EZB muss Vorhut der Europäisierung bleiben Mit institutioneller Reform vorangehen
Geldpolitik durch neuen Abstimmungsmodus nicht renationalisieren - Gruppe von 12 Weisen in den Rat wählen
Von Christian Burckhardt, Frankfurt
Börsen-Zeitung, 25.5.2001
Keine andere Institution in Europa ist so europäisiert wie die Europäische Zentralbank (EZB). Aber sie wird nur dann Speerspitze der Europäisierung bleiben, wenn der EZB-Rat in den nächsten zwei Jahren die enorm schwierige Reform seiner Entscheidungs- und Abstimmungsverfahren zur Vorbereitung auf die Osterweiterung meistert, ohne eine partielle Renationalisierung der Geldpolitik zu riskieren. Die Renationalisierung verhindern und Entscheidungseffizienz garantieren - das müssen die Kernziele der EZB bei dieser Reform sein. Denn davon wird abhängen, inwieweit die Märkte der EZB als Institution, ihrer Geldpolitik und letztlich der gesamten Währungsunion Vertrauen schenken. Wie andere EU-Institutionen muss sich auch der Rat der EZB Gedanken darüber machen, wie er entscheidungsfähig bleibt, wenn sich in einigen Jahren die Mitgliederzahl in der Währungsunion auf 24 verdoppelt. Dann säßen nach dem heutigen Repräsentationsmodus zwei Dutzend Notenbankgouverneure plus mindestens sechs Direktoriumsmitglieder am Ratstisch, um einen Konsens über den angemessenen einheitlichen Leitzins für fast den gesamten Kontinent zu finden. Ineffiziente Mammutgremien sind jedoch geeignet, die Investoren zu vergraulen und das Vertrauen in die Geldpolitik samt Euro zu ruinieren.
Warum Eile geboten ist
Bis die EWU auf zwei Dutzend Teilnehmer anwächst, dürften noch gut 5 bis 10 Jahre ins Land ziehen, so dass man sich eigentlich doch Zeit lassen könnte mit der institutionellen Reform. EZB-Präsident Wim Duisenberg erklärte im Dezember 2000, die Diskussion darüber halte er nicht für eilbedürftig, weil die Erweiterung der EWU durch ost- und mitteleuropäische Länder noch viele Jahre dauern werde. Doch im Rat und auch bei den EU-Regierungen gibt es mittlerweile in einem Punkt weitgehend Einvernehmen: Das Reformkonzept sollte noch vor der politischen Entscheidung über die ersten Beitritte von Ländern aus dem Osten, mit der 2003 zu rechnen ist, verabschiedet sein. Das Kalkül dabei ist: Man will hinsichtlich des künftigen institutionellen EZB-Rahmens Fakten schaffen, die von den Beitrittskandidaten dann als Teil der EU-Rechtsgrundlagen, als "Aquis Communautaire", übernommen werden (müssen). Deren Mitentscheidung ist in dieser Frage nicht erwünscht. Denn das würde die Angelegenheit nur noch viel komplizierter machen. Das mutet arrogant an gegenüber den EU-Anwärtern, ist aber letztlich vernünftig.
Sobald ein Land EU-Mitglied ist, sitzt der Gouverneur der Notenbank dieses Landes automatisch im Erweiterten EZB-Rat. Dieser Rat mit den Notenbankvertretern aus Euro- und Nicht-Euro-Staaten der EU trifft zwar nicht zinspolitische, wohl aber organisatorische und institutionelle Entscheidungen als höchstes Organ des gesamten föderalen Notenbanksystems, auch "Europäisches System der Zentralbanken (ESZB)" genannt. Würde die "Luxemburg-Gruppe", die erste Gruppe von sechs EU-Beitrittskandidaten (Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern) geschlossen in die EU aufgenommen und würde die institutionelle Reform erst dann angepackt, müssten 27 anstelle der jetzt 21 Mitglieder im Erweiterten Rat der EZB einstimmig über die Reform entscheiden.
