DER SPIEGEL 49/2001 - 03. Dezember 2001
URL: www.spiegel.de/spiegel/0,1518,170668,00.html
Intellektuelle
"Ein Krieg um die Aufklärung"
Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy über den Antiamerikanismus europäischer Intellektueller, den Kampf gegen den Terrorismus und die These vom "Ende der Geschichte"
SPIEGEL: Monsieur Lévy, der Krieg in Afghanistan spaltet die Intellektuellen in Frankreich wie in Deutschland. Als einer von wenigen rechtfertigen Sie den militärischen Einsatz der USA von Anfang an fast bedingungslos. Warum standen Sie so isoliert da?
Lévy: Den meisten europäischen Intellektuellen war das Schicksal des afghanischen Volkes anscheinend egal. Sie übersehen, dass die Amerikaner nicht nur den Terrorismus bekämpfen. Ihre Intervention gilt auch der Befreiung Afghanistans.
SPIEGEL: Ist dieses Ziel für die USA nicht eher nebensächlich? Wollen die Amerikaner nicht vor allem Vergeltung?
Lévy: Für jeden, der weiter als bis zu seiner Nasenspitze blicken kann, musste von Anfang an klar sein, dass der Schlag gegen Bin Laden eine überaus erfreuliche und keineswegs nebensächliche Folge haben würde: Die Afghanen können jetzt eine schreckliche Vormundschaft abschütteln, sie werden von einem der schlimmsten Herrschaftssysteme des Planeten erlöst.
SPIEGEL: Wie erklären Sie unter diesen Umständen den Reflex des Antiamerikanismus bei Ihren Kollegen?
Lévy: Das ist sehr mysteriös. Ich bin nicht proamerikanisch. Ich habe gegen Vietnam demonstriert und gegen den von der CIA inszenierten Sturz Allendes in Chile. Ich finde die Todesstrafe abscheulich. Und die Wahl von George W. Bush hat heftige Reaktionen in mir ausgelöst. Aber ehrlicherweise muss ich anerkennen, dass dieser Krieg unter seiner Verantwortung bisher erstaunlich gut geführt wird. Insofern könnte er tatsächlich eine Weltpremiere darstellen.
SPIEGEL: Ein Krieg ganz ohne imperialistische Hintergedanken? Da scheint doch Skepsis angebracht.
Lévy: Der Antiamerikanismus ist mehr als bloßes Misstrauen. Er ist eine der großen Konstanten unserer politischen Kultur, ja eine Leidenschaft. Und Leidenschaft macht blind. Diese hier ist nicht erst mit dem US-Imperialismus entstanden.
SPIEGEL: Worin sehen Sie die Wurzeln dieser Leidenschaft, wenn nicht in der Rücksichtslosigkeit der Supermacht?
Lévy: Die USA stellen historisch einen neuen Typ von Nation dar, der Europa immer abgestoßen hat. Unsere alten Nationen, die auf einem gemeinsamen Territorium, einem kollektiven Gedächtnis, einer völkischen Identität beruhen wollen, finden das rousseauistische Amerika unerträglich, verdammenswert, skandalös - eine Nation, die in einem Willenskontrakt von oben geschmiedet wurde, statt organisch von unten zu wachsen.
SPIEGEL: Demnach wäre die Kritik am US-Imperialismus nur das Produkt einer viel ursprünglicheren Abneigung?
Lévy: In den Europäern schlummert noch das Phantasma von der angeblich reinen Nation, von der guten, geschlossenen Volksgemeinschaft. Der Schmelztiegel, die Vermischung der Kulturen ist ihnen unheimlich. Und im Angesicht der amerikanischen Supermacht schlägt dieses alte Misstrauen in Anprangerung amerikanischer Arroganz um.
SPIEGEL: Amerika als die Welt des Materialismus, der Uniformierung und der Kastration des Geistes - ist dieses von Heidegger entworfene Zerrbild noch immer lebendig?
Lévy: Es ist ein Topos der deutschen wie der französischen Rechten, das sich spiegelbildlich auf der Linken wiederfindet. Heidegger, aber auch französische Ideologen wie Georges Valois, Pierre Drieu La Rochelle und Charles Maurras hielten Amerika für eine ontologische Katastrophe. Diese leidenschaftliche metaphysische Ablehnung, die im Herzen der europäischen Kulturen wuchert, bricht sich auch heute bei jeder Gelegenheit noch Bahn.
SPIEGEL: Warum ist dann der Hass auf Amerika in der islamischen Welt noch viel virulenter?
Lévy: Für die Muslime ist Amerika der Sündenbock. Sie leiden unter dem allmählichen Niedergang, der ihre Welt seit Jahrhunderten heimsucht, das ist ihre Obsession. Die verlorene Größe, die abgebrochene Aufklärung, die Schmach des Kolonialismus wirken nach wie eine permanente Demütigung des Orients durch das Abendland. Die Amerikaner waren im Nahen Osten nie Kolonialmacht, aber sie werden wie der Inbegriff der Verwestlichung gesehen, also wie ein Götze.
