"Es regiert die Gier"
Deutschland im Börsenrausch: Getrieben durch die Internet-Euphorie und eine gigantische Welle von Fusionen, erreichen die Aktienwerte immer neue Rekorde. Doch wie lange noch? Viele Fusionsfirmen gelten als unregierbar und die Profiterwartungen der Internet-Gründer als unrealistisch.
Die Narren sind los. Beim Rosenmontagszug in Köln forderten die Zuschauer nicht nur, wie es seit Jahrzehnten guter Brauch ist, "Kamelle, Kamelle". In der Ehrenstraße rief ein Jeck, der in ein Kuhfell gekleidet war, Prinz Ralf dem Zweiten den neuen Schlachtruf zu: "Aktien, Aktien."
Die halbe Republik, so scheint es, ist derzeit närrisch. Und das nicht nur am Rosenmontag. Ganz gleich ob Rentner, Hausfrau, Taxifahrer oder Arzt, ganz gleich ob im niedersächsischen Jever, im oberbayerischen Waldkraiburg, in Köln oder Berlin - überall wollen die Menschen offenbar nur das eine: Aktien, Aktien, Aktien.
"Die Leute kommen an den Schalter und fragen nach Infineon-Aktien oder wie das heißt", berichtet die Anlageberaterin bei der Stadtsparkasse München. Bis vor kurzem hätten die meisten Menschen hinter dem Namen Infineon wohl Tabletten gegen Halsschmerzen oder Durchfall vermutet. Nach einer 100 Millionen Mark teuren Werbekampagne wissen manche immerhin, dass Infineon eine Tochter von Siemens ist und die Firma Halbleiter herstellt. Siemens klingt seriös, und Halbleiter klingen nach Zukunft. Das reicht.
Menschen, die vor jedem Staubsaugerkauf Rat bei der Stiftung Warentest einholen, orderten in der vergangenen Woche für mehrere tausend Mark Infineon-Aktien. Beim größten Börsengang seit der Deutschen Telekom ist der Andrang so groß, dass die Anteilscheine verlost werden. Wer sie zum Ausgabepreis von maximal 35 Euro erhält, kann darauf hoffen, dass sie am ersten Handelstag, dem 13. März, auf 85 bis 90 Euro steigen. Aus 1000 Mark würden dann 2500, aus 10 000 würden 25 000 und aus 100 000 ...
"Geld-Rausch!", titelte "Bild" und fragte: "Kann ich auch reich werden?" Für andere ist das längst keine Frage mehr. "Machen Sie Ihre erste Million", fordert "DM" seine Leser auf, "fangen Sie noch heute an, reich zu werden."
Was derzeit an der Börse geschieht, ist rational kaum zu begreifen, selbst für Finanzexperten. "Es regiert die Gier - und nichts anderes", sagt Gerhard Schleif, Börsenchef der DGZ-Dekabank, des zweitgrößten Fondsverwalters in Deutschland.
Immer mehr Deutsche, die ihr Geld jahrzehntelang in Bausparverträgen, auf Sparbüchern oder in Bundesschatzbriefen anlegten, folgen dem Lockruf der Börse. Plötzlich interessieren sie sich für "Puts" und "Calls", für das Schicksal von Dax und Nemax. Und die Verlage bieten ihnen mit einer ständig steigenden Zahl von Titeln das nötige Wissen. Deutschland soll jetzt reif sein für die "Financial Times": Gruner + Jahr-Vorstand Bernd Kundrun und Chefredakteur Andrew Gowers wagen den Start der deutschen Ausgabe. Kult-Zyniker Harald Schmidt hat das längst drauf: Er zockt nebenbei wie ein Profi mit Aktien - und hunderttausende schauen ihm zu.
Über fünf Millionen, so viel wie nie zuvor, besitzen mittlerweile Aktien. Und der Wert ihrer Anteilscheine war noch nie so hoch: über 500 Milliarden Mark. "Ein Volk", stellt die "Welt" erschreckt fest, "verfällt dem Börsenwahn".
Der Wahn erhält stets neue Nahrung. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine Übernahme oder Superfusion verkündet wird. Für Banken und Industrie gilt offenbar das Motto: Nichts ist unmöglich. Nachdem in der vergangenen Woche der Zusammenschluss von Dresdner und Deutscher Bank zum größten Kreditinstitut der Welt bekannt wurde, machen bereits Gerüchte über die nächsten Fusionen die Runde. Jetzt soll die Commerzbank Ziel einer feindlichen Übernahme sein.
Keine Branche bleibt vor der Mergermania verschont. Mit Glaxo Wellcome und Smithkline Beecham gingen zwei der größten Pharmaunternehmen eine Verbindung ein. Renault übernahm Nissan. DaimlerChrysler will, gut ein Jahr nach der deutsch-amerikanischen Fusion, einen Anteil an Mitsubishi kaufen. Unternehmen im Größenwahn.
Entziehen kann sich dem offenbar kaum einer. Wer nicht Täter ist, wird Opfer. Jetzt sind in Deutschland auch feindliche Übernahmen möglich: So wurde Mannesmann von Vodafone geschluckt.
1996 haben die Statistiker erst 211 so genannte Mega-Deals gezählt - Fusionen oder Übernahmen mit einem Volumen von mehr als einer Milliarde Dollar. 1999 waren es schon 476 mit einem Volumen von 3,8 Billionen Dollar.
Gefüttert wird die Börseneuphorie durch eine aus den USA herüberschwappende Begeisterung für die Technologie des neuen Jahrzehnts, das Internet. Zwei alte Medien, der Computer und das Telefonkabel, wurden miteinander verbunden; entstanden ist ein völlig neues Medium, das alles verändert: das Privatleben, die Arbeitswelt und damit die Unternehmen.
Schon mehr als 250 Millionen Menschen sind online, darunter 16 Millionen in Deutschland: Sie informieren sich dort, bestellen Waren und tauschen E-Mails aus. Die digitale Revolution ist zum treibenden Faktor für den Strukturwandel geworden.
Neue Firmen, die aus dem Nichts emporschossen, verfügen mittlerweile über einen gigantischen Börsenwert. Das Internet-Portal Yahoo wird mit 195 Milliarden Mark bewertet - das ist mehr als der Wert von Volkswagen, BASF, Metro und Lufthansa zusammen. Immerhin erwirtschaftet Yahoo bereits einen kleinen Gewinn. Das Internet-Versandhaus Amazon, das bislang nur Verluste anhäufte, wird an der Börse mit 47 Milliarden Mark bewertet.
An den Ursprung manch neuer Internet-Firma in einem Hinterzimmer oder einer Garage erinnert allenfalls noch ein vergilbtes Foto auf dem Schreibtisch des Konzernchefs und das Auftreten der neuen Bosse, die wie Amazon-Chef Jeff Bezos ihr Milliardenreich meist in Khakihosen und Polohemd dirigieren. Im Geschäft aber folgen sie den gleichen Maximen wie die Stahlmanager im grauen Zweireiher: Ihr Konzern soll größer werden, immer größer. Und das geht am schnellsten durch Übernahmen.
Längst verleiben sich die Firmen der New Economy die Traditionsfirmen der alten Wirtschaft ein. Da schluckte die Internet-Firma AOL des Senkrechtstarters Steve Case den Time-Warner-Konzern, um wenige Tage später gemeinsam mit dem Medienriesen die Musikfirma EMI zu übernehmen. Und jetzt kaufte der von Thomas Haffa gegründete Filmrechtehändler EM.TV die Mehrheit am lukrativen Formel-1-Geschäft.
Das Kapital dafür liefert die Börse. Bezahlt werden die Übernahmen meist nicht mit Bargeld, sondern mit Aktien des eigenen Unternehmens. Und je höher der Kurs steigt, umso eher können weitere Firmen übernommen werden - wodurch der eigene Kurs erneut steigen soll. So schaukeln sich Börsenboom und Mergermania gegenseitig hoch.
Ist dies der schiere Wahnsinn, der nur in einem großen Crash enden kann wie 1929, als schon einmal die Weltwirtschaft in die Krise stürzte? Oder ist es der Aufbruch in ein neues Zeitalter, in dem die alten Maßstäbe nicht mehr gültig sind?
Erklärbar ist der große Rausch, in dem sich derzeit so ziemlich alles in der Wirtschaft ändert, was jahrzehntelang unveränderlich schien, durch das Zusammentreffen von drei Entwicklungen:
* Private Haushalte verfügen gut fünf Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, aber auch in den USA und anderen Staaten über so viel Vermögen wie noch nie. Und sie legen es zunehmend in Aktien an.
* Unternehmen sind damit immer weniger auf die Kreditfinanzierung durch Banken angewiesen. Sie bekommen das Geld an der Börse, müssen den Aktionären dafür aber auch den entsprechenden Shareholder-Value liefern, müssen noch stärker wachsen und fusionieren.
* Neue Technologien wie das Internet oder die Biotechnik verändern Wirtschaft und Gesellschaft. Sie bieten Newcomern einmalige Startmöglichkeiten und setzen etablierte Konzerne unter Druck.
Aktionäre, Arbeitnehmer, Firmenbosse treiben den Prozess voran und sind zugleich Getriebene. Mitunter werden sie alle in die Rolle von Zuschauern gedrängt, die einem chemischen Experiment beiwohnen: Zum ersten Mal werden drei unbekannte Substanzen in einen Behälter zusammengeschüttet, und niemand weiß genau, welche Reaktionen sich daraus ergeben.