Das derzeit plausibelste Szenario der frühestmöglichen EU-Osterweiterung lautet: Politisch entschieden wird über die ersten Beitritte spätestens Mitte 2003, damit diese Länder bereits vor der Formalisierung ihres EU-Beitritts an der Wahl zum Europaparlament im Jahr 2004 teilnehmen können. Die Ratifizierung der Beitrittsverträge durch alle Mitgliedstaaten der EU dauert bis zu zwei Jahre und dürfte frühestens Ende 2004 abgeschlossen sein. Danach müssen die neuen EU-Mitglieder mindestens zwei Jahre lang am Europäischen Wechselkursmechanismus WKM II teilnehmen und in dieser Zeit ihre Tauglichkeit für die Währungsunion durch Erfüllung der Maastrichter Stabilitätskriterien unter Beweis stellen. Der früheste Termin für den Start der EWU-Osterweiterung wäre somit der 1. Januar 2007. Bis dahin dürften auch Großbritannien, Dänemark und Schweden Teilnehmer der EWU sein, die dann 15 Mitglieder hätte.
Die Vorteile des Status quo
Ungeachtet solcher Szenarien zeichnet sich bereits ab, dass der EZB-Rat wenig Neigung verspürt, seine derzeitigen institutionellen Regelungen rasch über Bord zu werfen. Dafür gibt es gute Gründe: Diese Regelungen haben sich erstens bewährt, und zweitens kann der Rat noch ein paar mehr Teilnehmer vertragen, ohne dass gleich Ineffizienz und Entscheidungsunfähigkeit drohen. Der Status quo bietet ein gutes Fundament für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik, weil er auf folgenden Prinzipien beruht:
- Jeder Notenbankgouverneur eines EWU-Mitgliedstaats ist im Rat vertreten. Das gewährleistet einen Rest an nationaler Souveränität und hilft der Vermittlung der Geldpolitik.
- Jedes Ratsmitglied ist unabhängig, nicht weisungsgebunden und formal von nationalen Zwängen befreit.
- Jedes Ratsmitglied hat nur eine Stimme, egal ob es aus dem kleinsten Mitgliedsland Luxemburg oder aus der Wirtschaftsmacht Deutschland stammt.
Gerade die Egalität und die Anforderung an die Räte, im europäischen und nicht im nationalen Interesse zu handeln, machen das Europäische an der EZB aus und sind eine wesentliche Vorbedingung für eine effiziente Geldpolitik, die allein an den Belangen des Eurogebiets orientiert ist.
Gute, alte "Konsens-WG"
Dass Entscheidungen im heutigen EZB-Rat mitunter nicht ganz leicht fallen, zeigte das lange Zaudern des Rats vor der Zinssenkung vom 10. Mai. Zum Spott neigende Zeitgenossen machen sich lustig über den Rat, indem sie ihn vergleichen mit einer basisdemokratischen, voll auf Konsens gebürsteten Multikulti-WG (Wohngemeinschaft): Alles wird so lange diskutiert, vertagt und erneut diskutiert, bis sich eine so große Mehrheit herauskristallisiert hat, dass die verbleibende kleine Minderheit einlenkt. Man kennt sich nach über zwei Jahren und dutzenden von Beratungen. Kampfabstimmungen sind tabu. Andeutungen reichen aus, um Dissens zu signalisieren. Duisenberg macht gegebenenfalls am Ende der Sitzung in seiner Zusammenfassung klar, dass der Konsens für eine einmütige Entscheidung nicht ausreicht.
Jedes Ratsmitglied erhält kurz vor den 14-tägigen Sitzungen ein umfängliches Dossier des Direktoriums mit aktualisierten Daten und Indikatoren für die erste Säule der geldpolitischen Strategie (Geldmengen- und Kreditentwicklung) sowie für die zweite Säule (eine Vielzahl von Indikatoren unter anderem für Wachstum und Preise). Es enthält aber keine Folgerungen im Sinne einer Beschlussempfehlung. Insofern wird die Entscheidung vom Direktorium nicht präjudiziert. Die Haltung des Direktoriums wird allenfalls durch Akzentuierungen in der geldpolitischen Analyse deutlich. Den konkreten Vorschlag für die Beibehaltung oder Veränderung der Zinsen bringt in der Regel Chefvolkswirt Otmar Issing während der Beratung ein.