SPIEGEL: Und als Schutzmacht des Staates Israel, den die Araber als koloniales Implantat empfinden.
Lévy: Das ist ein Alibi. Israel und Amerika haben nicht viel zur arabischen Demütigung beigetragen. Sie dienen als Ersatz für das Unvermögen, das eigene Unglück zu erklären und die eigene Verantwortung zu erkennen. Viele Araber leben in einer magischen Welt mit einer diabolischen Kausalität, in der die USA und Israel ungefähr das Gleiche sind: der große und der kleine Satan.
SPIEGEL: Können deswegen so irrsinnige Verschwörungstheorien gedeihen wie die, dass Israel und Amerika die Attentate auf das World Trade Center selbst geplant hätten, um gegen die islamische Welt losschlagen zu können?
Lévy: Das amerikanisch-jüdische Komplott, New York, die Stadt des Weltjudentums - das sind alte Wahnvorstellungen des europäischen Rechtsextremismus, die heute in vielen arabischen Hauptstädten herumgeistern. Der Islam in seiner fundamentalistischen Form ist in gewisser Weise der dritte Faschismus, der grüne Faschismus nach dem braunen und dem roten.
SPIEGEL: Vergleichen Sie da nicht Unvergleichbares? Der Nationalsozialismus und der Kommunismus waren säkulare, antireligiöse Bewegungen ...
Lévy: ... mit einem quasi mystischen Kern. Allen Fundamentalismen gemeinsam ist der Wille zur Reinheit, der Traum vom neuen Menschen, der mit sich und seiner Gemeinschaft in absoluter Harmonie lebt. In den Zuckungen des islamischen Integrismus erleben wir die letzten Höhepunkte des Totalitarismus aus dem 20. Jahrhundert.
SPIEGEL: Also handelt es sich für Sie sehr wohl um einen Krieg der Zivilisationen, um die Verteidigung der Freiheit gegen die Barbarei?
Lévy: Ja, aber nicht um einen Krieg des Westens gegen den Islam. Der wahre Krieg um die Zivilisation findet innerhalb der islamischen Welt statt. Auf dem Spiel steht die Ausdehnung der Aufklärung. Dieser Kampf wird lange dauern, und sein Ausgang ist auf schreckliche Weise unsicher. Aber ich glaube, dass er die große Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts sein wird.
SPIEGEL: Steht dahinter die Annahme, dass der Westen der alleinige Inhaber wahrhaft universaler Werte sei: Demokratie, Freiheit, Individualismus, Menschenrechte?
Lévy: Im Westen hat sich das Universale, der Weltgeist, wie Hegel sagte, am weitesten und am schlüssigsten entfaltet. Aber es gibt andere Erscheinungsweisen des Universalen, auch im Islam, es gibt eine arabische Aufklärung, wie sie im 12. Jahrhundert Averroës vertrat.
SPIEGEL: Warum konnte sich der Rationalismus im Islam nicht durchsetzen?
Lévy: Die islamische Aufklärung ist besiegt, aber nicht tot, sie ist in der Türkei und bei manchen Denkern in einigen arabischen Ländern durchaus lebendig, wenn auch niedergedrückt und überlagert. Niemand kann den Muslimen diese Reformation abnehmen, jetzt sind die Imame dran, sie müssen an sich selbst arbeiten, auch an ihren heiligen Texten, so wie Christen und Juden das zu anderen Zeiten ebenfalls getan haben.
SPIEGEL: Und was muss sich dabei verändern?
Lévy: Die Muslime müssen aufhören, die Demütigung durch den Westen als Ursache allen Übels zu beschwören. Sie müssen ihrem Antisemitismus auf den Grund gehen, einer Lepra, die immer weiter um sich greift. Sie müssen ihre Verweigerungshaltung aufgeben - die Verweigerung des Individualismus, des Rechts auf Unterscheidung, auf Abweichung, auf Irrtum. Sie müssen die Existenz des Bösen auch in ihrer Glaubensrichtung anerkennen. Der Islam ist nicht unberührbar, und Gottes Wort ist interpretierbar.
SPIEGEL: Am Ende dieser theologischen Umdeutung stünde notwendigerweise die Trennung von Politik und Religion, also die laizistische Gesellschaft. Gäbe damit der Islam nicht sein Wesen auf, da er ein Gesamtentwurf sein will, nicht nur eine Glaubensrichtung, sondern eine Lebensform?
Lévy: In eben diesem integristischen Anspruch liegt seine totalitaristische Gefahr. Warum sollte der Laizismus im Islam heute nicht genauso denkbar sein wie im Christentum des 16. Jahrhunderts? Es gibt den laizistischen Islam ja schon: in der Türkei und entschiedener noch in Bosnien. Auch deshalb mussten die Bosnier vor der Verfolgung durch die Serben geschützt werden, um dieses Modell, diesen Beweis der Existenz eines modernen, weltlichen Islam zu retten.