Diese Mixtur beschleunigt den Kapitalismus in einer Weise, wie es vor wenigen Jahren kaum denkbar war. Bis vor kurzem vertrauten die Bürger, aber auch die Wirtschaft auf die Kraft des fürsorgenden Staates. Die Unternehmen garantierten lebenslange Beschäftigung, der Staat versprach üppige Sozialleistungen und sichere Altersversorgung. Aktien waren etwas für Spekulanten und neue Techniken Teufelswerk.
Als das Wachstum stagnierte, die Inflationsangst grassierte und die Arbeitslosigkeit rapide zunahm, wurde dieser Glaube an den Übervater Staat erschüttert. Je mehr er sich als Lenker der Wirtschaft diskreditierte, umso stärkeren Einfluss gewann das Prinzip des Marktes.
Erst in den USA und Großbritannien, später in Deutschland zog sich der Staat zurück, selbst Ex-Monopolisten wie die von Ron Sommer geführte Telekom und demnächst die von Klaus Zumwinkel gesteuerte Post werden dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, bis dahin Bollwerk gegen einen enthemmten Kapitalismus, hat den Prozess der Entstaatlichung beschleunigt.
Heute wird der Wert eines Unternehmens fast nur noch daran festgemacht, welchen Ertrag es seinen Aktionären verspricht. Alle Unternehmensteile, die keine Aussicht auf baldigen Gewinn erwarten lassen, stehen zur Disposition.
Die deutsche Wirtschaft wird in Kürze eine andere sein. Der rheinische Kapitalismus, in dem die Marktwirtschaft vor allem sozial zu sein hat, wird sich mehr in Richtung des amerikanischen Kapitalismus entwickeln, der Shareholder-Value-Gesellschaft, in der alles danach beurteilt wird, ob es den Aktienkurs nach oben treibt. Das können neue Produkte und Erfindungen sein - aber auch Fabrikschließungen und Entlassungen.
Menschen aller Altersklassen können durch geschickte oder glückliche Aktienanlage mehr Geld verdienen als andere durch ihre Arbeit - und das steuerfrei, wenn sie die Papiere länger als ein Jahr halten. 29-jährige Jungunternehmer wie Stephan Schambach von Intershop verfügen schon nach wenigen Jahren über ein Milliardenvermögen - ohne je eine Mark Gewinn erwirtschaftet zu haben.
Das ist für die einen der Siegeszug einer Chancengesellschaft, in der jeder sein Glück machen kann. Für andere ist es die Machtübernahme durch einen skrupellosen Kapitalismus, in dem die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer größer werden.
Bislang galten in Deutschland Unterschiede wie in den USA, wo zwischen dem Einkommen des Pförtners beim Disney-Konzern und dem des Vorstandsvorsitzenden schon mal über 570 Millionen Dollar pro Jahr liegen, als obszön. Doch dieser Konsens, der in Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" seine Kurzformel fand, ist nun bedroht.
Der neue Börsenkapitalismus kann Wohlstand in einem bislang unbekannten Maß demokratisieren. Die Verheißung lautet: Auch gut verdienende Angestellte können es mit Glück und Anlagegeschick zum Millionär bringen - vorausgesetzt, der Aktienboom hält an.
Doch wem das nötige Spielgeld fehlt für das große Börsenmonopoly, weil von seinem Gehalt als Polizeimeister oder Busfahrer am Ende des Monats nicht viel übrig bleibt, dem nützt die beste Anlagestrategie nichts. Mit hundert Mark im Monat lässt sich wohl eine zusätzliche Altersversorgung aufbauen, nicht aber ein Millionenvermögen.
Tatsächlich hat sich, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schon vor längerem monierte, hier zu Lande eine Zweiklassengesellschaft entwickelt: Die Masse der Deutschen muss mit Kapitaleinkünften "in geringer Höhe" leben. Für eine kleine Minderheit hingegen "sind Vermögenseinkünfte von beträchtlicher Bedeutung".
Noch ist nicht absehbar, wie sehr der schnelle Reichtum von einigen Aktionären, Firmengründern oder Top-Managern die Statik der Gesellschaft durcheinander bringen wird. Doch als sicher gilt, dass Deutschland auseinander driftet, dass dem Land schon bald eine neue Debatte über Reichtum und Armut bevorsteht.
Dabei geraten, je mehr Menschen sich Aktien kaufen, die einst klaren Fronten durcheinander. Als Arbeitnehmer wollen die meisten einen sicheren Arbeitsplatz, Freizeitausgleich und großzügige Vorruhestandsregelungen. Als Aktionär betrachten sie diese Errungenschaften als Kostenfaktoren, die den Kurs drücken.
Wenn die ganze Deutschland AG umgebaut wird, dann liegt dies eben nicht nur an kaltherzigen Analysten und renditebesessenen Konzernlenkern. Es sind die Aktionäre, die Druck machen - die großen Investmentfonds, aber auch die Masse der Kleinaktionäre.
In den USA, wo der Wandel in eine Aktionärsgesellschaft schon vorangeschritten ist und rund 50 Prozent der Bevölkerung über Firmenanteile verfügen, kommt es längst zu Situationen, die Beobachter als schizophren bezeichnen können: Pensionsfonds, in denen die Belegschaften das Geld für ihre Altersversorgung bündeln, fordern den Abbau von Arbeitsplätzen, um den Börsenkurs nach oben zu treiben.
Der große Aufschrei blieb bisher in den USA aus. Denn die New Economy hat geschafft, was unmöglich schien: hohes Wachstum ohne Inflation und annähernd Vollbeschäftigung.
Eigentlich müsste diese Kombination, das besagt die bisherige Theorie, rasch eine gefährliche Entwicklung in Gang setzen: Weil Arbeiter und Angestellte knapp werden, müssen die Firmen höhere Löhne zahlen, um ihre Stellen zu besetzen. Die höheren Löhne finanzieren sie mit höheren Preisen für ihre Produkte. Die Inflationsspirale beginnt sich zu drehen.
Doch die alten Gesetze scheinen nicht mehr zu gelten. Acht Jahre wächst die US-Ökonomie nun schon. Ein historisch einmaliger Börsenboom sorgt für prall gefüllte Haushaltskassen, ein regelrechter Konsumrausch ist in Gang gekommen. Und dennoch steigen die Preise kaum - zuletzt lag die Inflationsrate bei gut zwei Prozent.
Wissenschaftler erklären den Boom mit einem hohen Zuwachs an Produktivität. Seit Jahren haben die Amerikaner mehr in neue Technologien investiert als die Europäer. In den vergangenen zehn Jahren verdoppelten die Unternehmen jenseits des Atlantiks ihre Investitionen, in Europa stiegen sie lediglich um 16 Prozent. Während die Amerikaner acht Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Computertechnologie ausgeben, investieren Manager in den Euro-Ländern nur fünf Prozent in entsprechende Technik.
Auf dieser Grundlage sind in den USA unzählige neue Firmen entstanden. Das Vorbild der Gründer ist Apple-Chef Steven Jobs, der seinen Aufstieg als eine Art Rebellion gegen den übermächtigen Computerkonzern IBM vermarktete. Ebenso machte es Mitte der neunziger Jahre der Netscape-Gründer Marc Andreessen, der die Netzgemeinde zum Kampf gegen das Microsoft-Imperium des Bill Gates aufrief. Und heute werben die Gründer des Gratis-Internet-Providers Netzero mit einem Slogan, der klar gegen den Online-Multi AOL gerichtet ist: "Wir sind die Verteidiger der Freien Welt."
Die Mischung aus amerikanischer Wildwestmentalität und antiautoritärem Gehabe machte die neuen Gründer für viele sympathisch, half bei der Vermarktung ihrer Produkte und erklärt, warum ihnen heute so wenige ihren Reichtum neiden.
Doch dass die neue Ökonomie plötzlich zu massenhaftem Reichtum führt, ist ein Trugschluss. Die Gruppe der Profiteure ist schmaler, als die Propheten der neuen Ära glauben machen wollen. Rund 70 Prozent aller Amerikaner, so ergab eine Umfrage des US-Magazins "Newsweek", sehen keine Chance, in ihrem gegenwärtigen Job jemals reich zu werden.
Rasch wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, selbst inmitten des kalifornischen Silicon Valley, der Reichtumsschmiede für die meisten Internet-Millionäre. Während das Einkommen des oberen einen Prozents dort zwischen 1993 und 1997 um 57 Prozent nach oben schoss, stieg das Einkommen des unteren Fünftels lediglich um zehn Prozent - und liegt damit inflationsbereinigt sogar immer noch 13 Prozent unter dem Wert von 1989.
Nur ein paar Meilen von der 40-Millionen-Dollar-Villa des Computermilliardärs Larry Ellison entfernt leben Farmarbeiter in Sperrholzhütten ohne fließend Wasser. Nicht immer hat sich das Land so auseinander gelebt. Zwischen den vierziger und den siebziger Jahren wuchs das Einkommen der Amerikaner gleichmäßig, an der Spitze wie unter den Armen.
Noch 1988, so berechnete der New Yorker Ökonomie-Professor Edward Wolff, verdiente der durchschnittliche Firmenboss in den USA 40-mal mehr als seine Arbeiter. Heute kassieren die Chefs 400-mal mehr als ihre Untergebenen. Angestachelt durch Börsengewinne und Online-Reichtum, hat sich eine "The winner takes it all"-Mentalität ausgebreitet.
Vor Jahren noch empörte sich die amerikanische Nation, als bekannt wurde, dass der Investmentbanker Michael Milken ein Jahresgehalt von 550 Millionen Dollar kassiert hatte. Heute wollen viele nur noch eines: selbst möglichst schnell reich werden. Dazu brauchen diese jungen Firmengründer vor allem eine überzeugende Story, um sie an der Wall Street zu verkaufen. Den besten Selbstverkäufern wie Meg Whitman vom Online-Auktionshaus eBay gelingt es so, mit nicht viel mehr als einer virtuellen Tauschbörse Millionen von Dollar aus dem Kapitalmarkt zu saugen.
