Globalisierung: "Diese Ordnung ist eine Anarchie"

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Globalisierung: "Diese Ordnung ist eine Anarchie"

 
11.02.02 01:00
Heiner Geißler, CDU-Querdenker und Ex-Minister, plädiert im Vorfeld einer Diskussionsveranstaltung in dieser Woche für fairere Regeln der Weltwirtschaft und Änderungen im Sozialwesen.

"DIE PRESSE": Das Thema Globalisierung erzeugt Ängste in der Bevölkerung, die sich teils sogar in Gewalt äußern. Warum?

Heiner Geißler: Eine Voraussetzung in der Politik, die für das friedliche Zusammenleben der Menschen grundlegend ist, besteht in der globalisierten Ökonomie nicht: es herrscht keine Ordnung. Wie der amerikanische Sozialwissenschaftler Benjamin Barber von der University of Maryland neulich gesagt hat, gibt es in der globalen Ökonomie keine Regeln und keine Gesetze. Dadurch kommt es zu Verwerfungen und auch zu Exzessen. Die globalisierte Wirtschaft besteht insoweit im Gegensatz zu der sozialen Marktwirtschaft, die den geordneten Wettbewerb kennt.

Bedeutet Globalisierung das Ende der sozialen Marktwirtschaft?

Geißler: Die soziale Marktwirtschaft geht dann verloren, wenn wir dieselben Fehler machen, wie unsere Vorfahren zur Zeit der Industrialisierung. Die glaubten nur an die Gesetze des Marktes und ordneten den Interessen des Kapitals alles unter. Das Ergebnis war das "Kommunistische Manifest" mit allen Auswirkungen, die damit verbunden waren. Wir sollten nicht zu den Zeitgenossen gehören, die Fehler immer zwei und drei Mal machen, damit man sie besonders gut beherrscht. Umgekehrt ist es richtig: wir brauchen eine internationale soziale Marktwirtschaft.

Ist die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards auch in einer globalisierten Welt noch ein richtungsweisendes Muster?

Geißler: Es gibt keine Alternative. Ich glaube nicht, daß das amerikanische Modell, das auf Neoliberalismus und Kapitalismus pur oder - anders ausgedrückt - dem Verfolgen des "Shareholder value" anstelle der sozialen Marktwirtschaft basiert, eine zukunftsversprechende Philosophie ist. Der geordnete Wettbewerb in der sozialen Marktwirtschaft fordert das Einhalten einiger bestimmter Regeln, vom Steuerrecht angefangen bis hin zum Tarifrecht. In dem Moment, in dem sich Ökonomie globalisiert, entzieht sie sich diesem Ordnungsrahmen, den der Staat und die Politik garantieren muß. Plötzlich werden Werte verabsolutiert, die vorher in diese Ordnung eingebunden waren, die Dividende am Ende eines Jahres, der Börsenwert eines Unternehmens, der Aktienkurs, eben shareholder value.

Die Globalisierungsgegner haben in Porto Alegre betont, man sei nicht gegen die Globalisierung als solche, sondern allein gegen deren neoliberalistische Ausprägungen.

Geißler: Ich glaube, das ist der richtige Ansatz. Die Globalisierung ist eine Folge der technologischen Revolution und kein Mensch denkt daran, sie wieder rückgängig zu machen. Aber die Unordnung auf den Kapitalmärkten führt zu widersinnigen Entwicklungen. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Einerseits geben wir viel Geld aus, um entsprechend den Beschlüssen von Rio die Regenwälder zu schützen, gleichzeitig jedoch subventionieren dieselben Staaten in Brasilien Papierfabriken mit der Folge, daß die zu schützenden Wälder abgeholzt werden.

Worin liegen die Gründe dafür?

Geißler: Hier dominieren die Kapitalinteressen absolut. Inzwischen hat sich aufgrund dieser ungeordneten Entwicklungen eine Kluft zwischen Arm und Reich aufgetan, die nicht akzeptabel ist. Nur 225 Menschen verfügen über ein Vermögen von einer Billion Dollar, das ist genausoviel wie die Hälfte der Menschheit, also drei Milliarden, an jährlichem Einkommen hat. Eine solche Ordnung kann man nicht mehr als Ordnung bezeichnen, das ist Anarchie.

