Im Sog der Börse rutschen deutsche Banken und Versicherer in die Nähe des Bankrotts. Selbst Schuld: Ein Jahrzehnt lebten sie über ihre Verhältnisse
Wie viele Mitarbeiter braucht eine Bank? Immer weniger. Allein bei den deutschen Großbanken fallen in diesem Jahr fast 35 000 Stellen weg.
Wie tief können die Aktienkurse der Finanzkonzerne sinken? Noch tiefer. Immer wenn die Börsianer glauben, der Boden sei erreicht, tut sich die nächste Falltür auf.
Wann kippt ein Lebensversicherer? Womöglich schon bald. Die deutschen Versicherungskonzerne leiden unter der Börsenbaisse, weil ihre Bewertungsreserven schmelzen. Einigen fällt es schwer, das Geld der Kunden überhaupt noch zum vorgeschriebenen Mindestsatz zu verzinsen.
"Die gesamte Finanzbranche steckt in einer tiefen Krise", sagt Stefan Best von der Rating-Agentur Standard & Poor's.
Krise? Welche Krise?, heißt es dagegen in den Vorstandsetagen der Finanzhäuser. Eine verständliche Reaktion, immerhin ist der gute Ruf der wichtigste Wettbewerbsfaktor des Geldgewerbes. Doch die Lage ist dramatisch: Die Commerzbank muss sich gegen Gerüchte wehren, sie habe ein ernsthaftes Liquiditätsproblem - am Montag rauschte die Aktie um fast 10 Prozent nach unten. Ihr Börsenwert ist längst unter den Buchwert gesunken. Wie bei der HypoVereinsbank.
Selbst Kapitalmarktprofis haben Angst. Nach Berechnungen der Hamburgischen Landesbank ist der Risikoaufschlag zwischen Bankanleihen und sicheren Staatspapieren in den vergangenen sechs Monaten deutlich gestiegen - untrügliches Zeichen dafür, dass der Markt die Finanzkraft der Geldhäuser skeptisch sieht (siehe Grafik auf der nächsten Seite).
Die Krise der deutschen Banken und Versicherer könnte die gesamte Volkswirtschaft auf Jahre lahm legen.
Zu lange haben die Finanzkonzerne über ihre Verhältnisse gelebt. Und bedenkenlos mit dem ihnen anvertrauten Geld Monopoly gespielt. Das rächt sich jetzt.
Schon macht das Schlagwort "japanische Verhältnisse" die Runde. Zur Erinnerung: 1989 platzte in Japan eine gigantische Spekulationsblase am Aktienmarkt, zwei Jahre später fielen auch die Immobilienpreise in den Keller. Bau- und Immobilienfirmen kollabierten, Versicherer gingen Pleite, Handelsketten schlossen ihre Geschäfte. Die Banken saßen auf riesigen Krediten, die niemand zurückzahlen konnte - und somit auf riesigen Verlusten. Am Ende verloren selbst traditionsreiche Adressen ihre Eigenständigkeit. Die japanische Volkswirtschaft, auf Kredite als Finanzierungsmotor angewiesen, hat sich davon bis heute nicht erholt.
Die Horrorszenarien eins und zwei
"Die Parallelen zwischen Japan und Deutschland sind frappierend", sagt Dieter Wermuth, Europa-Volkswirt der japanischen UFJ-Bank in Frankfurt. Zum Beispiel ist die Binnennachfrage in beiden Ländern gering, sodass die heimische Wirtschaft auf Hilfe von außen angewiesen ist. Der Staat muss sparen, weil ihn die Schuldenlast drückt. Im internationalen Vergleich sind die heimischen Unternehmen von Bankkrediten als Finanzierungsinstrument besonders abhängig. Und eben der Finanzsektor steckt in der Krise. Versicherer stehen vor der Pleite, Banken müssen faule Kredite abschreiben.
Folgt man dem Schreckensbild, sind hierzulande zwei Szenarien denkbar.
Horrorszenario eins: Die Börsenkurse fallen weiter. Dann schmelzen die Aktienreserven der Banken und Versicherer, ihre Verluste steigen, ihr Eigenkapital sinkt. Bis die erste Bank schließt. Oder der erste Versicherer, weil er seine Policen nicht mehr verzinsen kann.