Was in den vergangenen Jahren die amerikanische Unternehmenslandschaft verändert hat, setzt sich nun auch in Deutschland fort. Eine neue Gründergeneration ist im Aufbruch. Die jungen Unternehmer kommen von Elite-Universitäten wie der WHU bei Koblenz oder der EBS in Oestrich-Winkel, sie haben zwei, drei Jahre bei Beratungsfirmen oder Investmentbanken gearbeitet, ihnen steht der Weg offen, in Konzernen schnell auf der Karriereleiter zu klettern - doch stattdessen gründen viele lieber ein Start-up.
Kaum einer der so genannten High Potentials will diese Gelegenheit verpassen. Früher haben sich 10 Prozent der Mitarbeiter, die die Beratungsfirma McKinsey verließen, selbständig gemacht, heute sind es 60 Prozent. "Diese Generation hat eine einzigartige Chance", sagt Nicolas Carbonari, Gründer des Münchner Online-Gebrauchtwagenhandels Autoscout und Ex-McKinsey-Berater. "Es steht alles bereit: die Ideen, die Technik und das Kapital."
Der Maßstab dieser Gründerelite ist nicht Hamburg, Berlin oder München, sondern Europa oder die Welt. Schon kurz nach dem Start eröffnen sie Filialen in London oder San Francisco, für das rasante Wachstum benötigen sie Millionen - und diese Summen bekommen sie auch.
Mehr als 200 Wagniskapitalfirmen in Deutschland stehen bereit und buhlen um die besten Teams und Geschäftsideen, um sie mit Venture-Capital (VC) zu versorgen und im Gegenzug Firmenanteile zu bekommen - in der Hoffnung, dass die bald ein Vielfaches wert sein werden.
Die VC-Firmen wiederum haben keine Schwierigkeiten, sich ihr Investitionskapital zu besorgen: Finanzgesellschaften, Konzerne und wohlhabende Privatleute drängen darauf, ihr Geld den Fonds anzuvertrauen - jeder will mitverdienen am Mega-Geschäft mit dem Internet. Und alle treibt derselbe Gedanke: Sie wollen die Firma so schnell wie möglich an die Börse bringen. Da unterscheiden sich Hightech-Pioniere nicht von TV-Produzenten wie Brainpool, die Stefan Raab und Anke Engelke unter Vertrag haben.
Während 1997 in Deutschland 36 Firmen mit einem Kurswert von 5,1 Milliarden Mark an die Börse gingen, waren es 1999 schon 194 Unternehmen, denen Anleger 27,1 Milliarden Mark anvertrauten. Vor allem der Neue Markt, die Börse für Technologiefirmen in Deutschland, übt eine fast magische Anziehung auf die jungen Gründer aus.
Der Neue Markt sei eine "Riesenchance" gewesen, um zu expandieren, sagt Karl Matthäus Schmidt, Gründer des Nürnberger Online-Wertpapierhauses Consors: "Diese Möglichkeit hätten wir vor fünf oder zehn Jahren nicht gehabt."
Seit vier Monaten sind auch Oliver Sinner, 31, und Matthias Schrader, 32, mit ihrer Hamburger E-Commerce-Firma SinnerSchrader dort notiert, heute ist das Unternehmen knapp 1,5 Milliarden Mark wert. Nun weiten die Gründer ihr Geschäft auf ganz Europa aus. "Wenn man internationalisieren will, dann geht das nicht ohne das Kapital", sagt Schrader.
Die Börse liefert den Gründern den Treibstoff dafür. Aktien sind die Währung, mit der sie ihre Kriegskasse füllen, um andere Firmen übernehmen zu können. Und Aktienoptionen, die vielleicht einmal ein Vermögen wert sind, dienen ihnen als Köder, um Mitarbeiter zu rekrutieren. "Wenn man hoch qualifizierte Leute binden will", sagt Schrader, "gehören Optionen fast schon zum guten Ton."
Es ist eine neue Art von Unternehmenskultur, die sich in solchen börsennotierten Internet-Firmen entwickelt. Hier wacht kein Betriebsrat über die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes - gearbeitet wird, bis ein Projekt fertig ist, und sei es Sonntagnacht. Ihrer unternehmerischen Verantwortung werden die Firmenchefs damit gerecht, dass der Börsenwert steigt - und ihre Mitarbeiter daran teilhaben.
Der Unternehmer als Mäzen, der in seiner Heimatstadt Vereine unterstützt, Krankenhäuser stiftet oder Wohnungen für seine Mitarbeiter baut - für dieses Leitbild hat mancher der neuen Unternehmer nur Spott übrig. "Ich gehe auf keine Kappensitzung und übernehme auch keine Schirmherrschaft", sagt Ralph Dommermuth, Vorstandschef der Beteiligungsfirma United Internet in Montabaur, die bislang 1 & 1 hieß. Hier, am Rande des Westerwalds, ist er mit 350 Mitarbeitern inzwischen der größte Arbeitgeber, aber so etwas beeindruckt ihn nicht. "Ich messe mich nicht an Montabaur, sondern am Neuen Markt."
An der Börse ist Dommermuths Firma ein Schwergewicht, doch das erst seit kurzem. Anfangs war 1 & 1 eine Elektronikfirma, die sich alles, was sie nicht selbst leisten konnte, einkaufte: zum Beispiel eine Beteiligung am Online-Stellenmarkt Jobs & Adverts und am E-Mail-Anbieter GMX. Der Aktienkurs dümpelte dahin.
"Ihr verkauft euch falsch", hat ihm vor einem Jahr ein Analyst gesagt, erzählt Dommermuth. Also änderte er die Strategie und präsentierte von nun an seine Firma als einen Konzern, der ein Netzwerk von inzwischen 16 Internet-Firmen um sich schart. Vergangene Woche erst beteiligte sich United Internet mit 30 Prozent an den Hamburger Netzpiloten. Die einzelnen Beteiligungen wurden von den Analysten neu bewertet, und siehe da, plötzlich schoss der Aktienkurs nach oben.
Alles, was mit Internet zu tun hat, beflügelt in diesen Wochen die Phantasien der Anleger. Fast scheint es so, als müsse ein Firmenname nur mit "e-" anfangen und mit "-net" aufhören, und schon fliegt die Aktie. "Wap-Technologie", "Mobile Commerce", "Customer Relationship Management" - ständig klappern die Internet-Firmen mit neuen Zauberworten.
Meist sind es bloße Ankündigungen, die als Ad-hoc-Mitteilung, also als angeblich kursrelevante Pflichtnachricht, herausgeblasen werden. Ob sie je erfüllt werden, kann ohnehin niemand vorhersehen - Hauptsache, es entstehen Erwartungen, die an der Börse ein Feuerwerk entfachen.
Manche Werte haben so das Vertrauen der Anleger bereits verspielt. Wenn das Softwarehaus Datadesign Planzahlen verkündet, die später nicht eingehalten werden, oder wenn die Bilanzen des Pflegedienstleisters Refugium sich im Nachhinein als offenbar geschönt erweisen, dann schreckt das die Investoren ab.
Das neueste Zauberkürzel, das die Internet-Branche beschwingt, heißt B2B (business-to-business). Der Online-Handel zwischen Unternehmen verheißt ein enormes Potenzial, sein Volumen sei mehr als zehnmal größer als der Internet-Verkauf an den Endkunden, schätzen die Marktforscher.
Überall entstehen elektronische Marktplätze, auf denen Unternehmen ihre Waren und Dienstleistungen einkaufen. Hier können sie auf einen Blick vergleichen, welcher Lieferant das beste Angebot macht, sie können sich zusammenschließen zu Einkaufsgemeinschaften und Rabatte aushandeln, oder sie veranstalten Auktionen, in denen Lieferanten um Aufträge wetteifern.
Kein anderes Thema treibt derzeit die Top-Manager in den Führungsetagen der alten Wirtschaft so sehr um, und dafür sind auch die Finanzmärkte verantwortlich. Die Analysten, die darüber entscheiden, ob sie in ein Unternehmen investieren, wollen von den Vor-
ständen wissen, ob die Firma Wachstumsphantasien entfalten kann - und diese Frage ist derzeit gleichbedeutend mit der nach der Internet-Strategie, sagt Paulus Neef, Gründer der E-Commerce-Beratungsfirma Pixelpark. "Wer darauf keine Antwort weiß, hat ein Riesenproblem."
Und so streben Unternehmen nun danach, ihre Abteilungen zu vernetzen: Jeder Mitarbeiter soll sich an seinem Bildschirm den Bürostuhl oder die Heftklammern selbst bestellen. Er ordert die Ware auf dem elektronischen Marktplatz des Lieferanten - schneller und billiger denn je.
Ein gigantischer Rationalisierungsschub kommt in Gang, wenn es für die Bestellung tatsächlich nur einiger Mausklicks bedarf und nicht mehr unzählige Formulare mit Durchschlägen ausgefüllt werden, mit denen sich dann eine Hand voll Mitarbeiter tagelang beschäftigen müssen.
Rund 1,25 Billionen Dollar können im Jahr 2002 Unternehmen einsparen, wenn sie ihre Geschäftsprozesse elektronisch abwickeln, schätzt das Marktforschungsinstitut Giga Information Group. Hunderttausende Beschäftigte - im Großhandel, in den Einkaufsabteilungen oder der Verwaltung - werden damit überflüssig.