Droht uns eine Revolution?

Geißler: Nur Phantasten und Lügner können glauben, man könne auf Dauer Hunderte von Millionen Menschen sozial ausgrenzen. Es gibt in der Politik keine überflüssigen Menschen. Die gibt es einmal in einem Unternehmen, dann bekommen sie eine Kündigung, aber in der Politik hat jeder eine Stimme und die werden sie nutzen. Wenn sie keine Stimme haben, weil sie in keiner Demokratie leben, dann werden sie sich Waffen besorgen. Die Anschläge auf das World Trade Center haben auch erhebliche soziale und gesellschaftspolitische Hintergründe.

War der 11. September vielleicht die Einleitung eines Paradigmenwechsels in Politik und Wirtschaft?

Geißler: Für den 11. September gibt es sicher viele Gründe, aber der religiöse Fundamentalismus war allein nie in der Lage, einen Fanatismus zu produzieren, der die Fanatisierten dann zu solchen Wahnsinnstaten treibt. Es ist immer etwas anderes hinzugekommen, was ein solch explosives Gemisch bewirkt hat. Meistens der Nationalismus oder das Gefühl von Diskriminierung, Ausbeutung und Armut. Eine der Konsequenzen, die gezogen werden müssen - neben der Bekämpfung des Terrorismus -, ist eine Änderung der Weltpolitik. Was wir brauchen, ist eine internationale soziale Marktwirtschaft.

Wie ist eine internationale soziale Marktwirtschaft zu realisieren?

Geißler: Die Frage ist bereits positiv beantwortet, und zwar seit der Ostasien-Krise. Die G7-Staaten und die G8-Staaten sind bereits dabei, international geltende Regelungen zu vereinbaren. Beispielsweise eine internationale Bankenaufsicht, nach Möglichkeit eine gemeinsame Zinspolitik, die Überlegungen einer Spekulationssteuer, die totale Öffnung der Märkte. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Abbau der Handelszölle auf der Seite der westlichen Demokratien, um den Entwicklungsländern freien Zugang für ihre Waren auf den Märkten der Industrieländer zu ermöglichen.

Wodurch verzögert sich dieser Prozeß?

Geißler: Die Europäer sind gar nicht so sehr das Problem. Die Amerikaner stehen sozusagen auf der Bremse. Amerika, der autarke Wirtschaftsgigant, hat bis vor kurzem einen Isolationismus geübt, der durch die Anschläge vom 11. September einen schweren Schlag erlitten hat. Amerika ist durch diesen Angriff verwundbar geworden. Aus dieser Erkenntnis müssen die Amerikaner Konsequenzen ziehen. Sie dürfen nicht, wie über Monate hindurch geschehen, das Kyoto-Protokoll für den ökologischen Schutz der Erde boykottieren. Diesen Boykott haben sie jetzt nicht aus Überzeugung aufgegeben, sondern um die Anti-Terror-Koalition zusammenzubringen.

Hat der Mensch seinen Stellenwert nicht schon verloren?

Geißler: Wenn wir eine Wirtschaftsordnung haben, die den Menschen eliminiert, dann haben wir die umgekehrte Antwort zum Kommunismus. Die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit bestehen neben den modernen Produktionsfaktoren Know how, Wissen und moderne Technologie nach wie vor. Aber es kommt darauf an, wie man auf diesen Konflikt reagiert. Die Kommunisten haben versucht, das Problem dadurch zu lösen, daß sie das Kapital eliminierten und die Kapitaleigner liquidierten. Jetzt haben wir den umgekehrten Prozeß. Kapital eliminiert die Arbeit und liquidiert die Menschen am Arbeitsplatz. Der Kapitalismus ist eben genauso falsch wie der Kommunismus. Diese Erkenntnis hat sich leider noch nicht durchgesetzt.

Was meinen Sie damit?