Ein Ratsmitglied weiß also nicht aus den Akten, wie seine Kollegen zinspolitisch disponiert sind und was die Mehrheitsmeinung ist. Dies kann es allerdings mehr oder weniger gut abschätzen durch seine Kenntnis der bisherigen Diskussionen, der Positionen und Vorlieben seiner Kollegen und durch vorherigen Meinungsaustausch mit ihnen. Gelegenheit dazu bietet auch das informelle Treffen der Notenbanker am Stehbuffet, das am Abend vor jeder Sitzung ohne Anwesenheitspflicht stattfindet.
Ob dieses Procedere bei weit mehr als 18 Teilnehmern weiter funktionieren wird, ist mehr als fraglich. Zumindest müssten die Frequenz der Sitzungen verringert und ihre Dauer auf zwei Tage verlängert werden. Abstriche wären wohl an der kollegial-familiären Entscheidungsfindung im Rahmen eines kontinuierlichen Diskussionsprozesses notwendig. So müssten die Ratsmitglieder dazu übergehen, ihre zinspolitische Neigung vorab zu Protokoll zu geben, um zu einem für alle transparenten Meinungsbild vor Beratungsbeginn zu gelangen.
Wo ist die Schwelle?
Gut möglich ist, dass der EZB-Rat dem Beispiel der EU-Regierungschefs folgt, die im Falle der institutionellen Reform der EU-Kommision eine Schwelle fixiert haben, von der ab erst die Teilnehmerzahl durch neue Verfahren begrenzt werden muss. Ob er die Schwelle auch auf 27 Teilnehmer festlegt, bleibt abzuwarten. Deutlich weniger wäre auf jeden Fall besser. Einige Notenbanker meinen, mit den derzeit 18 Teilnehmern sei das Maximum des Machbaren schon erreicht. Andere sehen noch Spielraum nach oben, sofern man das Entscheidungsprocedere anpasst. Die zweite Frage ist, wie konkret der Rat einen neuen Abstimmungsmodus konzipiert. Dieser würde dann gelten, wenn die Schwelle erreicht beziehungsweise überschritten wird.
Klar ist, dass der Grundmodus "Alle sind dabei und jeder hat eine Stimme" auf Dauer nicht zu halten sein wird und wohl zumindest teilweise aufgegeben werden muss.
Geldpolitik entnationalisieren
Ein verhängnisvoller Rückschritt wäre es, eine ähnliche Stimmengewichtung für den EZB-Rat einzuführen, wie sie der Nizza-Vertrag für den EU-Ministerrat vorsieht. Dies würde der Renationalisierung der Geldpolitik und einem permanenten Feilschen um den "richtigen" Zins Tür und Tor öffnen. Die Regierungen in Paris und Berlin befürchten, dass das nationale wirtschaftliche Gewicht in der Geldpolitik künftig abnehmen könnte und kleine Staaten die Geldpolitik dominieren könnten. Man kann zwar mit der Bildung von Ländergruppen für die Repräsentanz im EZB-Rat und mit einem Rotationsverfahren nach dem Vorbild der US-Notenbank Fed (s. nebenstehende Darstellung der Reformansätze) operieren, doch wären dies lediglich weitere Zwischenlösungen auf dem bereits eingeschlagenen Weg der Entnationalisierung der Geldpolitik.
Am besten wäre es, gleich eine von den einzelnen Ländern losgelöste Repräsentanz zu schaffen. So könnte etwa die europäische Politik (EU-Regierungen und Europaparlament) anhand einer Vorschlagsliste mit 30 hoch qualifizierten Kandidaten eine Gruppe aus 12 geldpolitischen "Weisen" bestimmen, die zusammen mit den 6 Direktoriumsmitgliedern den EZB-Rat bilden. Allen EU-Anwärtern würde signalisiert: Wer den Euro will, muss sich auf den völligen Verzicht seiner geldpolitischen Souveränität einstellen. Dieser Verzicht würde für alle gleichermaßen gelten und nicht, wie beim Ländergruppen-Ansatz, vornehmlich für die kleineren Staaten in Euroland.
Realistisch betrachtet, hat dieser Ansatz nicht den Hauch einer Chance, in überschaubarer Zeit verwirklicht zu werden. Man wird ihn im Reich der Utopien "zwischenlagern" müssen - zu stark klammern sich die Regierungen noch an den föderalen Rest geldpolitischer Souveränität. Welche Reform auch immer am Ende beschlossen wird, die Entnationalisierung der Geldpolitik sollte wenigstens das Fernziel bleiben.
