Führungskrise in Deutschland
Er setzte alles auf Wachstum und verlor: Mit Henning Schulte-Noelle geht der letzte große Expandierer. Und was kommt?
Von Marc Brost und Kolja Rudzio
Ein starker Abgang sieht anders aus. „Mächtigster Manager der Republik“ haben die Medien den Allianz-Chef genannt, und Henning Schulte-Noelle hat dieses Attribut immer gehasst. Zu einseitig war ihm das, zu undifferenziert. Als der 60-Jährige völlig überraschend seinen Rücktritt ankündigt, ist von Macht nichts zu spüren. Eher von Ohnmacht.
Eine Hand voll eilig informierter Journalisten. Eine Pressekonferenz im schäbigen Nebenzimmer, die nach drei Fragen abgebrochen wird. Ein gehetzt wirkender Vorstandschef, der immerzu einen Stift zwischen den Fingern dreht. So geht einer, dessen Unternehmen in der schwersten Krise seiner 112-jährigen Geschichte steckt. Der allein für das dritte Quartal einen Verlust von 2,5 Milliarden Euro erklären muss. Der an der Börse mehr als 75 Milliarden Euro Unternehmenswert vernichtete. Geht so der Chef der großen Allianz?
Ron Sommer verließ die Deutsche Telekom nach einer quälend langen Führungsdebatte und kam dem Rausschmiss nur um Stunden zuvor. Sommer, hieß es, sei den Aktionären nicht mehr zu vermitteln gewesen. Das war Mitte Juli.
Thomas Middelhoff überschätzte seine Position als Bertelsmann-Chef im Machtkampf mit dem Aufsichtsrat und wurde von seiner Entlassung kalt erwischt. Er habe, so die Begründung, im Unternehmen keinen Rückhalt mehr gehabt. Das war Ende Juli.
Aber der mächtige Schulte-Noelle? Als der Allianz-Chef am vergangenen Mittwoch seine engsten Mitarbeiter informiert, fangen einige an zu weinen.
Drei Abgänge, eine Gemeinsamkeit: Sie markieren das Ende einer Ära. So unterschiedlich die Unternehmensführer Sommer, Middelhoff und Schulte-Noelle auf den ersten Blick scheinen, sie stehen doch alle für eine Strategie: für schnelles Wachstum durch Übernahmen. Für Internationalisierung. Und für die bedingungslose Orientierung am Kapitalmarkt. Sommer versuchte sein Unternehmen in kürzester Zeit zum globalen Telefonkonzern auszubauen, kaufte den US-Mobilfunker Voicestream und vergaß darüber, die Schulden der Telekom abzutragen. Middelhoff spekulierte mit Aktien von AOL, kaufte die Mehrheit an der RTL Group und baute den Konzern so schnell um, dass die Gründerfamilie Mohn schließlich die Notbremse ziehen ließ. Schulte-Noelle kaufte in elf Jahren mehr als 50 Unternehmen – nur von der Dresdner Bank hätte er besser die Finger gelassen.
Schnelles Wachstum war das Konzept der boomenden neunziger Jahre, die richtige Strategie für eine Börse, die brummte. Dann kippten die Kurse – und nach und nach auch die Vorstandschefs.
„Back to basics“ heißt jetzt die offizielle Parole der Allianz. „Wir haben“, räumt Schulte-Noelle ein, „unsere Lektion aus der schlechten Verfassung der Kapitälmärkte gelernt und besinnen uns auf unsere alten Stärken.“
Die gefallenen Manager sind einer Mode gefolgt – ein bitterer Fehler. „Ein Unternehmensführer muss Druck und Moden widerstehen können“, sagt Hans Hinterhuber, Professor für Strategische Führung an der Universität Innsbruck. Und es gibt Beispiele für Manager, die souverän ihre eigene Strategie entwickeln: Helmut Maucher etwa, der ehemalige legendäre Chef des Nahrungsmittelriesen Nestlé. „Er blieb ruhig, als alle anderen nervös wurden und auf den Zug aufgesprungen sind“, sagt Bolko von Oetinger, Strategieexperte der Boston Consulting Group. Als sich die Konkurrenten beim Kauf von Unternehmen überboten, hielt Maucher sich zurück. „Dafür geht sein Konzern jetzt günstig auf Einkaufstour, für 18 Milliarden Dollar hat Nestlé in den vergangenen 18 Monaten strategische Akquisitionen getätigt“, sagt von Oetinger. Ein Konzern überrascht die Konkurrenz.
