Erstmals nach dem Zerfall der Sowjetunion kann Russland jetzt seine wichtigen Trumpfkarten ausspielen - die immensen Öl- und Gasvorräte.
.
MOSKAU, 01. Juni (Igor Tomberg für RIA Novosti). Es ist bereits eine Tradition, Kartenspiel-Termini im Lexikon der Journalisten und Politiker zu verwenden. "Zum ersten Mal nach dem Zerfall der Sowjetunion kann Russland jetzt seine wichtigen Trümpfe ausspielen. Die allerwichtigsten davon sind immense Gasvorräte", schrieb die britische Zeitung "Financial Times" zu den jüngsten Streitigkeiten zwischen dem Westen und Russland in der Energiesphäre.
Als der russische Ölkonzern Gasprom die Wahl der Partner für die Erschließung des Gaskondensatfeldes Stockmann ein weiteres Mal verschoben hatte, erinnerten sich westliche Massenmedien plötzlich an eine Erklärung des russischen Präsidentenberaters Igor Schuwalow, die er einen Monat zuvor abgegeben hatte. Während seiner US-Visite warnte Schuwalow Washington im April: "Wenn die USA bei Verhandlungen über den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) auf weitere Forderungen bestehen, die gegenüber anderen Ländern nicht gestellt wurden, kann Russland seine ebenfalls neuen Forderungen an solche US-Unternehmen nicht ausschließen, die sich am Stockmann-Projekt beteiligen wollen."
Die endgültige Entscheidung bei der Wahl der Stockmann-Partner wurde tatsächlich verschoben, und zwar nicht zum ersten Mal. Im September 2005 erklärte Gasprom, dass die Wahl unter fünf Firmen binnen sechs Monaten getroffen wird. Die Bewerber sind die Energiekonzerne Chevron und ConocoPhillips (USA), Statoil und Norsk Hydro (Norwegen) sowie Total (Frankreich). Im März 2006 schlug Gasprom-Chef Alexej Miller jedoch den Bewerbern vor, ihre Angebote zu vervollkommnen. Die Annahme des Beschlusses wurde für April geplant, aber dann auf Mai verschoben. Mitte Mai teilte Russlands Industrie- und Energieminister Viktor Christenko mit, dass die Zusammensetzung des Konsortiums zur Erschließung des Gaskondensatfeldes Stockmann erst im Sommer bestimmt werde. Die Ursache für die weitere Verschiebung erklärte der Minister damit, dass das Projekt einmalig ist.
Formell ist die Auswahl der Partner eine Prärogative von Gasprom. Die Verzögerungen führt der russische Gaskonzern darauf zurück, dass das Projekt äußerst kompliziert ist, wenngleich dies nur eine der Ursachen ist. Gasprom will Stockmann-Ressourcen gegen Technologien zur Unterwasser-Förderung und Gasverflüssigung sowie gegen Absatzmärkte eintauschen. Zudem soll der russische Gasriese das Recht auf eine Beteiligung an strategischen Projekten seiner künftigen Partner in anderen Ländern erhalten. Auf der Tagesordnung stehen auch finanzielle Verpflichtungen der ausländischen Teilnehmer, Geld in die Förderung, den Unterwassertransport und in den Bau einer Gasverflüssigungsfabrik zu investieren.
Zugleich bedarf die endgültige Entscheidung einer Billigung des Kremls. Der Termin für den WTO-Beitritt ist für Moskau kaum ausschlaggebend. Aber die Unzufriedenheit damit, dass die USA bei WTO-Beitrittsverhandlungen immer neue Hindernisse auftürmen, zwingt Moskau dazu, die "Gas-Trumpfkarte" auszuspielen. Von den verbliebenen ungelösten sechs Problemen beim WTO-Beitritt Russlands - Zugang zu Finanzmärkten, Subventionen und Tarife in der Agrarwirtschaft, phytosanitäre Maßnahmen, der Schutz von geistigem Eigentum wie auch einige Positionen zu Flugzeugen und deren Bauteile - wurden mindestens fünf von Washington aufgeworfen.