Geißler: Die führenden Vertreter global agierender Unternehmen operieren, als ob es den Faktor menschliche Arbeit gar nicht gäbe und als ob es auf ihn gar nicht ankäme. Und das ist ein großer Irrtum. Außerdem sind erhebliche Fehler gemacht worden. Die großen globalen Konzerne, wie DaimlerChrysler jetzt auch, fahren Verluste ein, weil sie sich eben nur am Kapital orientieren und rein den Marktgesetzen entsprechen. Aber der Markt ist blind. Markt allein kann ein positives Ergebnis nicht zustande bringen.

Beim Weltwirtschaftsforum wurde Europa vorgeworfen, notwendige Strukturanpassungen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu unterlassen. Was können Sie aus deutscher Perspektive dazu sagen?

Geißler: Die Strukturverbesserungen, die gemacht werden müssen, liegen im Bereich der Sozialversicherungen und natürlich auch im Bereich des Arbeitsmarktes. Aber bitte nicht nach dem amerikanischen Modell. Die Amerikaner haben selber einen hohen Bedarf an Reformen. Armut in Amerika, vor allem im Mittelstand, nimmt rasant zu. 40 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung. Auf 100.000 Einwohner in Amerika kommen zwölf Kapitalverbrechen. In Europa sind es zwei. Und der Drogenkonsum nimmt zu. Das amerikanische Erziehungsministerium schätzt, daß 27 Prozent der Amerikaner Analphabeten sind, vor allem Farbige, die von der Armut besonders betroffen sind. Selbst der überzeugteste Turbo-Kapitalist erkennt doch, daß die finanziellen Folgeschäden einer antisozialen Politik viel höher sind als die Ersparnisse. Natürlich haben auch die Europäer ihre Hausaufgaben noch nicht vollständig gemacht.

Welche genau meinen Sie?

Geißler: Das zentrale Problem in Deutschland, ähnlich wie in Österreich, besteht darin, daß die Beiträge der großen Sozialversicherungssysteme ausschließlich an den Lohn gekoppelt sind. Das funktioniert solange, wie die Arbeitslosigkeit gering ist. Nimmt sie aber zu, dann sinkt auch die Zahl der Beitragszahler. Dadurch erhöht sich der Druck in Richtung einer Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge. Das wiederum führt dazu, daß Arbeitsplätze möglicherweise abgebaut werden - ein Teufelskreis.

Gibt es Alternativen?

Geißler: Man müßte das soziale Netz entweder über die Steuer finanzieren oder - wie es die Schweizer machen - so ändern, daß die Beiträge von allen Einkommen erhoben werden. Dann zahlt der Millionär von seinem Einkommen ebenso wie der Gemeinderat von den Sitzungsgeldern, der Vermieter von seinen Mieteinnahmen und der Arbeitnehmer von seinem Lohn. Dadurch kommen phantastische Ergebnisse zustande. Daneben brauchen wir auf dem Arbeitsmarkt intelligente Lösungen.

Reila:

Dies ist ein Aktienforum.

 
11.02.02 01:16
Was soll der intellektuelle Scheiß hier?
Und warum ist der Typ noch in der CDU?

R.

PS: Das war Ironie.
jahr2002istda:

?

 
11.02.02 01:33
2. Dies ist ein Aktienforum.   Reila  11.02.02 01:16  
Was soll der intellektuelle Scheiß hier?
Und warum ist der Typ noch in der CDU?

R.

PDS: Das war Ironie.  
Reila:

Liebes jahr2002pisstda, ein letztes Wort:

 
11.02.02 01:54
Ich mag Querdenker. Unser Führer mochte es gradlinig. So hat jeder seine Präferenzen. Einfache Weltbilder helfen bestimmt, ruhig zu schlafen.

Gute Nacht Deutschland, oder wie der Alte Fritz schon sagte, "Kleiner Gott, großer pisstda".

R.
hjw2:

Na bitte, es geht doch....bravo Heiner Geißler o.T.