Horrorszenario zwei: Die Banken vergeben weniger Kredite. Dann verlieren viele Unternehmen ihre Anschlussfinanzierung und gehen Pleite. Die ohnehin dramatische Zahl an Firmeninsolvenzen steigt weiter. Weil im Gegenzug die faulen Kredite der Banken zunehmen, geraten auch sie in den Abwärtsstrudel. Ihre Abschreibungen wachsen und damit auch ihre Verluste. Bis - Variante eins - die erste Bank schließt.
Natürlich muss in Deutschland kein Finanzkonzern Pleite gehen. Börsennotierten Gesellschaften bliebe immer noch eine Kapitalerhöhung, wenn auch zu miserablen Konditionen. Und die großen Anbieter beschützt der Staat: Sie sind too big to fail - zu groß, als dass man sie eingehen ließe. So wie die Bankgesellschaft Berlin, die zehntgrößte deutsche Bank, die im Frühjahr mit einer Landesbürgschaft über 21 Milliarden Euro vor dem Aus bewahrt wurde.
Tatsächlich aber haben die deutschen Banken längst begonnen, ihre Kreditvergabe zurückzufahren. "Kreditrationierung" nennt das Thorsten Polleit, Chefvolkswirt der Barclays Bank in Frankfurt. "Die Kreditnachfrage der Unternehmen wird nicht mehr in vollem Umfang bedient, selbst wenn sie bereit sind, einen höheren Preis zu zahlen." Das reale Kreditwachstum sinkt - und bremst die Konjunktur.
Es ist das fatale Zusammentreffen von schwacher Wirtschaftsentwicklung und Krise der Finanzkonzerne, die das Problem so brisant macht. Schwächelt die Konjunktur, leiden Banken und Versicherer immer, das ist klar. Diesmal aber, sagt Stefan Paul, Professor für Bankbetriebslehre an der Universität Bochum, ist es in Deutschland "mehr als ein normaler Abschwung" des Finanzsektors. "Wir holen nach, was andere schon hinter sich haben."
Zumindest die Banken: Während die Vereinigten Staaten oder Großbritannien Ende der Achtziger eine handfeste Krise des Finanzsektors und den massiven Abbau von Arbeitsplätzen erlebten, wurde in Deutschland immer weiter aufgebaut. Erst bescherte die Wiedervereinigung den Banken ein unverhofftes Geschäft: neue Filialen, neue Kunden, neues Geld. Dann wollten in Leipzig, Dresden oder Halle Tausende neuer Wohnungen und Häuser finanziert sein.
Als der Immobilienboom endete, begann die nächste Spekulation, diesmal an der Börse. Wieder investierten die Banken kräftig - in neue Berater, neue Analysten, neue Fondsmanager, neue Investmentbanker. Und wieder verdienten sie riesige Summen. Dumm nur, dass auf diese Spekulation keine neue folgte. Sondern der Absturz.
"Der Börsenboom hat die strukturellen Probleme der deutschen Banken übertüncht", sagt Stefan Best von Standard & Poor's. Viele Institute, kritisiert Bridget Gandy von der Rating-Agentur Fitch-Ibca in London, "haben einfach blind investiert und riesige Kostenblöcke angehäuft".
So wie die Dresdner Bank. "Wir haben Fehler gemacht", gestand Vorstandschef Bernd Fahrholz Anfang September vor den Führungskräften der Bank. Seine schriftliche Analyse, die der ZEIT vorliegt, steht stellvertretend für die Misswirtschaft der ganzen Branche: für die "strategische Unentschlossenheit" und den "Ehrgeiz, Global Player zu werden, als der Zug dafür längst abgefahren war". Für die großen Investitionen in Asien, Nord- und Lateinamerika, wo man "am falschen Ort und zur falschen Zeit das lokale Kreditgeschäft expansiv vorangetrieben" hat. Für eine Geschäftspolitik, die "die notwendige Rendite für das Eigenkapital weitgehend außer acht gelassen" hat. Und für den Wahn, Investmentbanker "großflächig durch garantierte Boni im Haus zu halten".
