Gipfel der Heuchler

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Gipfel der Heuchler

 
14.03.02 06:24
Die Kommissare der Europäischen Union kämpfen für Markt, Verbraucher - und regelmäßig gegen die nationalen Regierungen. Beim EU-Treffen in Barcelona wird das natürlich ganz anders klingen

Gipfel der Heuchler 607566
Keine Sorge, liebe Verbraucher, Ihr einheitlicher Binnenmarkt eröffnet in Kürze ... nur noch ein bißchen mauern!

Welch eine Rolle: Da steht ein französischer Sozialist am Montagabend auf einer Brüsseler Pressetribüne, neben Stahlbossen aus ganz Europa, und kämpft für den Freihandel. Pascal Lamy, Handelskommissar der Europäischen Union, redet dieser Tage immer wieder über dasselbe Thema: über die neuen Zölle, mit denen die Amerikaner ihre Stahlindustrie schützen wollen. Über den Egoismus und die "Wildwestmanieren", mit denen die Vereinigten Staaten den Welthandel gefährden. Und über die Gegenmaßnahmen der EU. Nicht nur die Unternehmer applaudieren. Überall in Europa spürt Lamy Sympathie - endlich zeigt es einer den Amerikanern. Einer, der Sätze sagt wie: "Der Handel muss kontinuierlich liberalisiert werden, um allem Protektionismus vorzubeugen."
Alle gegen Monti

Es den Amerikanern zeigen - das wollten die Europäer schon vor zwei Jahren. Damals, während eines Treffens in Lissabon, tönten die Regierungschefs: Bis 2010 solle Europa alle anderen Wirtschaftsregionen überholen und sich zur "dynamischsten und konkurrenzfähigsten Wissensgesellschaft der Welt" mausern. Am kommenden Wochenende müssen sie auf dem Europäischen Gipfel in Barcelona eine erste Bilanz des damals verabschiedeten Reformprogramms ziehen. Das wird bitter, wenig wurde erreicht. Kein Wunder, denn der Pascal Lamy des März 2002 ist eine Ausnahme. Die EU-Kommissare haben in der EU einen schweren Stand. Dabei sind sie es, die für mehr Wettbewerbsfähigkeit sorgen und die europäische Wirtschaft stärken sollen.

Zum Beispiel Kommissar Mario Monti. Eigentlich sagt der EU-Kommissar für Wettbewerb nichts anderes als sein französischer Kollege: "Die Zeiten, in denen der Staat die Wirtschaft prägte und stets als Helfer in der Not einsprang, sind endgültig vorbei." Doch der Italiener wird für solche Sätze beschimpft.

Vor ein paar Tagen erst musste er erleben, wie gereizt die Stimmung ist. Monti hatte sich in einem Interview über die mögliche Fusion der deutschen Energieriesen E.on und Ruhrgas geäußert: Politische Eingriffe in den Markt, wie eine spezielle Ministererlaubnis, seien "nicht sehr hilfreich". Sofort attackierten ihn Kanzler Gerhard Schröder und Wirtschaftsminister Werner Müller. Dann kam es noch dicker: Als bekannt wurde, Monti wolle die hohen Gebühren von Mobilfunkbetreibern untersuchen lassen, bezeichnete ihn die Branche als ihren Totengräber. Der streitbare Italiener kennt diese Reaktion schon aus der Automobilindustrie. Die - und in ihrem Gefolge der deutsche Autokanzler - ist ihm gram, weil er die Freistellungsverordnung auslaufen lassen will. Dann könnten die Hersteller ihre exklusiven und preistreibenden Händlernetze nicht länger aufrechterhalten. Die sind ein Grund dafür, dass Autos nirgendwo in Europa so teuer sind wie in Deutschland.

Wäre es nur Monti. Derzeit vergeht keine Woche, ohne dass jemand in Berlin, Rom, Madrid oder London mächtig gegen "die da" in Brüssel zu Felde zieht. Allein in den vergangenen Tagen holte nicht nur Schröder zum Schlag aus, sondern auch der italienische Postfaschist Umberto Bossi. Und immer schwingt der gleiche Vorwurf mit: "Die da" würden auf nationale Besonderheiten keine Rücksicht nehmen, "die da" wollten Unternehmen kaputtmachen, und "die da" seien sowieso viel zu arrogant und weltfremd. "Die" sind dann immer die drei Starkommissare mit ähnlicher Mission: neben Monti noch Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein und Pedro Solbes, zuständig für Währung, Wirtschaft und damit auch für die berüchtigten blauen Briefe. Das Trio pflegt die Marktwirtschaft innerhalb der Europäischen Union - und genau das ist ihr Problem.