 
11.02.02 04:22
hjw2:

Das Kunststück linker Wirtschaftspolitik

 
08.02.03 12:01
Von Eugen Faude, Wolfgang Kühn, Christa Luft und Klaus Steinitz

In einer Zeit, in der neoliberale Konzepte zunehmend das öffentliche Denken und Handeln bestimmen, ist eine linke, alternative Wirtschaftspolitik nötiger denn je. Wie dieses »Kunststück« zwischen Opposition und Mitregieren, zwischen Prinzipien und Kompromissen aussehen kann, versuchen vier renommierte ND-Autoren in ihrem Exklusivbeitrag zu zeigen.


1.Linke wirtschaftspolitische Alternativen sind unverzichtbar

Die wirtschaftlichen und sozialen Aussichten in Deutschland sind auch 2003 nicht besser geworden. Warnungen vor einer möglichen deflationären Stagnation häufen sich. Die Arbeitslosenzahl wird voraussichtlich 2003 auf im Schnitt 4,2Millionen ansteigen. Besonders prekär ist die Entwicklung in Ostdeutschland. Die Antworten der Bundesregierung auf die zugespitzten Probleme sind weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts und der sozialen Sicherung, neue Privatisierungsschritte in der öffentlichen Daseinsvorsorge und eine dogmatische »Sparpolitik«.

Der bekannte US-Ökonom Paul Krugmann charakterisierte kürzlich das Wesen solcher Politik: Die heute dominierende nachfragefeindliche Wirtschafts- und Sozialpolitik kommt nur den Eliten zugute. Es ist den neoliberalen Denkfabriken und den Medien gelungen, diese Politik als alternativlos darzustellen und in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Die Erwartungen der Menschen an eine Politik, die zur Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation, zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit, zur Verbesserung der Bildung und des Gesundheitssystems beiträgt, sind von der jetzigen Bundesregierung enttäuscht worden. Die rechte Opposition von CDU/ CSU und FDP besitzt jedoch auch kein Konzept, um die anstehenden Probleme zu lösen. Unter diesen Bedingungen ist eine linke, alternative Wirtschaftspolitik für eine sozial und ökologisch zukunftsfähige Entwicklung unverzichtbar. Alle Erfahrungen zeigen: Alternativen, die dazu beitragen, die Probleme zu lösen, müssen hart erarbeitet und erstritten werden. Sie dürfen nicht auf Wunschvorstellungen beruhen, sondern müssen die realen Widersprüche und Probleme berücksichtigen, haben nur Chancen, wenn sie sich auf starke gesellschaftliche Kräfte und Bewegungen, die auch koordiniert handeln, stützen können.
Linke Wirtschaftskonzepte müssen vermitteln, dass es auch unter kapitalistischen Bedingungen möglich ist und sich lohnt, vorhandene Chancen zu nutzen, um Einfluss auf die ökonomische und soziale Entwicklung zu nehmen. Die Wirtschaftspolitik darf nicht den etablierten Parteien überlassen werden. Wirtschaftliche Vorgänge waren und sind durch die Politik beeinflussbar. Nur so ist dem verbreiteten Gefühl der Machtlosigkeit und passiver Hinnahme entgegen zu wirken.
Linke Wirtschaftspolitik geht davon aus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem sozial und ökologisch unterschiedliche Züge annehmen kann. Es war und ist grundsätzlich möglich, durch Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse Veränderungen im Interesse der Menschen zu erzielen. Dazu ist es notwendig, dass alternative Wirtschaftskonzepte im Rahmen der gesamten Politik linker Bewegungen und linkssozialistischer Parteien ein größeres Gewicht erhalten, und die Unterschätzung eigenständiger wirtschaftspolitischer Tätigkeit der Linken überwunden wird.

2.Was zeichnet linke Wirtschaftspolitik aus?