SPIEGEL: Kann es den gerechten Krieg überhaupt noch geben, führen die Amerikaner in Afghanistan einen gerechten Krieg, war das Eingreifen der Nato auf dem Balkan gerecht?
Lévy: Ich glaube, ja. Die Intellektuellen waren immer einer doppelten Versuchung ausgesetzt, die sich genau spiegelbildlich entspricht: der Versuchung des Bellizismus und der des Pazifismus. Der Krieg als der Vater aller Dinge und der Frieden um seiner selbst willen. Diese Dichotomie verstellt den Blick auf die dritte Option, an die wenige denken, den gerechten Krieg.
SPIEGEL: Für Sie ist der Friede kein Wert an sich?
Lévy: Krieg ist niemals schön. Die Ästhetik des Krieges, die Dichter wie Ernst Jünger, bei uns Guillaume Apollinaire, Jean Cocteau oder Henry de Montherlant so faszinierte, ist eine Schweinerei. Der Lobgesang auf den Krieg als höchste Vollendung der Virilität ist skandalös. Aber der Krieg kann unvermeidlich sein, trotz all seiner Hässlichkeit - und dann muss man ihn führen, ohne Begeisterung, mit Bedauern, unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit, denn es gibt Schlimmeres als den Krieg: die Hölle.
SPIEGEL: Und doch befand Kant, der über die Bedingungen des Weltfriedens nachdachte, der Krieg habe die unangenehme Eigenschaft, mehr Böses zu schaffen als zu beseitigen.
Lévy: Das ist falsch. Wir kennen das Böse, das in Afghanistan beseitigt werden soll, aber noch nicht das Übel, das dort möglicherweise geschaffen wird. Ich gehe die Wette ein, dass Letzteres geringer als das Erstere sein wird.
SPIEGEL: Eines scheint sicher: Die Zahl der Anwärter für selbstmörderische Attentate wird nach dem Afghanistan-Krieg nicht kleiner sein als vorher, eher im Gegenteil.
Lévy: Das ist etwas anderes. Ich habe nie gedacht, dass Bombardements das beste Mittel sind, um den Terrorismus niederzuringen. Deshalb sollte man sie jetzt auch so schnell wie möglich beenden. Der Kampf gegen den Terror muss auf einer anderen Ebene geführt werden: austrocknen der Finanzkanäle, Spionage und Nachrichtenbeschaffung, politischer und diplomatischer Druck, vor allem aber Schluss mit der amerikanischen und allgemein westlichen Nachsicht gegenüber Staaten, die Terrorismus ausbrüten oder ihm Zuflucht gewähren.
SPIEGEL: Sie denken an Saudi-Arabien?
Lévy: Natürlich, die saudische Doppelzüngigkeit ist widerlich. Mein Freund, der inzwischen ermordete Nordallianz-Führer Massud, sagte mir bei meinem vorletzten Besuch, dass Bin Laden ein typisches Produkt saudischer Palastintrigen sei, getrieben vom Ehrgeiz, Prinz an Stelle der Prinzen zu werden. Glauben Sie nicht, sagte er mir, dass Bin Laden die Stimme der Verdammten dieser Erde oder gar der Palästinenser ist. Bin Laden wolle abrechnen mit einer Kaste, zu der er selber gehöre, er wolle an die Macht, an den Ölhahn. Wenn man dann hört, dass die CIA vor noch nicht allzu langer Zeit Kontakte zu ihm unterhielt, wird einem speiübel.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass der Terrorismus endgültig bezwungen werden kann?
Lévy: Das ist so, als würden Sie mich fragen, ob der Tod oder das Böse oder der Krieg oder die Gewalt besiegt werden können. Damit wird man nie fertig. Wir können nur hoffen, den Terror einzudämmen, ihm zu widerstehen, ihn zu begrenzen, zu isolieren.
SPIEGEL: Weckt Bush leichtfertig Illusionen, wenn er von der Ausmerzung des Terrorismus spricht?
Lévy: Das muss man Bush und Blair vorwerfen - die Rhetorik der Vernichtung. Wir können uns vor dem Terrorismus schützen, aber wir können ihn nicht ausrotten. Die Menschheit kann den dunklen, verfluchten, bösartigen Teil ihrer selbst nicht definitiv überwinden; er gehört dazu. Der Terrorismus ist der dunkle Schatten der westlichen Gesellschaft, er wird uns noch lange folgen.
SPIEGEL: Der Soziologe Jean Baudrillard vertritt die These, dass der Terrorismus im Weltmaßstab die absolute Antiform der Globalisierung sei. Marx glaubte, dass der Kapitalismus den Keim seiner eigenen Zerstörung in sich trage. Könnte das auch für die Globalisierung und deren treibende Kraft Amerika gelten?