So schafft das Internet zwar unzählige neue Arbeitsplätze in Multimediaagenturen, Beratungsfirmen oder Online-Versendern. Aber es vernichtet auch Jobs, und zwar in noch größerem Stil, je mehr es seine rationalisierende Wirkung entfaltet.
Bei den Banken lässt sich diese Entwicklung schon beobachten. Alle Finanzinstitute bauen das effiziente Online-Banking aus - auf Kosten des personalintensiven Filialgeschäfts. Tausende von Jobs fallen weg. Bankangestellten, die jahrzehntelang eine beamtenähnliche Arbeitsplatzsicherheit genossen, ergeht es jetzt wie Stahlarbeitern.
Fusionen verschärfen den Druck auf die Arbeitsplätze. Nach dem Zusammenschluss von Deutscher und Dresdner Bank werden in den kommenden drei Jahren rund 16 000 Stellen gestrichen.
Immer schneller dreht sich das Rad - angetrieben von einer Technologie, die der Entwicklung den explosiven Schub verleiht, von Anlegern, die nach immer stärkeren Renditen gieren, von Kapitalmärkten, die nach immer effizienteren und immer größeren Konzernen verlangen.
Nur noch die Größe zählt - als sei das alles. Im gegenwärtigen Fusionsrausch wird verdrängt, dass Schnelligkeit, Flexibilität und Innovationskraft mindestens ebenso wichtig sind. Und diese Eigenschaften werden durch Größe blockiert. In den neuen Riesenkonzernen sind Manager oft nur mit sich selbst beschäftigt, mit bürokratischen Strukturen und Machtkämpfen. Größe lähmt.
Am erfolgreichsten sind derzeit oft die kleinen und flexiblen Unternehmen einer Branche. "Wenn Größe das entscheidende Kriterium wäre", sagt Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, "müssten die Dinosaurier heute noch leben."
"Small is beautiful", so priesen noch vor wenigen Jahren die Managementgurus die Vorteile kleiner Einheiten. Ganz falsch kann diese Erkenntnis nicht gewesen sein. Die bisherigen Erfahrungen mit Großfusionen sind jedenfalls ernüchternd: Die wenigsten haben sich als wirtschaftlich sinnvoll erwiesen.
Wie eine Fusion weitere Zusammenschlüsse nach sich zieht - und wie wenig am Ende dabei herauskommt, zeigt das Beispiel der Pharmaindustrie. Sie ist wie kaum eine andere Branche von dem manischen Fusionswahn befallen.
Noch vor zweieinhalb Jahren war Sir Richard Sykes, Chef des 1995 aus der Fusion von Glaxo und Wellcome hervorgegangenen britischen Medizinmultis, davon überzeugt, dass sein Unternehmen die in der Pharmaindustrie als notwendig erachtete "kritische Masse erreicht hat - und zwar im Hinblick auf Forschung, Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Marketing".
Sir Richard irrte offenbar. Durch den Zusammenschluss von Glaxo Wellcome mit dem zweiten britischen Medizinriesen Smithkline Beecham entstand Anfang dieses Jahres der derzeitige Spitzenreiter der Branche mit einem Marktwert von 310 Milliarden Mark.
Die tollen Perspektiven, von denen die Fusionspartner am Tag der Übernahme schwärmen, werden selten erfüllt. So versprach DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp am 18. September 1998, durch die deutsch-amerikanische Fusion werde "das innovativste, profitabelste und das weltweit am besten aufgestellte Unternehmen seiner Branche" entstehen.
Und jetzt? Jetzt wären viele Aktionäre froh, sie hätten ihr Geld lieber in andere Aktien investiert. Der Kurs sackte seitdem auf immer neue Tiefstände. Irritieren lässt sich Shareholder-Value-Fan Schrempp aber nicht - nun will er sich auch noch Mitsubishi einverleiben.
Die Fusionswelle rollt weiter, obwohl viele Studien nachweisen, dass die meisten Zusammenschlüsse scheitern. Angetrieben wird die Entwicklung von jenen dunkel gekleideten Herren, die sich stets im Hintergrund halten und die vom Geschäft mit M&A (mergers and acquisitions) leben: den Investmentbankern. In der Regel werden die Investmentbanken mit einem halben Prozent des Transaktionsvolumens entlohnt. Da kommt einiges zusammen: Branchenführer Goldman Sachs schüttete im vergangenen Jahr rund 12,5 Milliarden Mark an Gehältern und Boni unter seine weltweit knapp 15 000 Mitarbeiter aus.
Wenn so viel Geld lockt, muss es nicht wundern, dass die Banker ihren Beraterstatus verlassen und eine aktivere Rolle übernommen haben - als Kuppler. Gezielt spüren sie Fusions- oder Übernahmekandidaten auf und versuchen, diese zusammenzubringen. "Pitchen" heißt dieses Präsentieren von Kandidaten im Fachjargon.
Die Manager der großen Konzerne lassen sich nur allzu gern darauf ein: Es winken Ruhm, Ehre - und Geld, viel Geld. Je größer das Unternehmen, desto höher das Gehalt der Vorstände.
Mit den in Deutschland lange üblichen ein bis vier Millionen Mark Jahressalär gibt sich kaum noch einer zufrieden. In den Zeiten der Globalisierung wollen deutsche Manager bezahlt werden wie ihre US-Kollegen - mit zusätzlichen Aktienoptionen, die bei günstiger Kursentwicklung zweistellige Millionenbeträge wert sein können.
Selbst die Verlierer im Firmen-Monopoly können noch eine Menge gewinnen. Mannesmann-Chef Klaus Esser wehrte sich zwar vergebens gegen die feindliche Übernahme durch Vodafone, für ihn selbst sprang dabei allerdings eine Abfindung von 60 Millionen Mark heraus.
So geht die Party munter weiter. Unternehmen fusionieren, neue Firmen entstehen, Anleger schieben immer mehr Geld an die Börse und schaffen damit die Voraussetzung für weitere Fusionen und Neugründungen - eine Spirale, die scheinbar endlos nach oben weist. Tatsächlich führt sie genauso schnell abwärts wie aufwärts.
In den USA gibt es erste Warnsignale. Der Boom an der Wall Street ist ein Boom auf Pump. Zunehmend verschulden sich die Amerikaner, um Aktien zu kaufen. Mit 243,5 Milliarden Dollar waren Investoren im Januar allein bei Brokern verschuldet, die Mitglied der New Yorker Stock Exchange sind.
Längst treiben die Börsengewinne die amerikanische Wirtschaft an, und nicht, wie eigentlich üblich, umgekehrt. Sollte ein drastischer Aktieneinbruch die Anleger verschrecken und zum Sparen zwingen, könnte sich die Entwicklung umkehren: weniger Konsum, weniger Umsatz, niedrigere Aktienkurse, noch weniger Konsum, noch weniger Umsatz, noch niedrigere Kurse. Die Folge wäre eine Rezession, aus der sich die Nation mühsam wieder herausarbeiten müsste.
Nobelpreisträger Milton Friedman sieht bereits "unheimliche Ähnlichkeiten zwischen dem, was heute am US-Aktienmarkt geschieht, und dem, was in den zwanziger Jahren in den USA passierte" - und in der Weltwirtschaftskrise endete.
Auch damals sorgte der technische Fortschritt für ein kräftiges Wachstum. Was heute das Internet, waren in den zwanziger Jahren Radio, Autos und Flugzeuge. Zugleich stiegen die Aktienkurse auf immer neue Höhen. Die Begründung lautete damals schon: Ein anhaltendes Wirtschaftswachstum werde zu steigenden Unternehmensgewinnen führen und die Kurse schon rechtfertigen.
Anleger, die ihre Aktienkäufe teilweise bereits mit Krediten finanziert hatten, glaubten lange daran. Doch als am 24. Oktober 1929 ohne besonderen Anlass die Kurse ins Rutschen gerieten, löste dies eine Kettenreaktion aus: Immer mehr verkauften ihre Papiere und ließen die Kurse zusammenbrechen. Innerhalb eines Monats verlor der amerikanische Aktienindex Dow Jones über 50 Prozent seines Wertes.
Daran lassen sich die heutigen Optimisten nur ungern erinnern. Sie fordern wie der Chefredakteur von "Capital", Ralf-Dieter Brunowsky, schlicht: "Crash - nein danke."
Ihr Hauptargument: Es könnte zwar kleinere Einbrüche an der Börse geben, doch dann könnten die Kurse schnell wieder steigen. Denn die Investoren suchen weiter nach Anlagemöglichkeiten. Die Versicherungen, die bisher erst einen geringen Teil ihrer Riesenvermögen in Aktien angelegt haben, drängen verstärkt an die Börse; nur dort können sie mit einer ordentlichen Verzinsung rechnen. Gleichzeitig suchen Privathaushalte nach rentablen Anlagen für die eigene Altersvorsorge.
Früher oder später haben sie alle von dem wunderbaren Beispiel gehört, dass einer, der beim Börsengang von EM.TV 1997 für 5000 Mark Aktien gekauft hatte, jetzt Millionär ist. Und dann suchen sie nach ihrer EM.TV, nach irgendeiner Glitzerfirma, die Wachstum ohne Grenzen verspricht.
"Kursexplosion an den Emerging Markets", schwärmen interessierte Fachblätter, "1500 Prozent in 24 Monaten" sollen dank ihrer Tipps möglich sein. Die "Tageszeitung" fragt ironisch: "Muss ich jetzt auch Millionär werden?"
Vielleicht lässt sich dies ja vermeiden, gerade indem man kräftig spekuliert. So mancher hat an der Börse auch schon sein Vermögen verspielt - zu 100 Prozent.