Die eigentliche Funktion der Wirtschaft in der Gesellschaft, notwendige Grundlagen für die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen sowie für die allseitige Entfaltung und Nutzung ihrer Fähigkeiten zu schaffen, wird im Kapitalismus nur verzerrt erfüllt. Hieraus ergeben sich zwei Aufgaben linker Wirtschaftspolitik.
Sie muss erstens die ökonomischen, Macht- und Interessenstrukturen des gegenwärtigen Kapitalismus analysieren und sich mit den Ideologien und theoretischen Konzepten, die diese widerspiegeln, auseinander setzen. Dies verlangt heute vor allem Kritik an den Zielen, Methoden und Mechanismen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, vor allem an der Logik des Marktfundamentalismus.
Sie bedeutet zweitens, Grundrichtungen einer alternativen Wirtschaftspolitik und darauf beruhende Projekte zu konzipieren, die sich gegen die sozial und ökologisch negativen Wirkungen der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik richten. Dazu ist es notwendig, konkrete Reformprojekte vorzulegen, die die neuen Herausforderungen und auch die veränderten Bedingungen berücksichtigen und Wege zu sozial gerechten, ökologisch nachhaltigen, zukunftsfähigen Lösungen aufzeigen. Dabei ist zu beachten, dass auch alternative Wirtschaftspolitik über keine fertigen, allgemein gültigen Rezepte verfügt. Sie befindet sich selbst in einem Prozess des Suchens nach den günstigsten Lösungen und muss sich mit den realen Widersprüchen, die zwischen verschiedenen Zielen bestehen (können), auseinander setzen.
Zum Leitbild linker alternativer Wirtschaftspolitik gehören:
Ein neuer Typ der Vollbeschäftigung. Jedem Menschen, der an sinnvoller, existenzsichernder Arbeit teilhaben will, ist dies auch zu ermöglichen. Zugleich sind selbstbestimmte Arbeit, die Gleichstellung der Geschlechter und die Verkürzung der Arbeitszeit sowie eine Flexibilität zu fördern, die die veränderten Arbeitsbedingungen und Interessen der abhängig Beschäftigten berücksichtigen.
Soziale Gerechtigkeit und Überwindung sozialer Ausgrenzung, um den Zugang aller Menschen zu den Grundbedingungen eines Lebens in Würde zu sichern, bei besonderer Priorität gleicher Bildungschancen und gleicher Bedingungen zur Nutzung des Gesundheitssystems.
Stärkere Beachtung der gesamteuropäischen und globalen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit; Verringerung der Ost-West Kluft in der erweiterten EU und der Nord-Süd Polarisation im globalen Maßstab.
Soziale Sicherheit und Solidarität bei besonderer Berücksichtigung einer zukunftsfähigen Gestaltung der finanziellen Grundlagen der sozialen Sicherheitssysteme und der Verbindung zwischen zunehmender Flexibilität der Arbeit und sozialer Sicherheit. Dabei reicht es nicht aus den Status quo zu bewahren. Es ist ebenso notwendig, Antworten auf neue Herausforderungen zu geben. Diese betreffen vor allem notwendige Konsequenzen für die Weiterentwicklung und konkrete Ausgestaltung des Sozialstaates. Dazu zählen sowohl die schrittweise Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung als auch notwendige neue Quellen und Instrumente zur weiteren Finanzierung sozialer Sicherheit.
