Immer neue Skandale lassen weltweit die Aktienkurse einbrechen, die ersten Anleger geraten in Panik. Glänzende Aussichten für Spekulanten, die versuchen, überbewertete Aktien abzuschießen. Banken und Versicherungen verdienen mit - auf Kosten ihrer Kunden.
Das Hemd offen, die Hose ausgefranst - und vorn an seinem Fahrrad ein kleiner funkgesteuerter Reuters-Bildschirm: So radelt Hugh Hendry jeden Morgen gegen zehn Uhr zu seinem Büro im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair. An jeder Ampel studiert er die Börsenkurse - und je dicker die Aktien im Minus sind, desto besser wird die Laune des Schotten.
"Ich liebe es, wenn die Märkte einbrechen", sagt der Fondsmanager, und vergangene Woche war er ganz besonders verzückt. Die falschen Gewinne des US-Telefonriesen WorldCom, die schlechten Ergebnisse von Micron Technology und die falsch verbuchten Umsätze von Xerox lösten an den Weltfinanzmärkten erneut Panikverkäufe aus. "Das ist ein Blutbad", kommentierte der Londoner Wertpapierexperte David Buik die Ereignisse, "da draußen gibt es kein Vertrauen mehr."
Als Hendry seinen ersten Kaffee schlürfte, lag der Dax im Vergleich zur Vorwoche schon acht Prozent im Minus, die US-Technologiebörse Nasdaq war seit Jahresanfang um 29 Prozent abgestürzt, und die T-Aktie, einst der Deutschen liebstes Wertpapier, schlitterte auf ein historisches Tief. Der Fondsmanager von Odey Asset Management konnte sein Glück kaum glauben.
Hendry gehört zur Spezies jener Börsenhändler, die erst richtig Geld verdienen, wenn die Kurse in den Keller krachen. Er managt einen so genannten Hedge-Fonds - und spekuliert auf fallende Aktien.
Das Börsenklima könnte für die HedgeFonds günstiger nicht sein, die Nerven der Anleger liegen blank. Erst in der vergangenen Woche waren sie wieder aufs Äußerste strapaziert worden. Da wurde bekannt, dass der Telekommunikationskonzern WorldCom in den vergangenen Jahren die Gewinne in der Bilanz systematisch - und in krimineller Weise - aufgebläht hatte, um unvorstellbare 3,8 Milliarden Dollar.
Die Schockwellen breiteten sich rund um den Globus aus: Die Nachricht, in den USA nach Schließung der Wall Street bekannt geworden, erreichte zunächst die asiatischen Börsen, Tokio eröffnete minus zwei Prozent, sie setzten sich in Europa fort (Frankfurt: minus sechs Prozent), um dann schließlich wieder am Ausgangspunkt anzugelangen. Die Eröffnungskurse in New York lagen um vergleichsweise moderate zwei Prozent unter den Schlusskursen vom Vortag.
Da war sie wieder, die Angst vor dem Ausverkauf. Die Angst vor dem Tag, an dem auch noch die letzten Aktionäre verzweifelt ihre Papiere auf den Markt werfen. Die Angst vor der Kapitulation der Märkte.
Noch war es nicht so weit, die Börsen erholten sich leicht - aber die Nervosität blieb und mit ihr die Gewissheit: Das Schlimmste ist noch nicht überstanden.
Seit der großen Depression Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat es eine vergleichbare Stimmung an der Börse nicht mehr gegeben. Wenn sich nichts Grundlegendes ändert, wird die Wall Street in sechs Monaten das dritte Jahr in Folge mit einem dicken Minus beenden.
DER SPIEGEL
Veränderung des Dax und des Dow-Jones-Index
Als nach der Kursexplosion in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die Kurse im Jahr 2000 erstmals deutlich zu sinken begannen, sah kaum jemand Anlass zur Panik. Allzu offensichtlich erschien selbst überaus optimistischen Anlegern, dass die Börse mit ihren Hoffnungen in die New Economy ein wenig übertrieben hatte: Neue Unternehmen, die nie einen Gewinn erwirtschaftet hatten, waren mit Milliarden bewertet, jede noch so vage Ankündigung eines neuen Geschäftsabschlusses hatte die Kurse weiter aufgebläht.
Eine gesunde Korrektur sei nötig, sagten die Experten, und so blieben die Anleger ruhig, als die Kurse bröckelten. Viele nutzten das niedrigere Niveau zu vermeintlich günstigen Nachkäufen. Der Glaube an die Börse als eine nie versiegende Quelle des Reichtums war ungebrochen.