Abhalten aber wird dies nur wenige. Das merkte auch die Münchner "Abendzeitung". Sie hatte am Faschingsdienstag berichtet, dass im Rathaus die erste Münchner Stadtaktie mit Namen "Monacensus" herausgegeben werde. Zwischen 10 und 13 Uhr könnten sich Einwohner im Büro von Oberbürgermeister Christian Ude als Kaufinteressenten vormerken lassen.
Der Faschingsscherz hatte ernste Folgen. Schon frühmorgens baten Anrufer im Sekretariat des Oberbürgermeisters darum, dass man für sie ein Aktienkontingent reservieren solle. Es waren, mal wieder, die Narren los.
Deutschland im Börsenrausch: Getrieben durch die Internet-Euphorie und eine gigantische Welle von Fusionen, erreichen die Aktienwerte immer neue Rekorde. Doch wie lange noch? Viele Fusionsfirmen gelten als unregierbar und die Profiterwartungen der Internet-Gründer als unrealistisch.
Die Narren sind los. Beim Rosenmontagszug in Köln forderten die Zuschauer nicht nur, wie es seit Jahrzehnten guter Brauch ist, "Kamelle, Kamelle". In der Ehrenstraße rief ein Jeck, der in ein Kuhfell gekleidet war, Prinz Ralf dem Zweiten den neuen Schlachtruf zu: "Aktien, Aktien."
Die halbe Republik, so scheint es, ist derzeit närrisch. Und das nicht nur am Rosenmontag. Ganz gleich ob Rentner, Hausfrau, Taxifahrer oder Arzt, ganz gleich ob im niedersächsischen Jever, im oberbayerischen Waldkraiburg, in Köln oder Berlin - überall wollen die Menschen offenbar nur das eine: Aktien, Aktien, Aktien.
"Die Leute kommen an den Schalter und fragen nach Infineon-Aktien oder wie das heißt", berichtet die Anlageberaterin bei der Stadtsparkasse München. Bis vor kurzem hätten die meisten Menschen hinter dem Namen Infineon wohl Tabletten gegen Halsschmerzen oder Durchfall vermutet. Nach einer 100 Millionen Mark teuren Werbekampagne wissen manche immerhin, dass Infineon eine Tochter von Siemens ist und die Firma Halbleiter herstellt. Siemens klingt seriös, und Halbleiter klingen nach Zukunft. Das reicht.
Menschen, die vor jedem Staubsaugerkauf Rat bei der Stiftung Warentest einholen, orderten in der vergangenen Woche für mehrere tausend Mark Infineon-Aktien. Beim größten Börsengang seit der Deutschen Telekom ist der Andrang so groß, dass die Anteilscheine verlost werden. Wer sie zum Ausgabepreis von maximal 35 Euro erhält, kann darauf hoffen, dass sie am ersten Handelstag, dem 13. März, auf 85 bis 90 Euro steigen. Aus 1000 Mark würden dann 2500, aus 10 000 würden 25 000 und aus 100 000 ...
"Geld-Rausch!", titelte "Bild" und fragte: "Kann ich auch reich werden?" Für andere ist das längst keine Frage mehr. "Machen Sie Ihre erste Million", fordert "DM" seine Leser auf, "fangen Sie noch heute an, reich zu werden."
Was derzeit an der Börse geschieht, ist rational kaum zu begreifen, selbst für Finanzexperten. "Es regiert die Gier - und nichts anderes", sagt Gerhard Schleif, Börsenchef der DGZ-Dekabank, des zweitgrößten Fondsverwalters in Deutschland.
Immer mehr Deutsche, die ihr Geld jahrzehntelang in Bausparverträgen, auf Sparbüchern oder in Bundesschatzbriefen anlegten, folgen dem Lockruf der Börse. Plötzlich interessieren sie sich für "Puts" und "Calls", für das Schicksal von Dax und Nemax. Und die Verlage bieten ihnen mit einer ständig steigenden Zahl von Titeln das nötige Wissen. Deutschland soll jetzt reif sein für die "Financial Times": Gruner + Jahr-Vorstand Bernd Kundrun und Chefredakteur Andrew Gowers wagen den Start der deutschen Ausgabe. Kult-Zyniker Harald Schmidt hat das längst drauf: Er zockt nebenbei wie ein Profi mit Aktien - und hunderttausende schauen ihm zu.
Über fünf Millionen, so viel wie nie zuvor, besitzen mittlerweile Aktien. Und der Wert ihrer Anteilscheine war noch nie so hoch: über 500 Milliarden Mark. "Ein Volk", stellt die "Welt" erschreckt fest, "verfällt dem Börsenwahn".
Der Wahn erhält stets neue Nahrung. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine Übernahme oder Superfusion verkündet wird. Für Banken und Industrie gilt offenbar das Motto: Nichts ist unmöglich. Nachdem in der vergangenen Woche der Zusammenschluss von Dresdner und Deutscher Bank zum größten Kreditinstitut der Welt bekannt wurde, machen bereits Gerüchte über die nächsten Fusionen die Runde. Jetzt soll die Commerzbank Ziel einer feindlichen Übernahme sein.
Keine Branche bleibt vor der Mergermania verschont. Mit Glaxo Wellcome und Smithkline Beecham gingen zwei der größten Pharmaunternehmen eine Verbindung ein. Renault übernahm Nissan. DaimlerChrysler will, gut ein Jahr nach der deutsch-amerikanischen Fusion, einen Anteil an Mitsubishi kaufen. Unternehmen im Größenwahn.
Entziehen kann sich dem offenbar kaum einer. Wer nicht Täter ist, wird Opfer. Jetzt sind in Deutschland auch feindliche Übernahmen möglich: So wurde Mannesmann von Vodafone geschluckt.
1996 haben die Statistiker erst 211 so genannte Mega-Deals gezählt - Fusionen oder Übernahmen mit einem Volumen von mehr als einer Milliarde Dollar. 1999 waren es schon 476 mit einem Volumen von 3,8 Billionen Dollar.
Gefüttert wird die Börseneuphorie durch eine aus den USA herüberschwappende Begeisterung für die Technologie des neuen Jahrzehnts, das Internet. Zwei alte Medien, der Computer und das Telefonkabel, wurden miteinander verbunden; entstanden ist ein völlig neues Medium, das alles verändert: das Privatleben, die Arbeitswelt und damit die Unternehmen.
Schon mehr als 250 Millionen Menschen sind online, darunter 16 Millionen in Deutschland: Sie informieren sich dort, bestellen Waren und tauschen E-Mails aus. Die digitale Revolution ist zum treibenden Faktor für den Strukturwandel geworden.
Neue Firmen, die aus dem Nichts emporschossen, verfügen mittlerweile über einen gigantischen Börsenwert. Das Internet-Portal Yahoo wird mit 195 Milliarden Mark bewertet - das ist mehr als der Wert von Volkswagen, BASF, Metro und Lufthansa zusammen. Immerhin erwirtschaftet Yahoo bereits einen kleinen Gewinn. Das Internet-Versandhaus Amazon, das bislang nur Verluste anhäufte, wird an der Börse mit 47 Milliarden Mark bewertet.
An den Ursprung manch neuer Internet-Firma in einem Hinterzimmer oder einer Garage erinnert allenfalls noch ein vergilbtes Foto auf dem Schreibtisch des Konzernchefs und das Auftreten der neuen Bosse, die wie Amazon-Chef Jeff Bezos ihr Milliardenreich meist in Khakihosen und Polohemd dirigieren. Im Geschäft aber folgen sie den gleichen Maximen wie die Stahlmanager im grauen Zweireiher: Ihr Konzern soll größer werden, immer größer. Und das geht am schnellsten durch Übernahmen.
Längst verleiben sich die Firmen der New Economy die Traditionsfirmen der alten Wirtschaft ein. Da schluckte die Internet-Firma AOL des Senkrechtstarters Steve Case den Time-Warner-Konzern, um wenige Tage später gemeinsam mit dem Medienriesen die Musikfirma EMI zu übernehmen. Und jetzt kaufte der von Thomas Haffa gegründete Filmrechtehändler EM.TV die Mehrheit am lukrativen Formel-1-Geschäft.
Das Kapital dafür liefert die Börse. Bezahlt werden die Übernahmen meist nicht mit Bargeld, sondern mit Aktien des eigenen Unternehmens. Und je höher der Kurs steigt, umso eher können weitere Firmen übernommen werden - wodurch der eigene Kurs erneut steigen soll. So schaukeln sich Börsenboom und Mergermania gegenseitig hoch.
Ist dies der schiere Wahnsinn, der nur in einem großen Crash enden kann wie 1929, als schon einmal die Weltwirtschaft in die Krise stürzte? Oder ist es der Aufbruch in ein neues Zeitalter, in dem die alten Maßstäbe nicht mehr gültig sind?
Erklärbar ist der große Rausch, in dem sich derzeit so ziemlich alles in der Wirtschaft ändert, was jahrzehntelang unveränderlich schien, durch das Zusammentreffen von drei Entwicklungen:
* Private Haushalte verfügen gut fünf Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, aber auch in den USA und anderen Staaten über so viel Vermögen wie noch nie. Und sie legen es zunehmend in Aktien an.
* Unternehmen sind damit immer weniger auf die Kreditfinanzierung durch Banken angewiesen. Sie bekommen das Geld an der Börse, müssen den Aktionären dafür aber auch den entsprechenden Shareholder-Value liefern, müssen noch stärker wachsen und fusionieren.
* Neue Technologien wie das Internet oder die Biotechnik verändern Wirtschaft und Gesellschaft. Sie bieten Newcomern einmalige Startmöglichkeiten und setzen etablierte Konzerne unter Druck.