Geldpolitik durch neuen Abstimmungsmodus nicht renationalisieren - Gruppe von 12 Weisen in den Rat wählen
Von Christian Burckhardt, Frankfurt
Börsen-Zeitung, 25.5.2001
Keine andere Institution in Europa ist so europäisiert wie die Europäische Zentralbank (EZB). Aber sie wird nur dann Speerspitze der Europäisierung bleiben, wenn der EZB-Rat in den nächsten zwei Jahren die enorm schwierige Reform seiner Entscheidungs- und Abstimmungsverfahren zur Vorbereitung auf die Osterweiterung meistert, ohne eine partielle Renationalisierung der Geldpolitik zu riskieren. Die Renationalisierung verhindern und Entscheidungseffizienz garantieren - das müssen die Kernziele der EZB bei dieser Reform sein. Denn davon wird abhängen, inwieweit die Märkte der EZB als Institution, ihrer Geldpolitik und letztlich der gesamten Währungsunion Vertrauen schenken. Wie andere EU-Institutionen muss sich auch der Rat der EZB Gedanken darüber machen, wie er entscheidungsfähig bleibt, wenn sich in einigen Jahren die Mitgliederzahl in der Währungsunion auf 24 verdoppelt. Dann säßen nach dem heutigen Repräsentationsmodus zwei Dutzend Notenbankgouverneure plus mindestens sechs Direktoriumsmitglieder am Ratstisch, um einen Konsens über den angemessenen einheitlichen Leitzins für fast den gesamten Kontinent zu finden. Ineffiziente Mammutgremien sind jedoch geeignet, die Investoren zu vergraulen und das Vertrauen in die Geldpolitik samt Euro zu ruinieren.
Warum Eile geboten ist
Bis die EWU auf zwei Dutzend Teilnehmer anwächst, dürften noch gut 5 bis 10 Jahre ins Land ziehen, so dass man sich eigentlich doch Zeit lassen könnte mit der institutionellen Reform. EZB-Präsident Wim Duisenberg erklärte im Dezember 2000, die Diskussion darüber halte er nicht für eilbedürftig, weil die Erweiterung der EWU durch ost- und mitteleuropäische Länder noch viele Jahre dauern werde. Doch im Rat und auch bei den EU-Regierungen gibt es mittlerweile in einem Punkt weitgehend Einvernehmen: Das Reformkonzept sollte noch vor der politischen Entscheidung über die ersten Beitritte von Ländern aus dem Osten, mit der 2003 zu rechnen ist, verabschiedet sein. Das Kalkül dabei ist: Man will hinsichtlich des künftigen institutionellen EZB-Rahmens Fakten schaffen, die von den Beitrittskandidaten dann als Teil der EU-Rechtsgrundlagen, als "Aquis Communautaire", übernommen werden (müssen). Deren Mitentscheidung ist in dieser Frage nicht erwünscht. Denn das würde die Angelegenheit nur noch viel komplizierter machen. Das mutet arrogant an gegenüber den EU-Anwärtern, ist aber letztlich vernünftig.
Sobald ein Land EU-Mitglied ist, sitzt der Gouverneur der Notenbank dieses Landes automatisch im Erweiterten EZB-Rat. Dieser Rat mit den Notenbankvertretern aus Euro- und Nicht-Euro-Staaten der EU trifft zwar nicht zinspolitische, wohl aber organisatorische und institutionelle Entscheidungen als höchstes Organ des gesamten föderalen Notenbanksystems, auch "Europäisches System der Zentralbanken (ESZB)" genannt. Würde die "Luxemburg-Gruppe", die erste Gruppe von sechs EU-Beitrittskandidaten (Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern) geschlossen in die EU aufgenommen und würde die institutionelle Reform erst dann angepackt, müssten 27 anstelle der jetzt 21 Mitglieder im Erweiterten Rat der EZB einstimmig über die Reform entscheiden.