Lévy: Baudrillard hat, wie für ihn typisch, auf äußerst komplizierte Weise etwas Evidentes ausgedrückt. Es ist natürlich, dass der Terrorismus sich ebenfalls globalisiert. Seine Akteure gehören in der Regel eher zur Elite als zu den Ärmsten und Ungebildeten. Aber Achtung: Baudrillard hat viel Empörung auf sich gezogen, weil er den Eindruck erweckte, die USA als Speerspitze der Globalisierung seien selbst schuld an ihrem Unglück, sie hätten den Terrorismus selbst erschaffen. Diese Einstellung ist widerwärtig.
SPIEGEL: Wollten die Attentäter von New York nicht genau das beweisen? Wer absichtlich sein Leben opfert, muss so unterdrückt, so verzweifelt sein, dass ihm kein Ausweg mehr bleibt - ist das die Botschaft des Kamikaze?
Lévy: Vielleicht wollen sie es so darstellen, aber ihr Todeskult entspringt nicht der Verzweiflung. Ihr Fanatismus ist eine Form der Hoffnung. Sie erleben sich als moderne Kinder des Paradieses. Sie sind voller Hoffnung, ihre Seele und ihr Geist sind erleuchtet. Ich habe Selbstmordattentäter auf Sri Lanka kennen lernen und studieren können. Das sind keine düsteren Charaktere. Sie glauben, dass sie den Ausweg kennen. Sie sind überzeugt, dass sie dem Jüngsten Gericht zuvorkommen.
SPIEGEL: Darin sehen sie auch ihre Stärke: Sie sind bereit zu sterben, während der Westen sich vor dem Tod fürchtet. Die USA wollen möglichst keinen Soldaten verlieren.
Lévy: Die Entscheidung für den eigenen Tod ist die absolute Waffe, die einzige, gegen die man nichts ausrichten kann. Das zeigt sich fast jeden Tag in Israel. Die Möglichkeit, dass jeder Vorbeikommende ein wandelnder Sprengkörper sein kann, löst eine Massenpsychose aus. Diese Terroristen haben eine unheimliche, schrecklich moralische Kraft. Die Fähigkeit, bis zum Ende zu gehen, alle Selbsterhaltungstriebe zu überwinden, alle Zweifel zum Verstummen zu bringen, macht sie auf schockierende Weise stark.
SPIEGEL: Dabei nennen die Amerikaner diese Attentäter gern feige.
Lévy: Sie verstehen nicht, was in deren Köpfen vorgeht. Es sind Monster, ja. Die Selbstmordattentäter haben eine besondere Ausbildung genossen - militärisch-technisch, gewiss, aber auch spirituell.
SPIEGEL: Eine Art religiöser Gehirnwäsche, wie in einer Sekte?
Lévy: Mir scheint es mehr zu sein, denn sie gehorchen nicht blindem Glauben und roboterhafter Disziplin. Sie verfügen über eine extreme moralische und intellektuelle Ausstrahlung. Dieser Terrorismus ist näher an der Askese als an der Gehirnwäsche.
SPIEGEL: Ist das Ende der Geschichte, das nach dem Zusammenbruch des Kommunismus von manchen prophezeit wurde, weniger die Erfüllung von Freiheit und Fortschritt als das Heraufziehen apokalyptischer Sturmgefahren?
Lévy: Hegel, Alexandre Kojève und Francis Fukuyama haben sich schwer geirrt. Das Ende der Geschichte ist nicht in Jena, Moskau oder New York erreicht worden. Ich habe es in Burundi und anderswo in Afrika gesehen, wo Kriege jenseits aller Logik wüten, in denen die Kombattanten nicht mehr wissen, wofür sie kämpfen. Das ist der entfesselte Nihilismus, der Hass und die Zerstörung in Reinform. Ideologische Motive existieren dort nur noch als Lendenschurz der nackten Brutalität.
SPIEGEL: Muss die Vernunft vor dem Grauen kapitulieren?
Lévy: Die Vernunft ist nicht allmächtig, die Philosophie muss manchmal die Fahne streichen. Vor 30 Jahren habe ich noch an die Revolution, an die radikale Veränderbarkeit der Welt geglaubt. Das ist vorbei, ich bin bescheiden geworden. Der Pessimismus steht im Mittelpunkt meines Werkes. Die Vorstellung einer neuen, vollkommenen Welt ist selbst wiederum eine barbarische Idee.
SPIEGEL: Verkünden Sie da nicht die Abdankung jeglichen Humanismus?
Lévy: Nein, denn ich glaube zwar an das Böse, aber nicht an die Verdammnis. Ich verzichte nicht auf die hartnäckige Anstrengung, die Welt etwas weniger schlecht zu machen. Das Schreckliche darf nicht das letzte Wort sein. Meine Generation hat ein großartiges Prinzip im Völkerrecht durchgesetzt: das Recht auf Einmischung. Dieses Recht hat in letzter Zeit drei Befreiungskriege ermöglicht, in Bosnien, im Kosovo und jetzt in Afghanistan. An unseren Kindern liegt es, weiterzugehen, aus dem Recht eine allgemeine Pflicht zu machen. Dafür braucht es mehr als humanitäre Hilfe und Mitleidsbekundungen.