Aktionäre, Arbeitnehmer, Firmenbosse treiben den Prozess voran und sind zugleich Getriebene. Mitunter werden sie alle in die Rolle von Zuschauern gedrängt, die einem chemischen Experiment beiwohnen: Zum ersten Mal werden drei unbekannte Substanzen in einen Behälter zusammengeschüttet, und niemand weiß genau, welche Reaktionen sich daraus ergeben.
Diese Mixtur beschleunigt den Kapitalismus in einer Weise, wie es vor wenigen Jahren kaum denkbar war. Bis vor kurzem vertrauten die Bürger, aber auch die Wirtschaft auf die Kraft des fürsorgenden Staates. Die Unternehmen garantierten lebenslange Beschäftigung, der Staat versprach üppige Sozialleistungen und sichere Altersversorgung. Aktien waren etwas für Spekulanten und neue Techniken Teufelswerk.
Als das Wachstum stagnierte, die Inflationsangst grassierte und die Arbeitslosigkeit rapide zunahm, wurde dieser Glaube an den Übervater Staat erschüttert. Je mehr er sich als Lenker der Wirtschaft diskreditierte, umso stärkeren Einfluss gewann das Prinzip des Marktes.
Erst in den USA und Großbritannien, später in Deutschland zog sich der Staat zurück, selbst Ex-Monopolisten wie die von Ron Sommer geführte Telekom und demnächst die von Klaus Zumwinkel gesteuerte Post werden dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, bis dahin Bollwerk gegen einen enthemmten Kapitalismus, hat den Prozess der Entstaatlichung beschleunigt.
Heute wird der Wert eines Unternehmens fast nur noch daran festgemacht, welchen Ertrag es seinen Aktionären verspricht. Alle Unternehmensteile, die keine Aussicht auf baldigen Gewinn erwarten lassen, stehen zur Disposition.
Die deutsche Wirtschaft wird in Kürze eine andere sein. Der rheinische Kapitalismus, in dem die Marktwirtschaft vor allem sozial zu sein hat, wird sich mehr in Richtung des amerikanischen Kapitalismus entwickeln, der Shareholder-Value-Gesellschaft, in der alles danach beurteilt wird, ob es den Aktienkurs nach oben treibt. Das können neue Produkte und Erfindungen sein - aber auch Fabrikschließungen und Entlassungen.
Menschen aller Altersklassen können durch geschickte oder glückliche Aktienanlage mehr Geld verdienen als andere durch ihre Arbeit - und das steuerfrei, wenn sie die Papiere länger als ein Jahr halten. 29-jährige Jungunternehmer wie Stephan Schambach von Intershop verfügen schon nach wenigen Jahren über ein Milliardenvermögen - ohne je eine Mark Gewinn erwirtschaftet zu haben.
Das ist für die einen der Siegeszug einer Chancengesellschaft, in der jeder sein Glück machen kann. Für andere ist es die Machtübernahme durch einen skrupellosen Kapitalismus, in dem die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer größer werden.
Bislang galten in Deutschland Unterschiede wie in den USA, wo zwischen dem Einkommen des Pförtners beim Disney-Konzern und dem des Vorstandsvorsitzenden schon mal über 570 Millionen Dollar pro Jahr liegen, als obszön. Doch dieser Konsens, der in Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" seine Kurzformel fand, ist nun bedroht.
Der neue Börsenkapitalismus kann Wohlstand in einem bislang unbekannten Maß demokratisieren. Die Verheißung lautet: Auch gut verdienende Angestellte können es mit Glück und Anlagegeschick zum Millionär bringen - vorausgesetzt, der Aktienboom hält an.
Doch wem das nötige Spielgeld fehlt für das große Börsenmonopoly, weil von seinem Gehalt als Polizeimeister oder Busfahrer am Ende des Monats nicht viel übrig bleibt, dem nützt die beste Anlagestrategie nichts. Mit hundert Mark im Monat lässt sich wohl eine zusätzliche Altersversorgung aufbauen, nicht aber ein Millionenvermögen.
Tatsächlich hat sich, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schon vor längerem monierte, hier zu Lande eine Zweiklassengesellschaft entwickelt: Die Masse der Deutschen muss mit Kapitaleinkünften "in geringer Höhe" leben. Für eine kleine Minderheit hingegen "sind Vermögenseinkünfte von beträchtlicher Bedeutung".
Noch ist nicht absehbar, wie sehr der schnelle Reichtum von einigen Aktionären, Firmengründern oder Top-Managern die Statik der Gesellschaft durcheinander bringen wird. Doch als sicher gilt, dass Deutschland auseinander driftet, dass dem Land schon bald eine neue Debatte über Reichtum und Armut bevorsteht.
Dabei geraten, je mehr Menschen sich Aktien kaufen, die einst klaren Fronten durcheinander. Als Arbeitnehmer wollen die meisten einen sicheren Arbeitsplatz, Freizeitausgleich und großzügige Vorruhestandsregelungen. Als Aktionär betrachten sie diese Errungenschaften als Kostenfaktoren, die den Kurs drücken.
Wenn die ganze Deutschland AG umgebaut wird, dann liegt dies eben nicht nur an kaltherzigen Analysten und renditebesessenen Konzernlenkern. Es sind die Aktionäre, die Druck machen - die großen Investmentfonds, aber auch die Masse der Kleinaktionäre.
In den USA, wo der Wandel in eine Aktionärsgesellschaft schon vorangeschritten ist und rund 50 Prozent der Bevölkerung über Firmenanteile verfügen, kommt es längst zu Situationen, die Beobachter als schizophren bezeichnen können: Pensionsfonds, in denen die Belegschaften das Geld für ihre Altersversorgung bündeln, fordern den Abbau von Arbeitsplätzen, um den Börsenkurs nach oben zu treiben.
Der große Aufschrei blieb bisher in den USA aus. Denn die New Economy hat geschafft, was unmöglich schien: hohes Wachstum ohne Inflation und annähernd Vollbeschäftigung.
Eigentlich müsste diese Kombination, das besagt die bisherige Theorie, rasch eine gefährliche Entwicklung in Gang setzen: Weil Arbeiter und Angestellte knapp werden, müssen die Firmen höhere Löhne zahlen, um ihre Stellen zu besetzen. Die höheren Löhne finanzieren sie mit höheren Preisen für ihre Produkte. Die Inflationsspirale beginnt sich zu drehen.
Doch die alten Gesetze scheinen nicht mehr zu gelten. Acht Jahre wächst die US-Ökonomie nun schon. Ein historisch einmaliger Börsenboom sorgt für prall gefüllte Haushaltskassen, ein regelrechter Konsumrausch ist in Gang gekommen. Und dennoch steigen die Preise kaum - zuletzt lag die Inflationsrate bei gut zwei Prozent.
Wissenschaftler erklären den Boom mit einem hohen Zuwachs an Produktivität. Seit Jahren haben die Amerikaner mehr in neue Technologien investiert als die Europäer. In den vergangenen zehn Jahren verdoppelten die Unternehmen jenseits des Atlantiks ihre Investitionen, in Europa stiegen sie lediglich um 16 Prozent. Während die Amerikaner acht Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Computertechnologie ausgeben, investieren Manager in den Euro-Ländern nur fünf Prozent in entsprechende Technik.
Auf dieser Grundlage sind in den USA unzählige neue Firmen entstanden. Das Vorbild der Gründer ist Apple-Chef Steven Jobs, der seinen Aufstieg als eine Art Rebellion gegen den übermächtigen Computerkonzern IBM vermarktete. Ebenso machte es Mitte der neunziger Jahre der Netscape-Gründer Marc Andreessen, der die Netzgemeinde zum Kampf gegen das Microsoft-Imperium des Bill Gates aufrief. Und heute werben die Gründer des Gratis-Internet-Providers Netzero mit einem Slogan, der klar gegen den Online-Multi AOL gerichtet ist: "Wir sind die Verteidiger der Freien Welt."
Die Mischung aus amerikanischer Wildwestmentalität und antiautoritärem Gehabe machte die neuen Gründer für viele sympathisch, half bei der Vermarktung ihrer Produkte und erklärt, warum ihnen heute so wenige ihren Reichtum neiden.
Doch dass die neue Ökonomie plötzlich zu massenhaftem Reichtum führt, ist ein Trugschluss. Die Gruppe der Profiteure ist schmaler, als die Propheten der neuen Ära glauben machen wollen. Rund 70 Prozent aller Amerikaner, so ergab eine Umfrage des US-Magazins "Newsweek", sehen keine Chance, in ihrem gegenwärtigen Job jemals reich zu werden.
Rasch wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, selbst inmitten des kalifornischen Silicon Valley, der Reichtumsschmiede für die meisten Internet-Millionäre. Während das Einkommen des oberen einen Prozents dort zwischen 1993 und 1997 um 57 Prozent nach oben schoss, stieg das Einkommen des unteren Fünftels lediglich um zehn Prozent - und liegt damit inflationsbereinigt sogar immer noch 13 Prozent unter dem Wert von 1989.
Nur ein paar Meilen von der 40-Millionen-Dollar-Villa des Computermilliardärs Larry Ellison entfernt leben Farmarbeiter in Sperrholzhütten ohne fließend Wasser. Nicht immer hat sich das Land so auseinander gelebt. Zwischen den vierziger und den siebziger Jahren wuchs das Einkommen der Amerikaner gleichmäßig, an der Spitze wie unter den Armen.