Das derzeit plausibelste Szenario der frühestmöglichen EU-Osterweiterung lautet: Politisch entschieden wird über die ersten Beitritte spätestens Mitte 2003, damit diese Länder bereits vor der Formalisierung ihres EU-Beitritts an der Wahl zum Europaparlament im Jahr 2004 teilnehmen können. Die Ratifizierung der Beitrittsverträge durch alle Mitgliedstaaten der EU dauert bis zu zwei Jahre und dürfte frühestens Ende 2004 abgeschlossen sein. Danach müssen die neuen EU-Mitglieder mindestens zwei Jahre lang am Europäischen Wechselkursmechanismus WKM II teilnehmen und in dieser Zeit ihre Tauglichkeit für die Währungsunion durch Erfüllung der Maastrichter Stabilitätskriterien unter Beweis stellen. Der früheste Termin für den Start der EWU-Osterweiterung wäre somit der 1. Januar 2007. Bis dahin dürften auch Großbritannien, Dänemark und Schweden Teilnehmer der EWU sein, die dann 15 Mitglieder hätte.
Die Vorteile des Status quo
Ungeachtet solcher Szenarien zeichnet sich bereits ab, dass der EZB-Rat wenig Neigung verspürt, seine derzeitigen institutionellen Regelungen rasch über Bord zu werfen. Dafür gibt es gute Gründe: Diese Regelungen haben sich erstens bewährt, und zweitens kann der Rat noch ein paar mehr Teilnehmer vertragen, ohne dass gleich Ineffizienz und Entscheidungsunfähigkeit drohen. Der Status quo bietet ein gutes Fundament für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik, weil er auf folgenden Prinzipien beruht:
- Jeder Notenbankgouverneur eines EWU-Mitgliedstaats ist im Rat vertreten. Das gewährleistet einen Rest an nationaler Souveränität und hilft der Vermittlung der Geldpolitik.
- Jedes Ratsmitglied ist unabhängig, nicht weisungsgebunden und formal von nationalen Zwängen befreit.
- Jedes Ratsmitglied hat nur eine Stimme, egal ob es aus dem kleinsten Mitgliedsland Luxemburg oder aus der Wirtschaftsmacht Deutschland stammt.
Gerade die Egalität und die Anforderung an die Räte, im europäischen und nicht im nationalen Interesse zu handeln, machen das Europäische an der EZB aus und sind eine wesentliche Vorbedingung für eine effiziente Geldpolitik, die allein an den Belangen des Eurogebiets orientiert ist.
Gute, alte "Konsens-WG"
Dass Entscheidungen im heutigen EZB-Rat mitunter nicht ganz leicht fallen, zeigte das lange Zaudern des Rats vor der Zinssenkung vom 10. Mai. Zum Spott neigende Zeitgenossen machen sich lustig über den Rat, indem sie ihn vergleichen mit einer basisdemokratischen, voll auf Konsens gebürsteten Multikulti-WG (Wohngemeinschaft): Alles wird so lange diskutiert, vertagt und erneut diskutiert, bis sich eine so große Mehrheit herauskristallisiert hat, dass die verbleibende kleine Minderheit einlenkt. Man kennt sich nach über zwei Jahren und dutzenden von Beratungen. Kampfabstimmungen sind tabu. Andeutungen reichen aus, um Dissens zu signalisieren. Duisenberg macht gegebenenfalls am Ende der Sitzung in seiner Zusammenfassung klar, dass der Konsens für eine einmütige Entscheidung nicht ausreicht.
Jedes Ratsmitglied erhält kurz vor den 14-tägigen Sitzungen ein umfängliches Dossier des Direktoriums mit aktualisierten Daten und Indikatoren für die erste Säule der geldpolitischen Strategie (Geldmengen- und Kreditentwicklung) sowie für die zweite Säule (eine Vielzahl von Indikatoren unter anderem für Wachstum und Preise). Es enthält aber keine Folgerungen im Sinne einer Beschlussempfehlung. Insofern wird die Entscheidung vom Direktorium nicht präjudiziert. Die Haltung des Direktoriums wird allenfalls durch Akzentuierungen in der geldpolitischen Analyse deutlich. Den konkreten Vorschlag für die Beibehaltung oder Veränderung der Zinsen bringt in der Regel Chefvolkswirt Otmar Issing während der Beratung ein.