So schonungslos hat noch kein deutscher Banker die Lage des eigenen Hauses - und implizit der ganzen Branche - dargestellt. Mehr als 800 Millionen Euro Verlust verursachte allein die Investmentsparte der Dresdner im ersten Halbjahr 2002. In der vergangenen Woche musste der zuständige Vorstand Leonhard Fischer gehen. Vorstandschef Fahrholz weiß genau, dass seine Bank bis Ende kommenden Jahres schwarzen Zahlen schreiben muss, sonst dürfte auch er den Job verlieren.
Die Rating-Agenturen haben ihr Urteil bereits gefällt - und alle deutschen Banken herabgestuft. Und in einer Studie der WGZ-Bank heißt es: "Im europäischen Vergleich lassen sich kaum Gründe für Investments in deutsche Banktitel ausmachen."
Fragt sich nur, in was die Versicherungskonzerne derzeit investieren. Denn nicht nur die Aktienmärkte schwächeln, auch die Anleihezinsen sinken seit Mitte der neunziger Jahre nahezu kontinuierlich. Inzwischen sind die amerikanischen Zinsen so niedrig wie seit 40 Jahren nicht mehr. Die Durchschnittsrendite deutscher Staatsanleihen liegt bei nur noch 4,3 Prozent gegenüber 5,3 Prozent vor zwei Jahren. Noch immer aber locken Versicherer ihre Kunden mit Renditen von mehr als 6 Prozent.
Dass Zinsen und Aktienkurse über längere Zeit gleichzeitig sinken, ist höchst selten - und in der ökonomischen Theorie eigentlich nicht vorgesehen. Wenn die Zinsen sinken, steigen die Aktienkurse und umgekehrt: Auf diese Lehrbuchweisheit haben viele Lebensversicherer vertraut, um im Renditewettbewerb mit Banken und Fondsgesellschaften nicht ins Hintertreffen zu geraten. Zwischen 1995 und 2001 kletterte der Aktienanteil an den gesamten Kapitalanlagen der Versicherer nach Angaben des Branchendienstes map-report von 12,8 auf 26,5 Prozent.
Solange der Börsenboom dauerte, konnte die Assekuranz deshalb trotz sinkender Zinserträge ihren Kunden weiterhin Zinsen von mehr als 6 Prozent gutschreiben - und sogar noch stille Reserven ansammeln. Heute sind diese Polster weitgehend verschwunden und viele Depots dick im Minus. Selbst der Marktführer Allianz Leben ist mit seinen Aktienanlagen in die roten Zahlen gerutscht. Bei einem Dax-Stand von 3200, hatte Vorstandschef Gerhard Rupprecht im August eingeräumt, seien die stillen Reserven aufgezehrt. Anfang der Woche lag der Dax mehr als 12 Prozent unter dieser Grenze.
Bleibt es dabei oder geht es sogar noch weiter abwärts, wird auch der Marktführer die Gesamtverzinsung von derzeit 6,8 Prozent für das nächste Jahr deutlich senken müssen. Der Garantiezins dagegen, den die Versicherer rechtlich verbindlich zugesagt haben und der je nach Police zwischen 3 und 4 Prozent beträgt, ist - vorerst jedenfalls - bei den Stuttgartern nicht in Gefahr. Immerhin erwirtschaftete die Allianz Leben im vergangenen Jahr mit ihren Kapitalanlagen noch eine Durchschnittsrendite von 5,4 Prozent - ohne außerordentliche Erträge aus dem Verkauf von Wertpapieren.
Jetzt wird die Branche hastig
In solch einer komfortablen Situation sind längst nicht alle Lebensversicherer. Dass "die Lage nicht einfach" ist, bestätigt sogar das Bundesaufsichtsamt für Finanzdienstleistungen (Bafin), das traditionell höchst verschwiegen ist, wenn es um die von ihr kontrollierte Branche geht. Drastischer drückt es Jochen Specht, Fachbereichskoordinator Lebensversicherung der Kölner Rating-Agentur Assekurata, aus: "Die deutsche Versicherungsbranche steht vor ihrer größten Herausforderung seit dem Krieg."
Erstmals in 50 Jahren könnte die Aufsicht gezwungen sein, von Paragraf 89, Absatz 2 des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) Gebrauch zu machen, um die Insolvenz eines Versicherers zu verhindern. Der Paragraf gibt den Kontrolleuren notfalls das Recht, "entsprechend der Vermögenslage" des Unternehmens seine "Verpflichtungen herabzusetzen", wenn das Unternehmen nur so zu retten ist. Im Klartext: Das Aufsichtsamt könnte die Ansprüche der Versicherten aus ihren Policen drastisch reduzieren - und zwar ohne Grenze nach unten.