SPIEGEL: Monsieur Lévy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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© DER SPIEGEL 49/2001
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Intellektuelle
"Ein Krieg um die Aufklärung"
Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy über den Antiamerikanismus europäischer Intellektueller, den Kampf gegen den Terrorismus und die These vom "Ende der Geschichte"
SPIEGEL: Monsieur Lévy, der Krieg in Afghanistan spaltet die Intellektuellen in Frankreich wie in Deutschland. Als einer von wenigen rechtfertigen Sie den militärischen Einsatz der USA von Anfang an fast bedingungslos. Warum standen Sie so isoliert da?
Lévy: Den meisten europäischen Intellektuellen war das Schicksal des afghanischen Volkes anscheinend egal. Sie übersehen, dass die Amerikaner nicht nur den Terrorismus bekämpfen. Ihre Intervention gilt auch der Befreiung Afghanistans.
SPIEGEL: Ist dieses Ziel für die USA nicht eher nebensächlich? Wollen die Amerikaner nicht vor allem Vergeltung?
Lévy: Für jeden, der weiter als bis zu seiner Nasenspitze blicken kann, musste von Anfang an klar sein, dass der Schlag gegen Bin Laden eine überaus erfreuliche und keineswegs nebensächliche Folge haben würde: Die Afghanen können jetzt eine schreckliche Vormundschaft abschütteln, sie werden von einem der schlimmsten Herrschaftssysteme des Planeten erlöst.
SPIEGEL: Wie erklären Sie unter diesen Umständen den Reflex des Antiamerikanismus bei Ihren Kollegen?
Lévy: Das ist sehr mysteriös. Ich bin nicht proamerikanisch. Ich habe gegen Vietnam demonstriert und gegen den von der CIA inszenierten Sturz Allendes in Chile. Ich finde die Todesstrafe abscheulich. Und die Wahl von George W. Bush hat heftige Reaktionen in mir ausgelöst. Aber ehrlicherweise muss ich anerkennen, dass dieser Krieg unter seiner Verantwortung bisher erstaunlich gut geführt wird. Insofern könnte er tatsächlich eine Weltpremiere darstellen.
SPIEGEL: Ein Krieg ganz ohne imperialistische Hintergedanken? Da scheint doch Skepsis angebracht.
Lévy: Der Antiamerikanismus ist mehr als bloßes Misstrauen. Er ist eine der großen Konstanten unserer politischen Kultur, ja eine Leidenschaft. Und Leidenschaft macht blind. Diese hier ist nicht erst mit dem US-Imperialismus entstanden.
SPIEGEL: Worin sehen Sie die Wurzeln dieser Leidenschaft, wenn nicht in der Rücksichtslosigkeit der Supermacht?
Lévy: Die USA stellen historisch einen neuen Typ von Nation dar, der Europa immer abgestoßen hat. Unsere alten Nationen, die auf einem gemeinsamen Territorium, einem kollektiven Gedächtnis, einer völkischen Identität beruhen wollen, finden das rousseauistische Amerika unerträglich, verdammenswert, skandalös - eine Nation, die in einem Willenskontrakt von oben geschmiedet wurde, statt organisch von unten zu wachsen.
SPIEGEL: Demnach wäre die Kritik am US-Imperialismus nur das Produkt einer viel ursprünglicheren Abneigung?
Lévy: In den Europäern schlummert noch das Phantasma von der angeblich reinen Nation, von der guten, geschlossenen Volksgemeinschaft. Der Schmelztiegel, die Vermischung der Kulturen ist ihnen unheimlich. Und im Angesicht der amerikanischen Supermacht schlägt dieses alte Misstrauen in Anprangerung amerikanischer Arroganz um.
SPIEGEL: Amerika als die Welt des Materialismus, der Uniformierung und der Kastration des Geistes - ist dieses von Heidegger entworfene Zerrbild noch immer lebendig?
Lévy: Es ist ein Topos der deutschen wie der französischen Rechten, das sich spiegelbildlich auf der Linken wiederfindet. Heidegger, aber auch französische Ideologen wie Georges Valois, Pierre Drieu La Rochelle und Charles Maurras hielten Amerika für eine ontologische Katastrophe. Diese leidenschaftliche metaphysische Ablehnung, die im Herzen der europäischen Kulturen wuchert, bricht sich auch heute bei jeder Gelegenheit noch Bahn.
SPIEGEL: Warum ist dann der Hass auf Amerika in der islamischen Welt noch viel virulenter?
Lévy: Für die Muslime ist Amerika der Sündenbock. Sie leiden unter dem allmählichen Niedergang, der ihre Welt seit Jahrhunderten heimsucht, das ist ihre Obsession. Die verlorene Größe, die abgebrochene Aufklärung, die Schmach des Kolonialismus wirken nach wie eine permanente Demütigung des Orients durch das Abendland. Die Amerikaner waren im Nahen Osten nie Kolonialmacht, aber sie werden wie der Inbegriff der Verwestlichung gesehen, also wie ein Götze.