Noch 1988, so berechnete der New Yorker Ökonomie-Professor Edward Wolff, verdiente der durchschnittliche Firmenboss in den USA 40-mal mehr als seine Arbeiter. Heute kassieren die Chefs 400-mal mehr als ihre Untergebenen. Angestachelt durch Börsengewinne und Online-Reichtum, hat sich eine "The winner takes it all"-Mentalität ausgebreitet.
Vor Jahren noch empörte sich die amerikanische Nation, als bekannt wurde, dass der Investmentbanker Michael Milken ein Jahresgehalt von 550 Millionen Dollar kassiert hatte. Heute wollen viele nur noch eines: selbst möglichst schnell reich werden. Dazu brauchen diese jungen Firmengründer vor allem eine überzeugende Story, um sie an der Wall Street zu verkaufen. Den besten Selbstverkäufern wie Meg Whitman vom Online-Auktionshaus eBay gelingt es so, mit nicht viel mehr als einer virtuellen Tauschbörse Millionen von Dollar aus dem Kapitalmarkt zu saugen.
Was in den vergangenen Jahren die amerikanische Unternehmenslandschaft verändert hat, setzt sich nun auch in Deutschland fort. Eine neue Gründergeneration ist im Aufbruch. Die jungen Unternehmer kommen von Elite-Universitäten wie der WHU bei Koblenz oder der EBS in Oestrich-Winkel, sie haben zwei, drei Jahre bei Beratungsfirmen oder Investmentbanken gearbeitet, ihnen steht der Weg offen, in Konzernen schnell auf der Karriereleiter zu klettern - doch stattdessen gründen viele lieber ein Start-up.
Kaum einer der so genannten High Potentials will diese Gelegenheit verpassen. Früher haben sich 10 Prozent der Mitarbeiter, die die Beratungsfirma McKinsey verließen, selbständig gemacht, heute sind es 60 Prozent. "Diese Generation hat eine einzigartige Chance", sagt Nicolas Carbonari, Gründer des Münchner Online-Gebrauchtwagenhandels Autoscout und Ex-McKinsey-Berater. "Es steht alles bereit: die Ideen, die Technik und das Kapital."
Der Maßstab dieser Gründerelite ist nicht Hamburg, Berlin oder München, sondern Europa oder die Welt. Schon kurz nach dem Start eröffnen sie Filialen in London oder San Francisco, für das rasante Wachstum benötigen sie Millionen - und diese Summen bekommen sie auch.
Mehr als 200 Wagniskapitalfirmen in Deutschland stehen bereit und buhlen um die besten Teams und Geschäftsideen, um sie mit Venture-Capital (VC) zu versorgen und im Gegenzug Firmenanteile zu bekommen - in der Hoffnung, dass die bald ein Vielfaches wert sein werden.
Die VC-Firmen wiederum haben keine Schwierigkeiten, sich ihr Investitionskapital zu besorgen: Finanzgesellschaften, Konzerne und wohlhabende Privatleute drängen darauf, ihr Geld den Fonds anzuvertrauen - jeder will mitverdienen am Mega-Geschäft mit dem Internet. Und alle treibt derselbe Gedanke: Sie wollen die Firma so schnell wie möglich an die Börse bringen. Da unterscheiden sich Hightech-Pioniere nicht von TV-Produzenten wie Brainpool, die Stefan Raab und Anke Engelke unter Vertrag haben.
Während 1997 in Deutschland 36 Firmen mit einem Kurswert von 5,1 Milliarden Mark an die Börse gingen, waren es 1999 schon 194 Unternehmen, denen Anleger 27,1 Milliarden Mark anvertrauten. Vor allem der Neue Markt, die Börse für Technologiefirmen in Deutschland, übt eine fast magische Anziehung auf die jungen Gründer aus.
Der Neue Markt sei eine "Riesenchance" gewesen, um zu expandieren, sagt Karl Matthäus Schmidt, Gründer des Nürnberger Online-Wertpapierhauses Consors: "Diese Möglichkeit hätten wir vor fünf oder zehn Jahren nicht gehabt."
Seit vier Monaten sind auch Oliver Sinner, 31, und Matthias Schrader, 32, mit ihrer Hamburger E-Commerce-Firma SinnerSchrader dort notiert, heute ist das Unternehmen knapp 1,5 Milliarden Mark wert. Nun weiten die Gründer ihr Geschäft auf ganz Europa aus. "Wenn man internationalisieren will, dann geht das nicht ohne das Kapital", sagt Schrader.
Die Börse liefert den Gründern den Treibstoff dafür. Aktien sind die Währung, mit der sie ihre Kriegskasse füllen, um andere Firmen übernehmen zu können. Und Aktienoptionen, die vielleicht einmal ein Vermögen wert sind, dienen ihnen als Köder, um Mitarbeiter zu rekrutieren. "Wenn man hoch qualifizierte Leute binden will", sagt Schrader, "gehören Optionen fast schon zum guten Ton."
Es ist eine neue Art von Unternehmenskultur, die sich in solchen börsennotierten Internet-Firmen entwickelt. Hier wacht kein Betriebsrat über die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes - gearbeitet wird, bis ein Projekt fertig ist, und sei es Sonntagnacht. Ihrer unternehmerischen Verantwortung werden die Firmenchefs damit gerecht, dass der Börsenwert steigt - und ihre Mitarbeiter daran teilhaben.
Der Unternehmer als Mäzen, der in seiner Heimatstadt Vereine unterstützt, Krankenhäuser stiftet oder Wohnungen für seine Mitarbeiter baut - für dieses Leitbild hat mancher der neuen Unternehmer nur Spott übrig. "Ich gehe auf keine Kappensitzung und übernehme auch keine Schirmherrschaft", sagt Ralph Dommermuth, Vorstandschef der Beteiligungsfirma United Internet in Montabaur, die bislang 1 & 1 hieß. Hier, am Rande des Westerwalds, ist er mit 350 Mitarbeitern inzwischen der größte Arbeitgeber, aber so etwas beeindruckt ihn nicht. "Ich messe mich nicht an Montabaur, sondern am Neuen Markt."
An der Börse ist Dommermuths Firma ein Schwergewicht, doch das erst seit kurzem. Anfangs war 1 & 1 eine Elektronikfirma, die sich alles, was sie nicht selbst leisten konnte, einkaufte: zum Beispiel eine Beteiligung am Online-Stellenmarkt Jobs & Adverts und am E-Mail-Anbieter GMX. Der Aktienkurs dümpelte dahin.
"Ihr verkauft euch falsch", hat ihm vor einem Jahr ein Analyst gesagt, erzählt Dommermuth. Also änderte er die Strategie und präsentierte von nun an seine Firma als einen Konzern, der ein Netzwerk von inzwischen 16 Internet-Firmen um sich schart. Vergangene Woche erst beteiligte sich United Internet mit 30 Prozent an den Hamburger Netzpiloten. Die einzelnen Beteiligungen wurden von den Analysten neu bewertet, und siehe da, plötzlich schoss der Aktienkurs nach oben.
Alles, was mit Internet zu tun hat, beflügelt in diesen Wochen die Phantasien der Anleger. Fast scheint es so, als müsse ein Firmenname nur mit "e-" anfangen und mit "-net" aufhören, und schon fliegt die Aktie. "Wap-Technologie", "Mobile Commerce", "Customer Relationship Management" - ständig klappern die Internet-Firmen mit neuen Zauberworten.
Meist sind es bloße Ankündigungen, die als Ad-hoc-Mitteilung, also als angeblich kursrelevante Pflichtnachricht, herausgeblasen werden. Ob sie je erfüllt werden, kann ohnehin niemand vorhersehen - Hauptsache, es entstehen Erwartungen, die an der Börse ein Feuerwerk entfachen.
Manche Werte haben so das Vertrauen der Anleger bereits verspielt. Wenn das Softwarehaus Datadesign Planzahlen verkündet, die später nicht eingehalten werden, oder wenn die Bilanzen des Pflegedienstleisters Refugium sich im Nachhinein als offenbar geschönt erweisen, dann schreckt das die Investoren ab.
Das neueste Zauberkürzel, das die Internet-Branche beschwingt, heißt B2B (business-to-business). Der Online-Handel zwischen Unternehmen verheißt ein enormes Potenzial, sein Volumen sei mehr als zehnmal größer als der Internet-Verkauf an den Endkunden, schätzen die Marktforscher.
Überall entstehen elektronische Marktplätze, auf denen Unternehmen ihre Waren und Dienstleistungen einkaufen. Hier können sie auf einen Blick vergleichen, welcher Lieferant das beste Angebot macht, sie können sich zusammenschließen zu Einkaufsgemeinschaften und Rabatte aushandeln, oder sie veranstalten Auktionen, in denen Lieferanten um Aufträge wetteifern.
Kein anderes Thema treibt derzeit die Top-Manager in den Führungsetagen der alten Wirtschaft so sehr um, und dafür sind auch die Finanzmärkte verantwortlich. Die Analysten, die darüber entscheiden, ob sie in ein Unternehmen investieren, wollen von den Vor-
ständen wissen, ob die Firma Wachstumsphantasien entfalten kann - und diese Frage ist derzeit gleichbedeutend mit der nach der Internet-Strategie, sagt Paulus Neef, Gründer der E-Commerce-Beratungsfirma Pixelpark. "Wer darauf keine Antwort weiß, hat ein Riesenproblem."
Und so streben Unternehmen nun danach, ihre Abteilungen zu vernetzen: Jeder Mitarbeiter soll sich an seinem Bildschirm den Bürostuhl oder die Heftklammern selbst bestellen. Er ordert die Ware auf dem elektronischen Marktplatz des Lieferanten - schneller und billiger denn je.