Nicht nur im deutschen Kanzleramt werden die drei von der Kommission inzwischen als Vollzugsbeamte einer unzeitgemäßen Politik betrachtet. In den sozialdemokratischen Hauptstädten raunt man laut, Brüssel setze mit aller Macht eine Agenda um, die nicht mehr den Zeitgeist treffe. Liberalisierung, Förderung des Wettbewerbes, Binnenmarktintegration - solche Worte und Werte werden zwar offiziell noch begrüßt. Doch die Macht, sie im eigenen Land durchzusetzen, würden die europäischen Regierungen der Kommission heute wohl nicht noch einmal verleihen. Zu sehr schmerzt die Umsetzung, wenn im Wahljahr Subventionen in Ostdeutschland gekürzt werden sollen, wenn in Frankreich industrielle Zusammenschlüsse verboten werden, wenn in Schweden Volvo und Scania nicht fusiionieren dürfen und in Italien ein paar Banken auch nicht.

Eigentlich sollte Monti das nationale Maulen egal sein. Denn der hagere Wirtschaftsprofessor hat bei seinen Entscheidungen meist nicht nur die ökonomische Theorie, sondern auch die Paragrafen auf seiner Seite. Wenn "Dr. No", so sein Ehrentitel, unbestechlich gegen Wettbewerbsverstöße vorgeht, Fusionen verbietet oder Märkte liberalisiert, dann kann er sich auf eindeutige Gesetze stützen. Und die haben die europäischen Regierungen einst selbst in sein Aufgabenbuch geschrieben - zum Wohl der Verbraucher. Trotzdem muss sich Monti Sorgen machen. Denn beim Jammern bleibt es nicht. Die Völker Europas mauern wie die deutsche Fußballnationalmannschaft. Mit aller Macht kämpft nicht nur die Bundesregierung für Hochsubventionen in den neuen Ländern, auch die Portugiesen lassen keinen politischen Trick in der Kiste, um ihren Schweinebauern Unterstützung zu sichern.

"Im Moment zerstören wir die Basis, die Europa einst erfolgreich gemacht hat. Und das ist schlimm", kommentiert Karel Van Miert, Europas erster Wettbewerbskommissar, der es einst durch seine harte, aber gerechte Hand zu Ruhm brachte. Seit er aus dem Amt schied, kann der Belgier sagen, was andere nur denken: "Die Kommissare setzen doch nur Spielregeln um, die letztlich allen nutzen. Und ausgerechnet das kommt nun zugunsten eines nationalen Populismus unter Beschuss." Van Miert fürchtet sogar noch Schlimmeres: Im Zuge der EU-Reform drohe die Renationalisierung der wichtigsten Bereiche.

Weil es fast schon zum guten Wahlkampfton zu Hause gehört, mobben jetzt fast alle gegen die Liberalisierer - pardon: gegen die Bürokraten in Brüssel. Erfolgreich blockieren Schröder und Co. zurzeit vor allem den Niederländer Frits Bolkestein. Der Hüter des Binnenmarkts soll dafür sorgen, dass Europas Wirtschaft im Inneren zusammenwächst. Er muss nationale Schutzwälle schleifen - letztlich zum Wohle der Käufer. Bolkestein tut das mit Verve und Überzeugung. Gern wettert der kantige Liberale aus den Niederlanden gegen "nationales Kalkül und korporatistischen Atavismus", predigt die Liberalisierung der Arbeitsmärkte und will Strukturen des Rheinischen Kapitalismus abschaffen. Doch so weit dürfte es nicht kommen. Für seine wichtigsten Projekte fehlt noch die gesetzliche Grundlage. Seine Mitarbeiter müssen erst Richtlinien schreiben, sie dann dem EU-Parlament und schließlich dem Ministerrat, also den nationalen Regierungen, vorlegen. Da ist dann Schluss.