SPIEGEL: Und als Schutzmacht des Staates Israel, den die Araber als koloniales Implantat empfinden.
Lévy: Das ist ein Alibi. Israel und Amerika haben nicht viel zur arabischen Demütigung beigetragen. Sie dienen als Ersatz für das Unvermögen, das eigene Unglück zu erklären und die eigene Verantwortung zu erkennen. Viele Araber leben in einer magischen Welt mit einer diabolischen Kausalität, in der die USA und Israel ungefähr das Gleiche sind: der große und der kleine Satan.
SPIEGEL: Können deswegen so irrsinnige Verschwörungstheorien gedeihen wie die, dass Israel und Amerika die Attentate auf das World Trade Center selbst geplant hätten, um gegen die islamische Welt losschlagen zu können?
Lévy: Das amerikanisch-jüdische Komplott, New York, die Stadt des Weltjudentums - das sind alte Wahnvorstellungen des europäischen Rechtsextremismus, die heute in vielen arabischen Hauptstädten herumgeistern. Der Islam in seiner fundamentalistischen Form ist in gewisser Weise der dritte Faschismus, der grüne Faschismus nach dem braunen und dem roten.
SPIEGEL: Vergleichen Sie da nicht Unvergleichbares? Der Nationalsozialismus und der Kommunismus waren säkulare, antireligiöse Bewegungen ...
Lévy: ... mit einem quasi mystischen Kern. Allen Fundamentalismen gemeinsam ist der Wille zur Reinheit, der Traum vom neuen Menschen, der mit sich und seiner Gemeinschaft in absoluter Harmonie lebt. In den Zuckungen des islamischen Integrismus erleben wir die letzten Höhepunkte des Totalitarismus aus dem 20. Jahrhundert.
SPIEGEL: Also handelt es sich für Sie sehr wohl um einen Krieg der Zivilisationen, um die Verteidigung der Freiheit gegen die Barbarei?
Lévy: Ja, aber nicht um einen Krieg des Westens gegen den Islam. Der wahre Krieg um die Zivilisation findet innerhalb der islamischen Welt statt. Auf dem Spiel steht die Ausdehnung der Aufklärung. Dieser Kampf wird lange dauern, und sein Ausgang ist auf schreckliche Weise unsicher. Aber ich glaube, dass er die große Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts sein wird.
SPIEGEL: Steht dahinter die Annahme, dass der Westen der alleinige Inhaber wahrhaft universaler Werte sei: Demokratie, Freiheit, Individualismus, Menschenrechte?
Lévy: Im Westen hat sich das Universale, der Weltgeist, wie Hegel sagte, am weitesten und am schlüssigsten entfaltet. Aber es gibt andere Erscheinungsweisen des Universalen, auch im Islam, es gibt eine arabische Aufklärung, wie sie im 12. Jahrhundert Averroës vertrat.
SPIEGEL: Warum konnte sich der Rationalismus im Islam nicht durchsetzen?
Lévy: Die islamische Aufklärung ist besiegt, aber nicht tot, sie ist in der Türkei und bei manchen Denkern in einigen arabischen Ländern durchaus lebendig, wenn auch niedergedrückt und überlagert. Niemand kann den Muslimen diese Reformation abnehmen, jetzt sind die Imame dran, sie müssen an sich selbst arbeiten, auch an ihren heiligen Texten, so wie Christen und Juden das zu anderen Zeiten ebenfalls getan haben.
SPIEGEL: Und was muss sich dabei verändern?
Lévy: Die Muslime müssen aufhören, die Demütigung durch den Westen als Ursache allen Übels zu beschwören. Sie müssen ihrem Antisemitismus auf den Grund gehen, einer Lepra, die immer weiter um sich greift. Sie müssen ihre Verweigerungshaltung aufgeben - die Verweigerung des Individualismus, des Rechts auf Unterscheidung, auf Abweichung, auf Irrtum. Sie müssen die Existenz des Bösen auch in ihrer Glaubensrichtung anerkennen. Der Islam ist nicht unberührbar, und Gottes Wort ist interpretierbar.
SPIEGEL: Am Ende dieser theologischen Umdeutung stünde notwendigerweise die Trennung von Politik und Religion, also die laizistische Gesellschaft. Gäbe damit der Islam nicht sein Wesen auf, da er ein Gesamtentwurf sein will, nicht nur eine Glaubensrichtung, sondern eine Lebensform?
Lévy: In eben diesem integristischen Anspruch liegt seine totalitaristische Gefahr. Warum sollte der Laizismus im Islam heute nicht genauso denkbar sein wie im Christentum des 16. Jahrhunderts? Es gibt den laizistischen Islam ja schon: in der Türkei und entschiedener noch in Bosnien. Auch deshalb mussten die Bosnier vor der Verfolgung durch die Serben geschützt werden, um dieses Modell, diesen Beweis der Existenz eines modernen, weltlichen Islam zu retten.