"Damit rechnet wirklich niemand", beteuert zwar ein Experte des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft (GdV). Mit ernsthaften Schieflagen aber offenbar sehr wohl. Immerhin arbeitet der Verband bereits an einer Auffanglösung für bedrohte Unternehmen. Ein neuer Pool soll bis Ende des Jahres stehen und den Kunden der in Not geratenen Anbieter wenigstens den Garantiezins sichern.
Ob das gelingt, ist allerdings fraglich. Bislang ist noch nicht einmal klar, wer sich mit wie viel Geld beteiligt. Und was geschieht, wenn eine größere Versicherung ins Stolpern gerät. Experten jedenfalls wundern sich über die plötzliche Hast der Branche. Während die Banken seit Jahren einen Einlagensicherungsfonds haben, war dieses Thema für Versicherer immer tabu.
Das galt auch für den Gesetzgeber. Mit skurrilen Folgen: Ob ein Versicherer in der Gefahrenzone ist oder seine Finanzmittel ausreichen, um Verluste auszugleichen, misst die Aufsicht unter anderem anhand des so genannten Solvabilitäts-Ist. Neben dem Eigenkapital und bestimmten Rücklagen fließen in diese Kennziffer bei Lebensversicherern die Gewinne der nächsten Jahre ein. Und wie hoch die sein werden, kann heute niemand überprüfen.
Die Krise der Finanzkonzerne könnte auch ihr Gutes haben: die Rückkehr zur Realität in den Chefetagen.
Davor aber, so viel ist sicher, liegt für die deutsche Volkswirtschaft ein Tal der Tränen. Die Krise der Banken und Versicherer wird mehr Wachstum kosten, als es beispielsweise die Erhöhung der Lohnnebenkosten um ein paar Zehntel Prozentpunkte tun würde. Und sie vernichtet mehr Arbeitsplätze, als mit jeder Reform des Arbeitsmarktes kurzfristig neu geschaffen werden können.
Die Zeit
Wie viele Mitarbeiter braucht eine Bank? Immer weniger. Allein bei den deutschen Großbanken fallen in diesem Jahr fast 35 000 Stellen weg.
Wie tief können die Aktienkurse der Finanzkonzerne sinken? Noch tiefer. Immer wenn die Börsianer glauben, der Boden sei erreicht, tut sich die nächste Falltür auf.
Wann kippt ein Lebensversicherer? Womöglich schon bald. Die deutschen Versicherungskonzerne leiden unter der Börsenbaisse, weil ihre Bewertungsreserven schmelzen. Einigen fällt es schwer, das Geld der Kunden überhaupt noch zum vorgeschriebenen Mindestsatz zu verzinsen.
"Die gesamte Finanzbranche steckt in einer tiefen Krise", sagt Stefan Best von der Rating-Agentur Standard & Poor's.
Krise? Welche Krise?, heißt es dagegen in den Vorstandsetagen der Finanzhäuser. Eine verständliche Reaktion, immerhin ist der gute Ruf der wichtigste Wettbewerbsfaktor des Geldgewerbes. Doch die Lage ist dramatisch: Die Commerzbank muss sich gegen Gerüchte wehren, sie habe ein ernsthaftes Liquiditätsproblem - am Montag rauschte die Aktie um fast 10 Prozent nach unten. Ihr Börsenwert ist längst unter den Buchwert gesunken. Wie bei der HypoVereinsbank.
Selbst Kapitalmarktprofis haben Angst. Nach Berechnungen der Hamburgischen Landesbank ist der Risikoaufschlag zwischen Bankanleihen und sicheren Staatspapieren in den vergangenen sechs Monaten deutlich gestiegen - untrügliches Zeichen dafür, dass der Markt die Finanzkraft der Geldhäuser skeptisch sieht (siehe Grafik auf der nächsten Seite).
Die Krise der deutschen Banken und Versicherer könnte die gesamte Volkswirtschaft auf Jahre lahm legen.