Im Jahr 2001 rutschten die Kurse weiter. Kein Wunder, eine Wachstumsschwäche hatte die Wirtschaft erfasst. Doch die Ökonomen gaben Entwarnung. In der zweiten Jahreshälfte, so ihre Prognosen, sollte es mit der Wirtschaft wieder aufwärts gehen - und solche Aussichten beflügeln in der Regel auch die Kurse. Langsam schien es wieder aufwärts zu gehen.
Dann kam der 11. September, die Kurse brachen ein. Verunsicherung machte sich breit: Würde eine Welle des Terrors die westliche Welt erschüttern und die Weltwirtschaft über Jahre niederdrücken?
Der Optimismus kehrte schnell zurück. Das Börsenjahr schloss zwar negativ, aber viele Aktien hatten gegen Jahresende schon die Verluste des 11.-September-Schocks mehr als ausgeglichen.
Niemand ahnte zu dieser Zeit, dass Amerikas Wirtschaft und den Weltbörsen ein ganz anderer Feind droht, einer, der noch schwieriger zu bekämpfen ist und der fast irreparable Schäden anrichtet. Einer, der das Fundament zerstört, auf dem die Börse - und damit die ganze Wirtschaft - ruht: das Vertrauen. Zwar sorgte der Fall Enron schon im November 2001 für Schlagzeilen und helle Empörung: Der Energiekonzern hatte Verluste trickreich in Tochterfirmen ausgelagert, die in der Bilanz nicht auftauchten.
Aber erst in den vergangenen Monaten zeigte sich, dass Enron kein Einzelfall war. Seitdem kommen regelmäßig neue Börsen-Betrügereien ans Tageslicht. Der Fall WorldCom war der bislang spektakulärste, aber nicht der letzte. Am Freitag meldete das "Wall Street Journal" eine erneute Bilanzprüfung beim Kopiererhersteller Xerox habe ergeben, dass Umsätze in Höhe von sechs Milliarden Dollar falsch verbucht worden seien.
Wem sollen die Anleger noch glauben? Bilanzen wurden gefälscht, Aufsichtsräte und Wirtschaftsprüfer versagten, Analysten empfahlen Werte, die ihnen selbst als Schrott erschienen, Banken brachten jede Bruchbude an die Börse - Hauptsache, die (eigene) Rendite stimmte.
In Deutschland blieben die großen Gaunereien bislang auf den Neuen Markt beschränkt, das Börsensegment für Wachstumswerte entpuppte sich als Tummelplatz von Blendern und Betrügern.
Aber das Misstrauen trifft auch die großen Dax-Werte. Hatte nicht Ron Sommer einst versprochen, die T-Aktie sei sicher? Inzwischen notiert sie weit unter ihrem Ausgabekurs.
Wer den Unternehmen, ihren Führern und ihren Zahlen nicht vertraut, der kauft auch keine Aktien. Plötzlich wird in Frage gestellt, was in den vergangenen Jahren Gewissheit schien: Ist es denn zwangsläufig, dass Aktien langfristig von allen Anlageformen die beste Rendite erwirtschaften? Und wenn nicht: Ist es dann nicht besser, alles zu verkaufen?
Wer Anfang 1998 in die 30 größten börsennotierten Unternehmen investierte, hat nichts gewonnen. Seit März 2000 ist der Dax sogar um fast 50 Prozent abgestürzt. Die T-Aktie hat sich seit ihrem Höchststand von 103,90 Euro vor gut zwei Jahren mehr als dreimal halbiert.
Viele Aktien aber, sagen die Experten, sind noch immer zu teuer. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis, das die Bewertung von Aktien widerspiegelt, liege noch immer über dem langfristigen Durchschnitt. Das heißt: Nach unten ist noch viel Luft.
Gute Zeiten also für Menschen, die mit Angst und Panik Geschäfte machen - tolle Aussichten für Hedge-Fonds.
Die T-Aktie näherte sich am Mittwoch vergangener Woche bedenklich der Acht- Euro-Marke. Auf dem Papier verloren private Anleger mit der Volksaktie über 150 Milliarden Euro. Hendry hat mit der Aktie viel Geld verdient.
Jetzt interessiert ihn das Papier nicht mehr. Die Aktie sei langweilig, sagt er bedauernd - und sucht sich neue Opfer.