SPIEGEL: Kann es den gerechten Krieg überhaupt noch geben, führen die Amerikaner in Afghanistan einen gerechten Krieg, war das Eingreifen der Nato auf dem Balkan gerecht?
Lévy: Ich glaube, ja. Die Intellektuellen waren immer einer doppelten Versuchung ausgesetzt, die sich genau spiegelbildlich entspricht: der Versuchung des Bellizismus und der des Pazifismus. Der Krieg als der Vater aller Dinge und der Frieden um seiner selbst willen. Diese Dichotomie verstellt den Blick auf die dritte Option, an die wenige denken, den gerechten Krieg.
SPIEGEL: Für Sie ist der Friede kein Wert an sich?
Lévy: Krieg ist niemals schön. Die Ästhetik des Krieges, die Dichter wie Ernst Jünger, bei uns Guillaume Apollinaire, Jean Cocteau oder Henry de Montherlant so faszinierte, ist eine Schweinerei. Der Lobgesang auf den Krieg als höchste Vollendung der Virilität ist skandalös. Aber der Krieg kann unvermeidlich sein, trotz all seiner Hässlichkeit - und dann muss man ihn führen, ohne Begeisterung, mit Bedauern, unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit, denn es gibt Schlimmeres als den Krieg: die Hölle.
SPIEGEL: Und doch befand Kant, der über die Bedingungen des Weltfriedens nachdachte, der Krieg habe die unangenehme Eigenschaft, mehr Böses zu schaffen als zu beseitigen.
Lévy: Das ist falsch. Wir kennen das Böse, das in Afghanistan beseitigt werden soll, aber noch nicht das Übel, das dort möglicherweise geschaffen wird. Ich gehe die Wette ein, dass Letzteres geringer als das Erstere sein wird.
SPIEGEL: Eines scheint sicher: Die Zahl der Anwärter für selbstmörderische Attentate wird nach dem Afghanistan-Krieg nicht kleiner sein als vorher, eher im Gegenteil.
Lévy: Das ist etwas anderes. Ich habe nie gedacht, dass Bombardements das beste Mittel sind, um den Terrorismus niederzuringen. Deshalb sollte man sie jetzt auch so schnell wie möglich beenden. Der Kampf gegen den Terror muss auf einer anderen Ebene geführt werden: austrocknen der Finanzkanäle, Spionage und Nachrichtenbeschaffung, politischer und diplomatischer Druck, vor allem aber Schluss mit der amerikanischen und allgemein westlichen Nachsicht gegenüber Staaten, die Terrorismus ausbrüten oder ihm Zuflucht gewähren.
SPIEGEL: Sie denken an Saudi-Arabien?
Lévy: Natürlich, die saudische Doppelzüngigkeit ist widerlich. Mein Freund, der inzwischen ermordete Nordallianz-Führer Massud, sagte mir bei meinem vorletzten Besuch, dass Bin Laden ein typisches Produkt saudischer Palastintrigen sei, getrieben vom Ehrgeiz, Prinz an Stelle der Prinzen zu werden. Glauben Sie nicht, sagte er mir, dass Bin Laden die Stimme der Verdammten dieser Erde oder gar der Palästinenser ist. Bin Laden wolle abrechnen mit einer Kaste, zu der er selber gehöre, er wolle an die Macht, an den Ölhahn. Wenn man dann hört, dass die CIA vor noch nicht allzu langer Zeit Kontakte zu ihm unterhielt, wird einem speiübel.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass der Terrorismus endgültig bezwungen werden kann?
Lévy: Das ist so, als würden Sie mich fragen, ob der Tod oder das Böse oder der Krieg oder die Gewalt besiegt werden können. Damit wird man nie fertig. Wir können nur hoffen, den Terror einzudämmen, ihm zu widerstehen, ihn zu begrenzen, zu isolieren.
SPIEGEL: Weckt Bush leichtfertig Illusionen, wenn er von der Ausmerzung des Terrorismus spricht?
Lévy: Das muss man Bush und Blair vorwerfen - die Rhetorik der Vernichtung. Wir können uns vor dem Terrorismus schützen, aber wir können ihn nicht ausrotten. Die Menschheit kann den dunklen, verfluchten, bösartigen Teil ihrer selbst nicht definitiv überwinden; er gehört dazu. Der Terrorismus ist der dunkle Schatten der westlichen Gesellschaft, er wird uns noch lange folgen.
SPIEGEL: Der Soziologe Jean Baudrillard vertritt die These, dass der Terrorismus im Weltmaßstab die absolute Antiform der Globalisierung sei. Marx glaubte, dass der Kapitalismus den Keim seiner eigenen Zerstörung in sich trage. Könnte das auch für die Globalisierung und deren treibende Kraft Amerika gelten?