Ökologische Nachhaltigkeit, Erhaltung und Schutz der natürlichen Umwelt. Hierfür spielen Aufgaben des sozial-ökologische Umbaus und die starken Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten sozialer und ökologischer Probleme sowie wissenschaftlich-technische Innovationen eine entscheidende Rolle. Alternative Wirtschaftspolitik setzt sich für ein Regulationssystem ein, das mit Hilfe geeigneter Instrumente und Methoden – Ökosteuer, öffentliche Infrastrukturinvestitionen, finanzielle Umverteilung zur Förderung humanorientierter öffentlicher Dienstleistungen, staatlicher Struktur-, Technologie- und Regionalpolitik – eine möglichst umweltverträgliche Produktions- und Konsumtionsweise unterstützt.
Demokratisierung der Wirtschaft, insbesondere wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse, und Verbesserung der Bedingungen für Demokratie und Partizipation auf allen Ebenen. Die weitere Deregulierung fast aller Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft entziehen diese der demokratisch legitimierten Kontrolle. Der Kampf gegen diese Deregulierung und die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge ist daher unverzichtbarer Bestandteil alternativer Wirtschaftspolitik.
Herausbildung eines friedlichen, demokratischen, sozialen und auf nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung beruhenden Europa, wofür eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Umweltpolitik sowie die einheitliche Durchsetzung sozialer Mindeststandards eine zunehmende Bedeutung gewinnen.
Für eine Politik, die auf diese Leitbilder gerichtet ist, ist es zweckmäßig zwischen den unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen zu unterscheiden:
(1) pragmatische, kurzfristig machbare, konkrete Alternativen, die zu entsprechenden kleineren Schritten und Veränderungen meist auf Teilgebieten führen,
(2) tiefer gehende Umgestaltungen und grundlegende Veränderungen im Rahmen einer langfristigen und komplexen alternativen Reformstrategie, die sich aber insgesamt noch in den kapitalistischen Grundstrukturen bewegen, sowie
(3) eine sozialistische Reformstrategie, um eine zum Kapitalismus alternative sozialistische Gesellschaft herauszubilden. Damit soll auch deutlich werden: Der Kapitalismus hat nicht Ewigkeitswert und ist nicht das letzte Wort der Geschichte.
Am Beispiel des Arbeitszeitregimes – eines Hauptfeldes alternativer Politik – sollen Spezifik dieser zeitlichen Dimensionen und ihre Verflechtungen angedeutet werden. Kurzfristig stehen hier unter anderem folgende Aufgaben im Vordergrund wie: Abbau der Überstunden, Verringerung der tariflichen Arbeitszeiten in Ostdeutschland auf Westniveau, Einführung einer wöchentlichen Höchstbegrenzung der Arbeitszeit. Eine Reformstrategie müsste an hier erzielte Ergebnisse anknüpfen, um insgesamt einen größeren Beitrag der Arbeitszeitverkürzung zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, zur Gleichstellung der Geschlechter, für eine höhere Zeitsouveränität der abhängig Beschäftigten zu erreichen. Schließlich ginge es in einer sozialistischen Gesellschaft um eine neue Qualität der Arbeitszeitverkürzung als entscheidende Bedingung für die »freie Entwicklung der Individualitäten«, um die »Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum ...« (Marx, Grundrisse, S. 593).
Das »Kunststück« einer realistischen alternativen Wirtschaftspolitik kleinerer Schritte besteht – wie sich dies anschaulich bei der rot-roten Regierungspolitik in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zeigt – darin, dass sie nicht in einer perspektivlosen Anpassung an die bestehenden Verhältnisse stecken bleibt und so ihren alternativen Charakter verliert, sondern stets auf die Veränderung der Verhältnisse im Interesse der Menschen gerichtet ist und ihr Zusammenhang mit den Leitbildern sichtbar und erlebbar wird.