Zu lange haben die Finanzkonzerne über ihre Verhältnisse gelebt. Und bedenkenlos mit dem ihnen anvertrauten Geld Monopoly gespielt. Das rächt sich jetzt.
Schon macht das Schlagwort "japanische Verhältnisse" die Runde. Zur Erinnerung: 1989 platzte in Japan eine gigantische Spekulationsblase am Aktienmarkt, zwei Jahre später fielen auch die Immobilienpreise in den Keller. Bau- und Immobilienfirmen kollabierten, Versicherer gingen Pleite, Handelsketten schlossen ihre Geschäfte. Die Banken saßen auf riesigen Krediten, die niemand zurückzahlen konnte - und somit auf riesigen Verlusten. Am Ende verloren selbst traditionsreiche Adressen ihre Eigenständigkeit. Die japanische Volkswirtschaft, auf Kredite als Finanzierungsmotor angewiesen, hat sich davon bis heute nicht erholt.
Die Horrorszenarien eins und zwei
"Die Parallelen zwischen Japan und Deutschland sind frappierend", sagt Dieter Wermuth, Europa-Volkswirt der japanischen UFJ-Bank in Frankfurt. Zum Beispiel ist die Binnennachfrage in beiden Ländern gering, sodass die heimische Wirtschaft auf Hilfe von außen angewiesen ist. Der Staat muss sparen, weil ihn die Schuldenlast drückt. Im internationalen Vergleich sind die heimischen Unternehmen von Bankkrediten als Finanzierungsinstrument besonders abhängig. Und eben der Finanzsektor steckt in der Krise. Versicherer stehen vor der Pleite, Banken müssen faule Kredite abschreiben.
Folgt man dem Schreckensbild, sind hierzulande zwei Szenarien denkbar.
Horrorszenario eins: Die Börsenkurse fallen weiter. Dann schmelzen die Aktienreserven der Banken und Versicherer, ihre Verluste steigen, ihr Eigenkapital sinkt. Bis die erste Bank schließt. Oder der erste Versicherer, weil er seine Policen nicht mehr verzinsen kann.
Horrorszenario zwei: Die Banken vergeben weniger Kredite. Dann verlieren viele Unternehmen ihre Anschlussfinanzierung und gehen Pleite. Die ohnehin dramatische Zahl an Firmeninsolvenzen steigt weiter. Weil im Gegenzug die faulen Kredite der Banken zunehmen, geraten auch sie in den Abwärtsstrudel. Ihre Abschreibungen wachsen und damit auch ihre Verluste. Bis - Variante eins - die erste Bank schließt.
Natürlich muss in Deutschland kein Finanzkonzern Pleite gehen. Börsennotierten Gesellschaften bliebe immer noch eine Kapitalerhöhung, wenn auch zu miserablen Konditionen. Und die großen Anbieter beschützt der Staat: Sie sind too big to fail - zu groß, als dass man sie eingehen ließe. So wie die Bankgesellschaft Berlin, die zehntgrößte deutsche Bank, die im Frühjahr mit einer Landesbürgschaft über 21 Milliarden Euro vor dem Aus bewahrt wurde.
Tatsächlich aber haben die deutschen Banken längst begonnen, ihre Kreditvergabe zurückzufahren. "Kreditrationierung" nennt das Thorsten Polleit, Chefvolkswirt der Barclays Bank in Frankfurt. "Die Kreditnachfrage der Unternehmen wird nicht mehr in vollem Umfang bedient, selbst wenn sie bereit sind, einen höheren Preis zu zahlen." Das reale Kreditwachstum sinkt - und bremst die Konjunktur.
Es ist das fatale Zusammentreffen von schwacher Wirtschaftsentwicklung und Krise der Finanzkonzerne, die das Problem so brisant macht. Schwächelt die Konjunktur, leiden Banken und Versicherer immer, das ist klar. Diesmal aber, sagt Stefan Paul, Professor für Bankbetriebslehre an der Universität Bochum, ist es in Deutschland "mehr als ein normaler Abschwung" des Finanzsektors. "Wir holen nach, was andere schon hinter sich haben."