Deutschland blockiert

"Ich kann meinen Frust nicht verbergen. Alte protektionistische Impulse blockieren den Fortschritt in einer Reihe von Schlüsselbereichen", klagt der Niederländer laut. Am bittersten trifft ihn das Schicksal seines Prestigeprojektes, der Übernahmerichtlinie. Die soll den Kauf von Unternehmen leichter machen - und wird folglich von den Managern potenzieller Übernahmekandidaten gefürchtet. Die erste Textversion scheiterte nach zwölfjähriger Diskussion an Deutschland. Also auf ein Neues: Höchstpersönlich hatte Kommissar Bolkestein vor ein paar Tagen bei Finanzminister Eichel und danach auch im Kanzleramt für eine neue Fassung seiner Idee geworben. Vergeblich. Da auch VW zum Kreis möglicher Übernahmekandidaten gehört, ist die Linie des Kanzleramtes klar: Solch ein Liberalismus mit der Brechstange gehört verhindert. Vor den Wahlen laufe da gar nichts mehr, heißt es. Und mit seinem Besuch hat Bolkestein sein Image endgültig ruiniert: Er gilt nun in Berlin als Verkörperung eines romantischen Liberalen des 19. Jahrhunderts. Und das ist im sozialdemokratischen Europa als Schimpfwort gemeint.

Offiziell klingt das alles natürlich ganz anders. Am Wochenende werden die Bürger hören, wie die Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen in Barcelona Liberalisierung, Modernisierung und Wettbewerb preisen. "Sie reden die richtigen Sätze, aber sie gehen nicht den richtigen Weg", kommentiert Graham Watson, Chef der Liberalen im EU-Parlament, den Stand der Dinge. Trotz aller Sonntagsreden ist von dem ehrgeizigen Programm, das vor zwei Jahren in Lissabon als Reformkur für Europa beschlossen wurde, so wenig umgesetzt, dass der britische Regierungsvertreter Gordon Brown trocken zugeben muss: "Wir könnten alle mehr tun." Seine Regierung hat gerade ausgerechnet, jeder EU-Bürger könnte 8175 Euro mehr in der Tasche haben, wenn die EU ihren Plan wahr machte. Doch das ist ja so schwer.

Beispiel Patente: Erfinder sollten ihre Neuigkeiten durch ein gemeinsames europäisches Patent leichter schützen können. Die Bolkestein-Behörde legte Vorschläge vor. Doch bis heute streiten sich die Gremien, in welcher Sprache das Patent angemeldet werden darf und welche Gerichte zuständig sein sollen. Das deutsche Justizministerium blockiert kräftig mit.

Beispiel Postmonopol: Eines Tages sollen auch private Firmen sämtliche Arten von Post befördern können. Doch die Vorschläge der Kommission werden bisher bestenfalls häppchenweise umgesetzt. Gerade entschied das Europäische Parlament, dass auch nach 2006 nur staatliche Postboten Briefe unter 50 Gramm, immerhin vier Fünftel des gesamten Marktes, austragen dürfen.

Beispiel Finanzmarkt: Immer wieder scheitern Versuche der Kommission, die nationalen Rechtsvorschriften zu vereinheitlichen - und nicht nur für Pensionsfonds. Was technisch klingt, kann große Wirkung haben: Einen halben Prozentpunkt mehr Wirtschaftswachstum hält das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim für möglich, wenn man sich an die europäischen Vorschläge hielte.

Erfolge wollen die Regierungschefs in Barcelona trotzdem präsentieren. Sie werden daher wohl ein wenig mehr Liberalisierung auf den Energiemärkten beschließen. Doch selbst dieses einst so ambitionierte Projekt wurde zurechtgestutzt. Endverbraucher brauchen da gar nicht auf mehr Wahlfreiheit zu hoffen, die soll es bestenfalls für Großkunden geben. Mehr mochte Frankreich nicht zulassen: Der dortige staatliche Energiemonopolist EdF kauft zwar kräftig Firmen in anderen Ländern, sorgt aber erfolgreich für den Schutz des heimischen Marktes.

"Ob Barcelona stattfindet oder nicht, ist egal", sagt Daniel Gros. Der Chef des Center for European Policy Studies in Brüssel bleibt dennoch optimistisch und setzt auf die Kraft des Marktes: "Wir haben klare Regeln und ein gemeinsames Interesse an mehr Wettbewerb." Die französische Regierung - auch dort sind bald Wahlen - sieht das ein wenig anders. Ganz im Sinne der in Frankreich stark vertretenen Globalisierungskritiker will sie in Barcelona am liebsten nur über Sozialpolitik und den Arbeitsmarkt reden. Sie weiß, dass Worte über soziale Wärme populär und gegenüber der EU sowieso kaum einklagbar sind.

Und die Liberalisierung? Die kann man nach diesem Modell schlicht an einen einzigen Kommissar delegieren: Pascal Lamy. Der soll sie nur ruhig durchsetzen - im Rest der Welt.
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