Dabei ist der 60-Jährige ein ganz anderer Typ als die gefallenen Stars des Jahres: kein Medienliebling, kein Mann der Show, auch kein Traumtänzer. Schulte-Noelle spricht lieber von „Dienen“ und „Demut“, und diese Haltung verkörpert der stets etwas gebückt laufende 1,90-Meter-Mann perfekt. „Schulte-Noelle ist ein typisch deutscher Manager“, sagt Hermann Simon, Chef der Unternehmensberatung Simon, Kucher und Partner – „zurückhaltend, beständig, ruhig.“ Beim Börsengang der Allianz in New York diskutierten einige Vorstände bis spät in die Nacht in einem Restaurant mit Journalisten. Der Chef war da schon lange im Hotel.
Jeder Unternehmensführer prägt sein Umfeld auf zwei Ebenen: durch seine Person und durch seine unternehmerische Strategie. Selbst Konkurrenten bescheinigen der Führungsperson Schulte-Noelle eine natürliche Autorität, vor allem aber eine extrem hohe Glaubwürdigkeit. Und doch, sagt Hermann Simon, war der Allianz-Chef „nicht immun gegen den Trend, diesen Drang nach schnellem Wachstum um jeden Preis“.
Schulte-Noelle holte sich angelsächsisch geprägte Manager in den Vorstand – dealmaker wie Paul Achleitner, den ehemaligen Deutschland-Chef der Investmentbank Goldman Sachs. Oder Joachim Faber von der Citibank. Doch die Neuen machten Fehler: Achleitner nickte ab, dass die Dresdner Bank überhastet die Investmentbank Wasserstein Perella kaufte, die bis heute keinen Cent eingebracht hat; dann verzettelte er sich in Grabenkämpfen mit seinen Vorstandskollegen. Faber wiederum bekam die unterschiedlichen Investmentgesellschaften der Allianz kaum in den Griff. So wurde die Stärke des Vorstandschefs, auch machtvolle Manager neben sich zu dulden, zur Schwäche des Unternehmens.
Und nun also „Back to basics“ – wie bei Telekom und Bertelsmann.
Es sind vor allem die Köpfe, die für diese neue Ära der Unternehmensführung stehen: Kai-Uwe Ricke bei der Telekom, Gunter Thielen bei Bertelsmann, Michael Diekmann bei der Allianz. Sie bringen eines mit: den notwendigen „Stallgeruch“, der es den Mitarbeitern leichter macht, den Entscheidungen des Neuen zu folgen.
Doch hinter „Back to basics“ kann ein verhängnisvoller Stillstand lauern. „Wer angesichts Konjunkturniedergang und Rezessionserscheinungen die Sanierungsbemühungen überzieht, um kurzfristig Zahlen zu optimieren, gefährdet das langfristige Wachstum“, warnt Birgit König von der Unternehmensberatung McKinsey. Die Gefahr: Es kommen nur noch Sachwalter ans Ruder.
Schulte-Noelle, Middelhoff und Sommer waren Gestalter. Sie machten Fehler – aber sollte man deshalb gar nichts mehr wagen? Strategieexperten sagen, dass heute schon viele Firmen zu sehr verwaltet und zu wenig geführt werden.
„Jeder neue Chef muss schnell mit einigen Entscheidungen deutlich machen, wohin es künftig geht“, meint der Schweizer Managementprofessor Fredmund Malik. Die Mitarbeiter brauchen Orientierung. Schon heißt es, die Allianz werde sich wohl von der Investmentbanksparte der Dresdner trennen; auch der Job von Bankchef Bernd Fahrholz ist in höchster Gefahr. Alles Aufräumarbeit, aber eben kein Aufbruch.
Viel Zeit bleibt nicht. Kein neuer Chef, sagt Malik, „bekommt heute 100 Tage Zeit, um die ersten Signale zu senden“. Vielleicht dreißig. Die Amtszeit von Michael Diekmann beginnt am 29. April 2003.