Zumindest die Banken: Während die Vereinigten Staaten oder Großbritannien Ende der Achtziger eine handfeste Krise des Finanzsektors und den massiven Abbau von Arbeitsplätzen erlebten, wurde in Deutschland immer weiter aufgebaut. Erst bescherte die Wiedervereinigung den Banken ein unverhofftes Geschäft: neue Filialen, neue Kunden, neues Geld. Dann wollten in Leipzig, Dresden oder Halle Tausende neuer Wohnungen und Häuser finanziert sein.
Als der Immobilienboom endete, begann die nächste Spekulation, diesmal an der Börse. Wieder investierten die Banken kräftig - in neue Berater, neue Analysten, neue Fondsmanager, neue Investmentbanker. Und wieder verdienten sie riesige Summen. Dumm nur, dass auf diese Spekulation keine neue folgte. Sondern der Absturz.
"Der Börsenboom hat die strukturellen Probleme der deutschen Banken übertüncht", sagt Stefan Best von Standard & Poor's. Viele Institute, kritisiert Bridget Gandy von der Rating-Agentur Fitch-Ibca in London, "haben einfach blind investiert und riesige Kostenblöcke angehäuft".
So wie die Dresdner Bank. "Wir haben Fehler gemacht", gestand Vorstandschef Bernd Fahrholz Anfang September vor den Führungskräften der Bank. Seine schriftliche Analyse, die der ZEIT vorliegt, steht stellvertretend für die Misswirtschaft der ganzen Branche: für die "strategische Unentschlossenheit" und den "Ehrgeiz, Global Player zu werden, als der Zug dafür längst abgefahren war". Für die großen Investitionen in Asien, Nord- und Lateinamerika, wo man "am falschen Ort und zur falschen Zeit das lokale Kreditgeschäft expansiv vorangetrieben" hat. Für eine Geschäftspolitik, die "die notwendige Rendite für das Eigenkapital weitgehend außer acht gelassen" hat. Und für den Wahn, Investmentbanker "großflächig durch garantierte Boni im Haus zu halten".
So schonungslos hat noch kein deutscher Banker die Lage des eigenen Hauses - und implizit der ganzen Branche - dargestellt. Mehr als 800 Millionen Euro Verlust verursachte allein die Investmentsparte der Dresdner im ersten Halbjahr 2002. In der vergangenen Woche musste der zuständige Vorstand Leonhard Fischer gehen. Vorstandschef Fahrholz weiß genau, dass seine Bank bis Ende kommenden Jahres schwarzen Zahlen schreiben muss, sonst dürfte auch er den Job verlieren.
Die Rating-Agenturen haben ihr Urteil bereits gefällt - und alle deutschen Banken herabgestuft. Und in einer Studie der WGZ-Bank heißt es: "Im europäischen Vergleich lassen sich kaum Gründe für Investments in deutsche Banktitel ausmachen."
Fragt sich nur, in was die Versicherungskonzerne derzeit investieren. Denn nicht nur die Aktienmärkte schwächeln, auch die Anleihezinsen sinken seit Mitte der neunziger Jahre nahezu kontinuierlich. Inzwischen sind die amerikanischen Zinsen so niedrig wie seit 40 Jahren nicht mehr. Die Durchschnittsrendite deutscher Staatsanleihen liegt bei nur noch 4,3 Prozent gegenüber 5,3 Prozent vor zwei Jahren. Noch immer aber locken Versicherer ihre Kunden mit Renditen von mehr als 6 Prozent.
Dass Zinsen und Aktienkurse über längere Zeit gleichzeitig sinken, ist höchst selten - und in der ökonomischen Theorie eigentlich nicht vorgesehen. Wenn die Zinsen sinken, steigen die Aktienkurse und umgekehrt: Auf diese Lehrbuchweisheit haben viele Lebensversicherer vertraut, um im Renditewettbewerb mit Banken und Fondsgesellschaften nicht ins Hintertreffen zu geraten. Zwischen 1995 und 2001 kletterte der Aktienanteil an den gesamten Kapitalanlagen der Versicherer nach Angaben des Branchendienstes map-report von 12,8 auf 26,5 Prozent.