In Wirklichkeit ist die Liste gemeinsamer Projekte, die infolge einer Abkühlung der Beziehungen zwischen Russland und den USA gefährdet sein könnten, nicht auf das Stockmann-Projekt allein beschränkt. Dazu gehört zum Beispiel ein Vertrag über den Erwerb von Boeing-Flugzeugen für drei Milliarden Dollar durch die russische Fluglinie Aeroflot, die Zusammenarbeit bei der Lösung des Iran-Problems wie auch die nukleare Sicherheit. Nicht von ungefähr spricht der Chef der russischen Atombehörde Rosatom, Sergej Kirijenko, der jetzt den Weg für russische Uranexporte an den US-Markt ebnet, vom Recht eines jeden Landes, darunter auch des Iran, auf die friedliche Nutzung von Atomkraft.
Man muss zugeben, dass Russland die "Energiewaffe" in der globalen Diplomatie einsetzt. Aber Behauptungen von US-Vizepräsident Dick Cheney, wonach die Ukraine, Georgien oder Moldawien dabei erpresst werden, sind absolut fehl am Platze. Ist denn die Festlegung gerechter Preise für die eigene Ware Erpressung oder Kommerz? Um aber dem offenen Druck des Westens in Fragen der eigenen unabhängigen Energie- oder Handelspolitik zu widerstehen, braucht Moskau tatsächlich ernsthafte Trümpfe wie Gas, Öl oder Uran...
Die gegenwärtige Unzufriedenheit westlicher Mächte ist leicht erklärbar. "Der Ölboom und die fiskalische Sparsamkeit der Regierung Putin bringen die USA und den Westen um jene Hebel, mit denen Russland unter Druck gesetzt werden könnte und die der Westen in den 1990er Jahren besessen hatte", schrieb die britische Zeitung "The Times". "Russland schwimmt im Geld, das Land ist nicht mehr auf Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder auf die Abschreibung der restlichen Verbindlichkeiten durch westliche Regierungen angewiesen."
Eben deshalb wurde Schuwalows Äußerung zum Stockmann-Projekt im Kontext der Komplikationen beim WTO-Beitritt Russlands im Westen derart schmerzvoll empfunden. Auf die Frage eines Korrespondenten der russischen Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" (Ausgabe vom 23. Mai 2006), ob der Zugang US-amerikanischer Unternehmer zum Stockmann-Feld bei seinem US-Besuch im April mit dem WTO-Beitritt Russlands in Verbindung gebracht wurde, sagte der Präsidentenberater: "Nein, ich habe diese Frage auf keine Weise vom Beitritt unseres Landes zur WTO abhängig gemacht. Ich habe gesagt: Sie stellen uns Fragen in Bezug auf das Stockmann-Vorkommen, Sie sagen, dass Russland ein strategischer Partner ist. Aber sowie es um die WTO geht, werden unsere eigenen strategischen Interessen aus irgendeinem Grund nicht berücksichtigt. Das ist merkwürdig: Einerseits bekennen sich die USA verbal zum WTO-Beitritt Russlands und ziehen diesen Prozess andererseits in die Länge. Sie (USA) hatten doch erklärt, dass sie Russland als ein starkes demokratisches Land sehen möchten. Waren denn diese Erklärungen erlogen?"
Es handelt sich, wie wir sehen, um prinzipielle Momente, so um das Wesen der strategischen Partnerschaft, die im Westen etwas einseitig verstanden wird.
Russland will sich jetzt nicht mehr mit der Rolle eines Rohstoffanhängsels begnügen. "Europa muss sich darüber klar werden, dass sich die Situation geändert hat. Wir sind kein Rohstoffland mehr. Diesen Zustand unserer Wirtschaft betrachten wir als provisorisch", sagte Schuwalow. Daraus resultiert eine überaus ernsthafte Schlussfolgerung. Der Präsidentenberater sagte, dass Russland Öl und Gas nie als ein Instrument der politischen Erpressung missbraucht hat und nie missbrauchen wird, und gab somit eine programmatische Erklärung ab: "Wir sind bereit, Europa mit Öl und Gas langfristig zu versorgen. Dabei übernehmen wir die Rolle eines Leaders".
Es liegt klar auf der Hand, dass diese Erklärung im Zusammenhang mit dem bevorstehenden G8-Gipfel abgegeben wurde. Gerade die führende Stellung (Russlands) im Energiebereich in weltweitem Maßstab wird der russischen Position beim Treffen in St. Petersburg zugrunde gelegt. Und nicht nur bei diesem Gipfeltreffen, sondern auch in der künftigen Energiepolitik Russlands. Der Westen wird das in Kauf nehmen müssen.
Zum Verfasser: Igor Tomberg ist führender Mitarbeiter am Zentrum für Energieforschungen des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften.
de.rian.ru/analysis/20060601/48932579.html