Er setzte alles auf Wachstum und verlor: Mit Henning Schulte-Noelle geht der letzte große Expandierer. Und was kommt?
Von Marc Brost und Kolja Rudzio
Ein starker Abgang sieht anders aus. „Mächtigster Manager der Republik“ haben die Medien den Allianz-Chef genannt, und Henning Schulte-Noelle hat dieses Attribut immer gehasst. Zu einseitig war ihm das, zu undifferenziert. Als der 60-Jährige völlig überraschend seinen Rücktritt ankündigt, ist von Macht nichts zu spüren. Eher von Ohnmacht.
Eine Hand voll eilig informierter Journalisten. Eine Pressekonferenz im schäbigen Nebenzimmer, die nach drei Fragen abgebrochen wird. Ein gehetzt wirkender Vorstandschef, der immerzu einen Stift zwischen den Fingern dreht. So geht einer, dessen Unternehmen in der schwersten Krise seiner 112-jährigen Geschichte steckt. Der allein für das dritte Quartal einen Verlust von 2,5 Milliarden Euro erklären muss. Der an der Börse mehr als 75 Milliarden Euro Unternehmenswert vernichtete. Geht so der Chef der großen Allianz?
Ron Sommer verließ die Deutsche Telekom nach einer quälend langen Führungsdebatte und kam dem Rausschmiss nur um Stunden zuvor. Sommer, hieß es, sei den Aktionären nicht mehr zu vermitteln gewesen. Das war Mitte Juli.
Thomas Middelhoff überschätzte seine Position als Bertelsmann-Chef im Machtkampf mit dem Aufsichtsrat und wurde von seiner Entlassung kalt erwischt. Er habe, so die Begründung, im Unternehmen keinen Rückhalt mehr gehabt. Das war Ende Juli.
Aber der mächtige Schulte-Noelle? Als der Allianz-Chef am vergangenen Mittwoch seine engsten Mitarbeiter informiert, fangen einige an zu weinen.
Drei Abgänge, eine Gemeinsamkeit: Sie markieren das Ende einer Ära. So unterschiedlich die Unternehmensführer Sommer, Middelhoff und Schulte-Noelle auf den ersten Blick scheinen, sie stehen doch alle für eine Strategie: für schnelles Wachstum durch Übernahmen. Für Internationalisierung. Und für die bedingungslose Orientierung am Kapitalmarkt. Sommer versuchte sein Unternehmen in kürzester Zeit zum globalen Telefonkonzern auszubauen, kaufte den US-Mobilfunker Voicestream und vergaß darüber, die Schulden der Telekom abzutragen. Middelhoff spekulierte mit Aktien von AOL, kaufte die Mehrheit an der RTL Group und baute den Konzern so schnell um, dass die Gründerfamilie Mohn schließlich die Notbremse ziehen ließ. Schulte-Noelle kaufte in elf Jahren mehr als 50 Unternehmen – nur von der Dresdner Bank hätte er besser die Finger gelassen.
Schnelles Wachstum war das Konzept der boomenden neunziger Jahre, die richtige Strategie für eine Börse, die brummte. Dann kippten die Kurse – und nach und nach auch die Vorstandschefs.
„Back to basics“ heißt jetzt die offizielle Parole der Allianz. „Wir haben“, räumt Schulte-Noelle ein, „unsere Lektion aus der schlechten Verfassung der Kapitälmärkte gelernt und besinnen uns auf unsere alten Stärken.“
Die gefallenen Manager sind einer Mode gefolgt – ein bitterer Fehler. „Ein Unternehmensführer muss Druck und Moden widerstehen können“, sagt Hans Hinterhuber, Professor für Strategische Führung an der Universität Innsbruck. Und es gibt Beispiele für Manager, die souverän ihre eigene Strategie entwickeln: Helmut Maucher etwa, der ehemalige legendäre Chef des Nahrungsmittelriesen Nestlé. „Er blieb ruhig, als alle anderen nervös wurden und auf den Zug aufgesprungen sind“, sagt Bolko von Oetinger, Strategieexperte der Boston Consulting Group. Als sich die Konkurrenten beim Kauf von Unternehmen überboten, hielt Maucher sich zurück. „Dafür geht sein Konzern jetzt günstig auf Einkaufstour, für 18 Milliarden Dollar hat Nestlé in den vergangenen 18 Monaten strategische Akquisitionen getätigt“, sagt von Oetinger. Ein Konzern überrascht die Konkurrenz.
