa" erst ziemlich spät, im April 1941, fiel.
Hitler sprach wiederholt vom härtesten Entschluß seines Lebens, was darauf schließen läßt, daß er keineswegs bedingungslos zum Krieg gegen die Sowjetunion entschlossen war. Im Juni 1941 hatte Hitler gegenüber Marschall Antonescu dargelegt, daß der Aufmarsch der Roten Armee eine schwere Bedrohung für das Deutsche Reich darstellte. Stalin habe nun die Möglichkeit, Deutschland jederzeit anzugreifen, woran er, Hitler, allerdings weniger glaube; Stalin habe aber auch die Möglichkeit, seine militärische Stärke für Erpressungsmanöver oder einen Krieg gegen Finnland und Rumänien auszunutzen und damit die deutsche Rohstoffversorgung auf das schwerste zu bedrohen. Diese Gefahr bestehe insbesondere dann, wenn die deutsche Luftwaffe voll im Kampf gegen England gebunden sei. Außerdem würde England durch Stalins Haltung und den Aufmarsch der Roten Armee ermutigt, den Krieg gegen Deutschland fortzusetzen.
Kam es dagegen in elfter Stunde zu einer Verständigung zwischen London und Berlin, so entfielen, wenn man Hitlers Lageanalyse folgt, gewichtige Gründe für einen Feldzug gegen die Sowjetunion. Im Falle einer deutsch-britischen Verständigung verlor die Sowjetunion automatisch ihre Funktion als Festlanddegen Englands; und da nun die gesamte deutsche Luftwaffe im Osten konzentriert werden konnte, wären Stalins Erpressungsmöglichkeiten zumindest stark gemindert gewesen.
Außerdem hätte Deutschland nach Aufhebung der englischen Blockade Öl, Nickel und Getreide wieder auf dem Weltmarkt einkaufen können, was die Abhängigkeit von den durch Moskau bedrohten finnischen Nickelgruben und rumänischen Ölfeldern erheblich verringert hätte.
Zusammengefaßt gibt es also ernstzunehmende Argumente für die These, daß es im Falle einer deutsch-britischen Verständigung zu keinem Krieg zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion gekommen wäre. Wahrscheinlich wären die beiden Großmächte, ähnlich wie die USA und die UdSSR im Kalten Krieg, in einer Pattsituation verharrt.
Der Englandflug von Rudolf Heß hätte, wenn er von Erfolg gekrönt gewesen wäre, somit die Ausweitung des europäischen Krieges zum Zweiten Weltkrieg verhindern können. Aber letztlich sind dies Spekulationen, und mit Spekulationen sollte der Berufshistoriker möglichst sparsam umgehen.