Solange der Börsenboom dauerte, konnte die Assekuranz deshalb trotz sinkender Zinserträge ihren Kunden weiterhin Zinsen von mehr als 6 Prozent gutschreiben - und sogar noch stille Reserven ansammeln. Heute sind diese Polster weitgehend verschwunden und viele Depots dick im Minus. Selbst der Marktführer Allianz Leben ist mit seinen Aktienanlagen in die roten Zahlen gerutscht. Bei einem Dax-Stand von 3200, hatte Vorstandschef Gerhard Rupprecht im August eingeräumt, seien die stillen Reserven aufgezehrt. Anfang der Woche lag der Dax mehr als 12 Prozent unter dieser Grenze.
Bleibt es dabei oder geht es sogar noch weiter abwärts, wird auch der Marktführer die Gesamtverzinsung von derzeit 6,8 Prozent für das nächste Jahr deutlich senken müssen. Der Garantiezins dagegen, den die Versicherer rechtlich verbindlich zugesagt haben und der je nach Police zwischen 3 und 4 Prozent beträgt, ist - vorerst jedenfalls - bei den Stuttgartern nicht in Gefahr. Immerhin erwirtschaftete die Allianz Leben im vergangenen Jahr mit ihren Kapitalanlagen noch eine Durchschnittsrendite von 5,4 Prozent - ohne außerordentliche Erträge aus dem Verkauf von Wertpapieren.
Jetzt wird die Branche hastig
In solch einer komfortablen Situation sind längst nicht alle Lebensversicherer. Dass "die Lage nicht einfach" ist, bestätigt sogar das Bundesaufsichtsamt für Finanzdienstleistungen (Bafin), das traditionell höchst verschwiegen ist, wenn es um die von ihr kontrollierte Branche geht. Drastischer drückt es Jochen Specht, Fachbereichskoordinator Lebensversicherung der Kölner Rating-Agentur Assekurata, aus: "Die deutsche Versicherungsbranche steht vor ihrer größten Herausforderung seit dem Krieg."
Erstmals in 50 Jahren könnte die Aufsicht gezwungen sein, von Paragraf 89, Absatz 2 des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) Gebrauch zu machen, um die Insolvenz eines Versicherers zu verhindern. Der Paragraf gibt den Kontrolleuren notfalls das Recht, "entsprechend der Vermögenslage" des Unternehmens seine "Verpflichtungen herabzusetzen", wenn das Unternehmen nur so zu retten ist. Im Klartext: Das Aufsichtsamt könnte die Ansprüche der Versicherten aus ihren Policen drastisch reduzieren - und zwar ohne Grenze nach unten.
"Damit rechnet wirklich niemand", beteuert zwar ein Experte des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft (GdV). Mit ernsthaften Schieflagen aber offenbar sehr wohl. Immerhin arbeitet der Verband bereits an einer Auffanglösung für bedrohte Unternehmen. Ein neuer Pool soll bis Ende des Jahres stehen und den Kunden der in Not geratenen Anbieter wenigstens den Garantiezins sichern.
Ob das gelingt, ist allerdings fraglich. Bislang ist noch nicht einmal klar, wer sich mit wie viel Geld beteiligt. Und was geschieht, wenn eine größere Versicherung ins Stolpern gerät. Experten jedenfalls wundern sich über die plötzliche Hast der Branche. Während die Banken seit Jahren einen Einlagensicherungsfonds haben, war dieses Thema für Versicherer immer tabu.
Das galt auch für den Gesetzgeber. Mit skurrilen Folgen: Ob ein Versicherer in der Gefahrenzone ist oder seine Finanzmittel ausreichen, um Verluste auszugleichen, misst die Aufsicht unter anderem anhand des so genannten Solvabilitäts-Ist. Neben dem Eigenkapital und bestimmten Rücklagen fließen in diese Kennziffer bei Lebensversicherern die Gewinne der nächsten Jahre ein. Und wie hoch die sein werden, kann heute niemand überprüfen.
Die Krise der Finanzkonzerne könnte auch ihr Gutes haben: die Rückkehr zur Realität in den Chefetagen.
Davor aber, so viel ist sicher, liegt für die deutsche Volkswirtschaft ein Tal der Tränen. Die Krise der Banken und Versicherer wird mehr Wachstum kosten, als es beispielsweise die Erhöhung der Lohnnebenkosten um ein paar Zehntel Prozentpunkte tun würde. Und sie vernichtet mehr Arbeitsplätze, als mit jeder Reform des Arbeitsmarktes kurzfristig neu geschaffen werden können.
Die Zeit