Hedge-Fonds leihen sich Aktien, von denen sie glauben, dass sie abstürzen werden. Dann verkaufen sie die Stücke, was den Kurs schon etwas drückt, vor allem aber weitere Verkäufe nach sich zieht. Wenn ihre Rechnung aufgeht, können sie ihre Aktien an der Börse wieder billig einsammeln und dem Verleiher zurückgeben. Je tiefer die Papiere fallen, desto höher ist ihr Gewinn.
Doch wer leiht den Spekulanten die Aktien? Es sind Banken, Versicherungen, Pensionskassen und Investmentfonds, die den Hedge-Fonds gegen eine geradezu lächerliche Gebühr die Munition für ihre Attacken liefern - und die damit den eigenen Kunden oft schaden. Ein Schweizer Privatbankier ärgert sich über die eigene Branche: "Nur die allerdümmsten Kälber, füttern ihren Metzger selber."
Egal ob Allianz, Axa oder die Pensionskasse von IBM Deutschland, überall erliegen die Geldmanager der gefährlichen Versuchung. Vor allem die Manager von gebeutelten Aktienfonds mischen mit, sie wollen sich auf diese Weise wenigstens kleine Einnahmen sichern. Das Fondsmanagement der DekaBank betreibt die Leihe erst seit wenigen Monaten, hat aber bereits Aktien für "200 Millionen Euro" abgegeben, so ein Sprecher.
Die Union Investment, die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken, hat allein in ihrem 3,2 Milliarden Euro schweren UniEuroStoxx 50 rund 30 Prozent ihrer Bestände, also eine Milliarde Euro, verliehen. Titel von Siemens, Deutsche Bank, Aventis, Nokia oder Royal Dutch gehen so an die gefürchteten Hedge-Fonds.
Das Geschäft, räumt Union-Investment-Sprecher Rolf Drees ein, "wird zwar kritisch beäugt". Doch jeder macht es. Zudem gehe die Spekulation der Hedge-Fonds nicht immer auf: "Dann freuen wir uns."
Viele Volkswirte versichern, dass Hedge-Fonds Aktienkurse bestenfalls kurzfristig beeinflussen können. Und auch nur bei einzelnen Werten - für die derzeitige Krisenstimmung an den Märkten seien sie also nicht verantwortlich.
Wirklich nicht? Hedge-Fonds spekulieren mit der Angst der Anleger, sie verstärken die Ausschläge nach unten, und die lassen das Vertrauen weiter schwinden.
Der Schotte Hendry, der 300 Millionen Dollar verwaltet, kann solche Vorwürfe nicht verstehen. "Wir können nur den Trend verstärken", sagt er mit dem Hinweis auf die kleine Kapitalbasis seines - und vieler anderer - Fonds.
Tatsächlich verwalten die Hedge-Fonds weltweit zwar "nur" rund 600 Milliarden Dollar, so viel wie eine größere Versicherung. Doch entscheidend ist der Hebeleffekt, weil bei den Leihgeschäften mit wenig Kapitaleinsatz riesige Aktienmengen bewegt werden können.
Letztendlich aber stört Hendry all das Gerede nicht. Obwohl die meisten europäischen Aktienmärkte in diesem Jahr 15 Prozent und mehr verloren haben, liegt sein Depot, wie er sagt, seit Anfang des Jahres mit 12 Prozent im Plus - dank Werten wie Telekom und MLP.
Hendry rechnet mit einer zweiten Welle des Ausverkaufs, und er weiß auch schon, auf wen er sich einschießen wird: Er setzt sein Geld darauf, dass sich die Kurse der beiden deutschen Vorzeigeunternehmen Siemens und SAP innerhalb kurzer Zeit halbieren werden. "Ende des Jahres liegt der Kurs von SAP bei 50", prophezeit er. Beide Hightech-Unternehmen sind noch nicht so stark wie die Telekom-Konzerne gefallen. Doch Hendry sieht keinen Grund, warum Siemens besser abschneiden sollte als viele wichtige Kunden aus der Technologiebranche.
Zwar sind viele Wertpapiere in den vergangenen Monaten schon dramatisch eingebrochen. Doch "sie werden weiter fallen", so Hendrys einfache Botschaft.
"Dieselben Übertreibungen, die wir auf dem Höhepunkt der Hausse im Jahr 2000 nach oben hatten, werden wir jetzt nach unten erleben", prophezeit Hendry.
Behält er Recht, wird der Dax auf 2000 Punkte fallen und der Dow Jones noch einmal um die Hälfte abstürzen.
BEAT BALZLI, ARMIN MAHLER, CHRISTOPH PAULY, WOLFGANG REUTER
Gruß Pichel