3. Parlamentarische Umsetzung

Die Chancen, Politikangebote umzusetzen, die sich an den genannten Leitbildern orientieren, sind angesichts der Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik begrenzt. Aber es gibt Spielräume. Den Rahmen bildet das Grundgesetz. Es beinhaltet einige wirtschaftspolitische Gebote, die dem Wesen nach mit sozialistischen Forderungen übereinstimmen. Das gilt zuvorderst für Artikel 14, Absatz 2: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen«. Auch Artikel 20, Absatz 1 steht dafür: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«.
Diesen Geboten zu folgen, kann nicht dem sozialen Gewissen von Eigentümern bzw. der Auslegung durch Beamte überlassen bleiben. Notwendig ist eine Rahmensetzung, die von humanen, sozialen und ökologischen Gestaltungszielen ausgeht. So muss der Einsatz öffentlicher Gelder für die Wirtschaftsförderung den Aufbau von Arbeits- und Ausbildungsplätzen unterstützen und darf nicht noch Personalabbau begünstigen. Öffentliche Förderung Privater ohne Gegenleistung – ein »verlorener Zuschuss« also – läuft dem Gemeinwohl zuwider.
Eine aktuelle Aufgabe besteht darin, eine das Lohndumping stimulierende Öffnung des öffentlichen Personennahverkehrs und anderer Dienstleistungen für den europaweiten Wettbewerb und die Leistungskürzungen sowie Demokratieabbau nach sich ziehende Privatisierungen im Gesundheits- und Bildungswesen und in anderen Bereichen zu verhindern. Deutlich sind die Probleme lobbyarmer, eigenkapitalschwacher kleiner und mittlerer Unternehmen zu artikulieren. Denen helfen keine weiteren Spitzensteuersatzsenkungen, sondern öffentliche Auftragsvergabe in handhabbaren Losen, eine verbesserte Zahlungsmoral privater und öffentlicher Kunden, Bürokratieabbau, erleichterter Zugang zur Forschungs-, Investitions- und Absatzförderung.
Im Parlament kann eine sozialistische Partei eine Informations- und Aufklärungsfunktion wahrnehmen, indem sie eine Gegenöffentlichkeit zum neoliberalen Mainstream herstellt. Die politischen Spielräume erweitern sich, wenn außerparlamentarischer Druck parlamentarische Forderungen erhärtet. Ein von der PDS beantragter Hilfsfonds für unschuldig in Not geratene Handwerkerfirmen konnte letztlich im Bundestag nicht verweigert werden, nachdem wochenlang Handwerkerfrauen vor dem Brandenburger Tor im Hungerstreik gestanden hatten.
Dem Gerechtigkeitsgedanken verpflichtete Forderungen der PDS werden in Bund und Ländern selten sofort akzeptiert, mitunter aber mit zeitlicher Verzögerung aufgegriffen. In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sind solche – zuvor von der linken Opposition geforderte – Maßnahmen verankert, wie Einführung einer Mindestbesteuerung für Kapitalgesellschaften, steuerliche Erleichterungen für Existenzgründer oder Innovations- und Ansiedlungsförderung zwischen Elbe und Oder.
Soziale, ökologische, Bildungs- und andere Konzepte gewinnen erfahrungsgemäß an Überzeugungskraft, wenn sie auf schlüssigen Finanzierungen beruhen. Finanz- und Haushaltspolitik sind kein notwendiges Übel, sondern unverzichtbare Politikfelder einer sozialistischen Partei. Rasch stellt sich ein Glaubwürdigkeitsverlust ein, wenn sie auf der Oppositionsbank massiv Forderungen erhebt, an denen sie als Partnerin in einer Koalitionsregierung nicht mehr festhält. Da hilft der Verweis auf notwendige Kompromisse wenig. Diese sind in Bündniskonstellationen unvermeidbar. Wenn diese aber auffällig nur von einer Seite eingegangen werden, führt das zu Profilverlust.
Der Schluss daraus lautet aber nicht, in der Opposition auf deutliche, dem Zeitgeist entgegengesetzte Forderungen zu verzichten, um im Falle von Koalitionsgesprächen als »einsichtiger«, pragmatischer Partner akzeptiert zu werden. Ebenso wenig geht es darum, Mitverantwortung in Regierungen prinzipiell abzulehnen und sich einzig auf die Oppositionsrolle festzulegen. Aber wissen muss eine linke politische Kraft, welche Ziele und damit Forderungen für sie unverzichtbar und welche verhandelbar sind. Sonst wird sie konturlos und büßt ihre erkennbare Rolle in der Gesellschaft ein.