Ein Ratsmitglied weiß also nicht aus den Akten, wie seine Kollegen zinspolitisch disponiert sind und was die Mehrheitsmeinung ist. Dies kann es allerdings mehr oder weniger gut abschätzen durch seine Kenntnis der bisherigen Diskussionen, der Positionen und Vorlieben seiner Kollegen und durch vorherigen Meinungsaustausch mit ihnen. Gelegenheit dazu bietet auch das informelle Treffen der Notenbanker am Stehbuffet, das am Abend vor jeder Sitzung ohne Anwesenheitspflicht stattfindet.
Ob dieses Procedere bei weit mehr als 18 Teilnehmern weiter funktionieren wird, ist mehr als fraglich. Zumindest müssten die Frequenz der Sitzungen verringert und ihre Dauer auf zwei Tage verlängert werden. Abstriche wären wohl an der kollegial-familiären Entscheidungsfindung im Rahmen eines kontinuierlichen Diskussionsprozesses notwendig. So müssten die Ratsmitglieder dazu übergehen, ihre zinspolitische Neigung vorab zu Protokoll zu geben, um zu einem für alle transparenten Meinungsbild vor Beratungsbeginn zu gelangen.
Wo ist die Schwelle?
Gut möglich ist, dass der EZB-Rat dem Beispiel der EU-Regierungschefs folgt, die im Falle der institutionellen Reform der EU-Kommision eine Schwelle fixiert haben, von der ab erst die Teilnehmerzahl durch neue Verfahren begrenzt werden muss. Ob er die Schwelle auch auf 27 Teilnehmer festlegt, bleibt abzuwarten. Deutlich weniger wäre auf jeden Fall besser. Einige Notenbanker meinen, mit den derzeit 18 Teilnehmern sei das Maximum des Machbaren schon erreicht. Andere sehen noch Spielraum nach oben, sofern man das Entscheidungsprocedere anpasst. Die zweite Frage ist, wie konkret der Rat einen neuen Abstimmungsmodus konzipiert. Dieser würde dann gelten, wenn die Schwelle erreicht beziehungsweise überschritten wird.
Klar ist, dass der Grundmodus "Alle sind dabei und jeder hat eine Stimme" auf Dauer nicht zu halten sein wird und wohl zumindest teilweise aufgegeben werden muss.
Geldpolitik entnationalisieren
Ein verhängnisvoller Rückschritt wäre es, eine ähnliche Stimmengewichtung für den EZB-Rat einzuführen, wie sie der Nizza-Vertrag für den EU-Ministerrat vorsieht. Dies würde der Renationalisierung der Geldpolitik und einem permanenten Feilschen um den "richtigen" Zins Tür und Tor öffnen. Die Regierungen in Paris und Berlin befürchten, dass das nationale wirtschaftliche Gewicht in der Geldpolitik künftig abnehmen könnte und kleine Staaten die Geldpolitik dominieren könnten. Man kann zwar mit der Bildung von Ländergruppen für die Repräsentanz im EZB-Rat und mit einem Rotationsverfahren nach dem Vorbild der US-Notenbank Fed (s. nebenstehende Darstellung der Reformansätze) operieren, doch wären dies lediglich weitere Zwischenlösungen auf dem bereits eingeschlagenen Weg der Entnationalisierung der Geldpolitik.
Am besten wäre es, gleich eine von den einzelnen Ländern losgelöste Repräsentanz zu schaffen. So könnte etwa die europäische Politik (EU-Regierungen und Europaparlament) anhand einer Vorschlagsliste mit 30 hoch qualifizierten Kandidaten eine Gruppe aus 12 geldpolitischen "Weisen" bestimmen, die zusammen mit den 6 Direktoriumsmitgliedern den EZB-Rat bilden. Allen EU-Anwärtern würde signalisiert: Wer den Euro will, muss sich auf den völligen Verzicht seiner geldpolitischen Souveränität einstellen. Dieser Verzicht würde für alle gleichermaßen gelten und nicht, wie beim Ländergruppen-Ansatz, vornehmlich für die kleineren Staaten in Euroland.
Realistisch betrachtet, hat dieser Ansatz nicht den Hauch einer Chance, in überschaubarer Zeit verwirklicht zu werden. Man wird ihn im Reich der Utopien "zwischenlagern" müssen - zu stark klammern sich die Regierungen noch an den föderalen Rest geldpolitischer Souveränität. Welche Reform auch immer am Ende beschlossen wird, die Entnationalisierung der Geldpolitik sollte wenigstens das Fernziel bleiben.