Dabei ist der 60-Jährige ein ganz anderer Typ als die gefallenen Stars des Jahres: kein Medienliebling, kein Mann der Show, auch kein Traumtänzer. Schulte-Noelle spricht lieber von „Dienen“ und „Demut“, und diese Haltung verkörpert der stets etwas gebückt laufende 1,90-Meter-Mann perfekt. „Schulte-Noelle ist ein typisch deutscher Manager“, sagt Hermann Simon, Chef der Unternehmensberatung Simon, Kucher und Partner – „zurückhaltend, beständig, ruhig.“ Beim Börsengang der Allianz in New York diskutierten einige Vorstände bis spät in die Nacht in einem Restaurant mit Journalisten. Der Chef war da schon lange im Hotel.
Jeder Unternehmensführer prägt sein Umfeld auf zwei Ebenen: durch seine Person und durch seine unternehmerische Strategie. Selbst Konkurrenten bescheinigen der Führungsperson Schulte-Noelle eine natürliche Autorität, vor allem aber eine extrem hohe Glaubwürdigkeit. Und doch, sagt Hermann Simon, war der Allianz-Chef „nicht immun gegen den Trend, diesen Drang nach schnellem Wachstum um jeden Preis“.
Schulte-Noelle holte sich angelsächsisch geprägte Manager in den Vorstand – dealmaker wie Paul Achleitner, den ehemaligen Deutschland-Chef der Investmentbank Goldman Sachs. Oder Joachim Faber von der Citibank. Doch die Neuen machten Fehler: Achleitner nickte ab, dass die Dresdner Bank überhastet die Investmentbank Wasserstein Perella kaufte, die bis heute keinen Cent eingebracht hat; dann verzettelte er sich in Grabenkämpfen mit seinen Vorstandskollegen. Faber wiederum bekam die unterschiedlichen Investmentgesellschaften der Allianz kaum in den Griff. So wurde die Stärke des Vorstandschefs, auch machtvolle Manager neben sich zu dulden, zur Schwäche des Unternehmens.
Und nun also „Back to basics“ – wie bei Telekom und Bertelsmann.
Es sind vor allem die Köpfe, die für diese neue Ära der Unternehmensführung stehen: Kai-Uwe Ricke bei der Telekom, Gunter Thielen bei Bertelsmann, Michael Diekmann bei der Allianz. Sie bringen eines mit: den notwendigen „Stallgeruch“, der es den Mitarbeitern leichter macht, den Entscheidungen des Neuen zu folgen.
Doch hinter „Back to basics“ kann ein verhängnisvoller Stillstand lauern. „Wer angesichts Konjunkturniedergang und Rezessionserscheinungen die Sanierungsbemühungen überzieht, um kurzfristig Zahlen zu optimieren, gefährdet das langfristige Wachstum“, warnt Birgit König von der Unternehmensberatung McKinsey. Die Gefahr: Es kommen nur noch Sachwalter ans Ruder.
Schulte-Noelle, Middelhoff und Sommer waren Gestalter. Sie machten Fehler – aber sollte man deshalb gar nichts mehr wagen? Strategieexperten sagen, dass heute schon viele Firmen zu sehr verwaltet und zu wenig geführt werden.
„Jeder neue Chef muss schnell mit einigen Entscheidungen deutlich machen, wohin es künftig geht“, meint der Schweizer Managementprofessor Fredmund Malik. Die Mitarbeiter brauchen Orientierung. Schon heißt es, die Allianz werde sich wohl von der Investmentbanksparte der Dresdner trennen; auch der Job von Bankchef Bernd Fahrholz ist in höchster Gefahr. Alles Aufräumarbeit, aber eben kein Aufbruch.
Viel Zeit bleibt nicht. Kein neuer Chef, sagt Malik, „bekommt heute 100 Tage Zeit, um die ersten Signale zu senden“. Vielleicht dreißig. Die Amtszeit von Michael Diekmann beginnt am 29. April 2003.