4. Alternative Vorschläge in der Steuer- und Finanzpolitik

Gegenwärtig bestimmen einfache Slogans – »Mit Staatsschulden belasten wir künftige Generationen« oder »Wachstum und Beschäftigung werden durch unerträgliche Steuerlasten verhindert« – die Debatte. Dabei wird eine wesentliche Schieflage verschwiegen: Dass in der Summe die Massensteuern – wie Lohn-, Mehrwert- und Mineralölsteuer – von 1991 bis 2001 um 50 Prozent gestiegen sind, die Steuern auf Gewinne und Vermögenseinkünften sich jedoch im gleichem Zeitraum um 14 Prozent verringerten. Eine Vermögensteuer muss unter diesen Bedingungen auf der Forderungsliste linker Politik bleiben, ebenso die Rücknahme der den Großunternehmen zugebilligten Steuergeschenke der vergangenen Jahre. Die vorgesehene Zinsabgeltungssteuer ist mehrfache Rosstäuscherei.
Es ist ein nicht selten zu beobachtendes Phänomen: Linke Wirtschaftspolitiker werden inzwischen zu Verteidigern der sozialen Marktwirtschaft, die unter der Ägide von CDU und FDP in den 50er Jahren in der Bundesrepublik entstand. Nach ihren Begründern soll staatliche Finanzpolitik als regulierendes Prinzip die primäre Einkommensverteilung korrigieren. Für die jetzigen Führungsmannschaften dieser Parteien ist das inzwischen sozialistisches Teufelswerk.
Ein weiteres Feld aktueller alternativer Wirtschaftspolitik ist eine umfassendere Kontrolle der Staatsausgaben. Viele Großunternehmen erhalten Investitionshilfen in Milliardenhöhe. Meist blieben jedoch die versprochenen dauerhaften Arbeitsplätze aus. Hier ist eine entsprechende Überwachung durch Bund, Länder und Kommunen bei der Vergabe und beim Verbleib derartiger Mittel einzufordern.
Linke Wirtschaftspolitik muss sich mit der gegenwärtig von CDU und FDP angefachten Diskussion über die zu hohe Staatsquote (Anteil der Ausgaben aller öffentlichen Haushalte, einschließlich Sozialversicherung, am BIP) auseinander setzen. Hier überbieten sich die Protagonisten. 50 Prozent Staatsquote sei purer Sozialismus, wird mancherorts behauptet. Diese unter 40 Prozent zu senken war und bleibt ein Wahlversprechen der CDU/ CSU. Schließlich meinen FDP-Politiker, nur mit einer auf ein Drittel des BIP reduzierten Staatsquote regieren zu können.
Hier wird das Dilemma neoliberalen Wirtschaftspolitik mehrfach deutlich. Erstens liefert die ökonomische Wissenschaft keinen Hinweis über eine optimale Höhe von Staatsquoten. Es gibt Länder mit niedrigen Staatsquoten, die sich in einer anhaltenden Wirtschaftskrise befinden wie Japan. Norwegens Wirtschaft mit einer Staatsquote von mehr als 50 Prozent wuchs in den letzten Jahren kontinuierlich bei niedriger Arbeitslosigkeit. Zweitens sind derartige volkswirtschaftlichen Größen manipulierbar und keineswegs so verlässlich wie etwa die Körpertemperatur in der Medizin. Drittens sind staatliche Aufgaben, die dem sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft dienen aus einer gesellschaftspolitischen Konzeption abzuleiten, und nicht primär nach finanzpolitischen Kriterien zu beurteilen. Schließlich werden von den Predigern einer sinkenden Staatsquote einige Themen ausgeklammert, wie die sich anbahnenden steigenden Rüstungsausgaben oder die selbst festgelegten Diäten und Pensionen von Abgeordneten, parlamentarischen Staatssekretären oder Ministern.
Alles in allem: Linke Wirtschaftspolitik steht vor großen Herausforderungen, die nur mit Sachkenntnis, politischem Elan und Ausdauer sowie durch wirksameren gesellschaftlichen Druck solidarisch handelnder Akteure eine Realisierungschance erhalten. Wirtschaftspolitik der PDS war in den zurückliegenden Monaten wenig wahrnehmbar, mancherorts sprachlos. Deshalb fordern wir alle an einer sozialistischen Wirtschaftspolitik Interessierten auf, ihre Sicht und ihre Vorschläge zu den hier aufgeworfenen und anderen Problemen zu unterbreiten.

Die Autoren sind Mitglieder der AG Wirtschaftspolitik der PDS

(ND 08.02.03)
hjw2:

stelle fest: 12 monate leeres stroh dreschen

 
08.02.03 12:49
aber ca. 28 kommissionen bei der arbeit,

bravo regierung und opposition
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