Lévy: Baudrillard hat, wie für ihn typisch, auf äußerst komplizierte Weise etwas Evidentes ausgedrückt. Es ist natürlich, dass der Terrorismus sich ebenfalls globalisiert. Seine Akteure gehören in der Regel eher zur Elite als zu den Ärmsten und Ungebildeten. Aber Achtung: Baudrillard hat viel Empörung auf sich gezogen, weil er den Eindruck erweckte, die USA als Speerspitze der Globalisierung seien selbst schuld an ihrem Unglück, sie hätten den Terrorismus selbst erschaffen. Diese Einstellung ist widerwärtig.
SPIEGEL: Wollten die Attentäter von New York nicht genau das beweisen? Wer absichtlich sein Leben opfert, muss so unterdrückt, so verzweifelt sein, dass ihm kein Ausweg mehr bleibt - ist das die Botschaft des Kamikaze?
Lévy: Vielleicht wollen sie es so darstellen, aber ihr Todeskult entspringt nicht der Verzweiflung. Ihr Fanatismus ist eine Form der Hoffnung. Sie erleben sich als moderne Kinder des Paradieses. Sie sind voller Hoffnung, ihre Seele und ihr Geist sind erleuchtet. Ich habe Selbstmordattentäter auf Sri Lanka kennen lernen und studieren können. Das sind keine düsteren Charaktere. Sie glauben, dass sie den Ausweg kennen. Sie sind überzeugt, dass sie dem Jüngsten Gericht zuvorkommen.
SPIEGEL: Darin sehen sie auch ihre Stärke: Sie sind bereit zu sterben, während der Westen sich vor dem Tod fürchtet. Die USA wollen möglichst keinen Soldaten verlieren.
Lévy: Die Entscheidung für den eigenen Tod ist die absolute Waffe, die einzige, gegen die man nichts ausrichten kann. Das zeigt sich fast jeden Tag in Israel. Die Möglichkeit, dass jeder Vorbeikommende ein wandelnder Sprengkörper sein kann, löst eine Massenpsychose aus. Diese Terroristen haben eine unheimliche, schrecklich moralische Kraft. Die Fähigkeit, bis zum Ende zu gehen, alle Selbsterhaltungstriebe zu überwinden, alle Zweifel zum Verstummen zu bringen, macht sie auf schockierende Weise stark.
SPIEGEL: Dabei nennen die Amerikaner diese Attentäter gern feige.
Lévy: Sie verstehen nicht, was in deren Köpfen vorgeht. Es sind Monster, ja. Die Selbstmordattentäter haben eine besondere Ausbildung genossen - militärisch-technisch, gewiss, aber auch spirituell.
SPIEGEL: Eine Art religiöser Gehirnwäsche, wie in einer Sekte?
Lévy: Mir scheint es mehr zu sein, denn sie gehorchen nicht blindem Glauben und roboterhafter Disziplin. Sie verfügen über eine extreme moralische und intellektuelle Ausstrahlung. Dieser Terrorismus ist näher an der Askese als an der Gehirnwäsche.
SPIEGEL: Ist das Ende der Geschichte, das nach dem Zusammenbruch des Kommunismus von manchen prophezeit wurde, weniger die Erfüllung von Freiheit und Fortschritt als das Heraufziehen apokalyptischer Sturmgefahren?
Lévy: Hegel, Alexandre Kojève und Francis Fukuyama haben sich schwer geirrt. Das Ende der Geschichte ist nicht in Jena, Moskau oder New York erreicht worden. Ich habe es in Burundi und anderswo in Afrika gesehen, wo Kriege jenseits aller Logik wüten, in denen die Kombattanten nicht mehr wissen, wofür sie kämpfen. Das ist der entfesselte Nihilismus, der Hass und die Zerstörung in Reinform. Ideologische Motive existieren dort nur noch als Lendenschurz der nackten Brutalität.
SPIEGEL: Muss die Vernunft vor dem Grauen kapitulieren?
Lévy: Die Vernunft ist nicht allmächtig, die Philosophie muss manchmal die Fahne streichen. Vor 30 Jahren habe ich noch an die Revolution, an die radikale Veränderbarkeit der Welt geglaubt. Das ist vorbei, ich bin bescheiden geworden. Der Pessimismus steht im Mittelpunkt meines Werkes. Die Vorstellung einer neuen, vollkommenen Welt ist selbst wiederum eine barbarische Idee.
SPIEGEL: Verkünden Sie da nicht die Abdankung jeglichen Humanismus?
Lévy: Nein, denn ich glaube zwar an das Böse, aber nicht an die Verdammnis. Ich verzichte nicht auf die hartnäckige Anstrengung, die Welt etwas weniger schlecht zu machen. Das Schreckliche darf nicht das letzte Wort sein. Meine Generation hat ein großartiges Prinzip im Völkerrecht durchgesetzt: das Recht auf Einmischung. Dieses Recht hat in letzter Zeit drei Befreiungskriege ermöglicht, in Bosnien, im Kosovo und jetzt in Afghanistan. An unseren Kindern liegt es, weiterzugehen, aus dem Recht eine allgemeine Pflicht zu machen. Dafür braucht es mehr als humanitäre Hilfe und Mitleidsbekundungen.
SPIEGEL: Monsieur Lévy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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