Ein gigantischer Rationalisierungsschub kommt in Gang, wenn es für die Bestellung tatsächlich nur einiger Mausklicks bedarf und nicht mehr unzählige Formulare mit Durchschlägen ausgefüllt werden, mit denen sich dann eine Hand voll Mitarbeiter tagelang beschäftigen müssen.
Rund 1,25 Billionen Dollar können im Jahr 2002 Unternehmen einsparen, wenn sie ihre Geschäftsprozesse elektronisch abwickeln, schätzt das Marktforschungsinstitut Giga Information Group. Hunderttausende Beschäftigte - im Großhandel, in den Einkaufsabteilungen oder der Verwaltung - werden damit überflüssig.
So schafft das Internet zwar unzählige neue Arbeitsplätze in Multimediaagenturen, Beratungsfirmen oder Online-Versendern. Aber es vernichtet auch Jobs, und zwar in noch größerem Stil, je mehr es seine rationalisierende Wirkung entfaltet.
Bei den Banken lässt sich diese Entwicklung schon beobachten. Alle Finanzinstitute bauen das effiziente Online-Banking aus - auf Kosten des personalintensiven Filialgeschäfts. Tausende von Jobs fallen weg. Bankangestellten, die jahrzehntelang eine beamtenähnliche Arbeitsplatzsicherheit genossen, ergeht es jetzt wie Stahlarbeitern.
Fusionen verschärfen den Druck auf die Arbeitsplätze. Nach dem Zusammenschluss von Deutscher und Dresdner Bank werden in den kommenden drei Jahren rund 16 000 Stellen gestrichen.
Immer schneller dreht sich das Rad - angetrieben von einer Technologie, die der Entwicklung den explosiven Schub verleiht, von Anlegern, die nach immer stärkeren Renditen gieren, von Kapitalmärkten, die nach immer effizienteren und immer größeren Konzernen verlangen.
Nur noch die Größe zählt - als sei das alles. Im gegenwärtigen Fusionsrausch wird verdrängt, dass Schnelligkeit, Flexibilität und Innovationskraft mindestens ebenso wichtig sind. Und diese Eigenschaften werden durch Größe blockiert. In den neuen Riesenkonzernen sind Manager oft nur mit sich selbst beschäftigt, mit bürokratischen Strukturen und Machtkämpfen. Größe lähmt.
Am erfolgreichsten sind derzeit oft die kleinen und flexiblen Unternehmen einer Branche. "Wenn Größe das entscheidende Kriterium wäre", sagt Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, "müssten die Dinosaurier heute noch leben."
"Small is beautiful", so priesen noch vor wenigen Jahren die Managementgurus die Vorteile kleiner Einheiten. Ganz falsch kann diese Erkenntnis nicht gewesen sein. Die bisherigen Erfahrungen mit Großfusionen sind jedenfalls ernüchternd: Die wenigsten haben sich als wirtschaftlich sinnvoll erwiesen.
Wie eine Fusion weitere Zusammenschlüsse nach sich zieht - und wie wenig am Ende dabei herauskommt, zeigt das Beispiel der Pharmaindustrie. Sie ist wie kaum eine andere Branche von dem manischen Fusionswahn befallen.
Noch vor zweieinhalb Jahren war Sir Richard Sykes, Chef des 1995 aus der Fusion von Glaxo und Wellcome hervorgegangenen britischen Medizinmultis, davon überzeugt, dass sein Unternehmen die in der Pharmaindustrie als notwendig erachtete "kritische Masse erreicht hat - und zwar im Hinblick auf Forschung, Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Marketing".
Sir Richard irrte offenbar. Durch den Zusammenschluss von Glaxo Wellcome mit dem zweiten britischen Medizinriesen Smithkline Beecham entstand Anfang dieses Jahres der derzeitige Spitzenreiter der Branche mit einem Marktwert von 310 Milliarden Mark.
Die tollen Perspektiven, von denen die Fusionspartner am Tag der Übernahme schwärmen, werden selten erfüllt. So versprach DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp am 18. September 1998, durch die deutsch-amerikanische Fusion werde "das innovativste, profitabelste und das weltweit am besten aufgestellte Unternehmen seiner Branche" entstehen.
Und jetzt? Jetzt wären viele Aktionäre froh, sie hätten ihr Geld lieber in andere Aktien investiert. Der Kurs sackte seitdem auf immer neue Tiefstände. Irritieren lässt sich Shareholder-Value-Fan Schrempp aber nicht - nun will er sich auch noch Mitsubishi einverleiben.
Die Fusionswelle rollt weiter, obwohl viele Studien nachweisen, dass die meisten Zusammenschlüsse scheitern. Angetrieben wird die Entwicklung von jenen dunkel gekleideten Herren, die sich stets im Hintergrund halten und die vom Geschäft mit M&A (mergers and acquisitions) leben: den Investmentbankern. In der Regel werden die Investmentbanken mit einem halben Prozent des Transaktionsvolumens entlohnt. Da kommt einiges zusammen: Branchenführer Goldman Sachs schüttete im vergangenen Jahr rund 12,5 Milliarden Mark an Gehältern und Boni unter seine weltweit knapp 15 000 Mitarbeiter aus.
Wenn so viel Geld lockt, muss es nicht wundern, dass die Banker ihren Beraterstatus verlassen und eine aktivere Rolle übernommen haben - als Kuppler. Gezielt spüren sie Fusions- oder Übernahmekandidaten auf und versuchen, diese zusammenzubringen. "Pitchen" heißt dieses Präsentieren von Kandidaten im Fachjargon.
Die Manager der großen Konzerne lassen sich nur allzu gern darauf ein: Es winken Ruhm, Ehre - und Geld, viel Geld. Je größer das Unternehmen, desto höher das Gehalt der Vorstände.
Mit den in Deutschland lange üblichen ein bis vier Millionen Mark Jahressalär gibt sich kaum noch einer zufrieden. In den Zeiten der Globalisierung wollen deutsche Manager bezahlt werden wie ihre US-Kollegen - mit zusätzlichen Aktienoptionen, die bei günstiger Kursentwicklung zweistellige Millionenbeträge wert sein können.
Selbst die Verlierer im Firmen-Monopoly können noch eine Menge gewinnen. Mannesmann-Chef Klaus Esser wehrte sich zwar vergebens gegen die feindliche Übernahme durch Vodafone, für ihn selbst sprang dabei allerdings eine Abfindung von 60 Millionen Mark heraus.
So geht die Party munter weiter. Unternehmen fusionieren, neue Firmen entstehen, Anleger schieben immer mehr Geld an die Börse und schaffen damit die Voraussetzung für weitere Fusionen und Neugründungen - eine Spirale, die scheinbar endlos nach oben weist. Tatsächlich führt sie genauso schnell abwärts wie aufwärts.
In den USA gibt es erste Warnsignale. Der Boom an der Wall Street ist ein Boom auf Pump. Zunehmend verschulden sich die Amerikaner, um Aktien zu kaufen. Mit 243,5 Milliarden Dollar waren Investoren im Januar allein bei Brokern verschuldet, die Mitglied der New Yorker Stock Exchange sind.
Längst treiben die Börsengewinne die amerikanische Wirtschaft an, und nicht, wie eigentlich üblich, umgekehrt. Sollte ein drastischer Aktieneinbruch die Anleger verschrecken und zum Sparen zwingen, könnte sich die Entwicklung umkehren: weniger Konsum, weniger Umsatz, niedrigere Aktienkurse, noch weniger Konsum, noch weniger Umsatz, noch niedrigere Kurse. Die Folge wäre eine Rezession, aus der sich die Nation mühsam wieder herausarbeiten müsste.
Nobelpreisträger Milton Friedman sieht bereits "unheimliche Ähnlichkeiten zwischen dem, was heute am US-Aktienmarkt geschieht, und dem, was in den zwanziger Jahren in den USA passierte" - und in der Weltwirtschaftskrise endete.
Auch damals sorgte der technische Fortschritt für ein kräftiges Wachstum. Was heute das Internet, waren in den zwanziger Jahren Radio, Autos und Flugzeuge. Zugleich stiegen die Aktienkurse auf immer neue Höhen. Die Begründung lautete damals schon: Ein anhaltendes Wirtschaftswachstum werde zu steigenden Unternehmensgewinnen führen und die Kurse schon rechtfertigen.
Anleger, die ihre Aktienkäufe teilweise bereits mit Krediten finanziert hatten, glaubten lange daran. Doch als am 24. Oktober 1929 ohne besonderen Anlass die Kurse ins Rutschen gerieten, löste dies eine Kettenreaktion aus: Immer mehr verkauften ihre Papiere und ließen die Kurse zusammenbrechen. Innerhalb eines Monats verlor der amerikanische Aktienindex Dow Jones über 50 Prozent seines Wertes.
Daran lassen sich die heutigen Optimisten nur ungern erinnern. Sie fordern wie der Chefredakteur von "Capital", Ralf-Dieter Brunowsky, schlicht: "Crash - nein danke."
Ihr Hauptargument: Es könnte zwar kleinere Einbrüche an der Börse geben, doch dann könnten die Kurse schnell wieder steigen. Denn die Investoren suchen weiter nach Anlagemöglichkeiten. Die Versicherungen, die bisher erst einen geringen Teil ihrer Riesenvermögen in Aktien angelegt haben, drängen verstärkt an die Börse; nur dort können sie mit einer ordentlichen Verzinsung rechnen. Gleichzeitig suchen Privathaushalte nach rentablen Anlagen für die eigene Altersvorsorge.
Früher oder später haben sie alle von dem wunderbaren Beispiel gehört, dass einer, der beim Börsengang von EM.TV 1997 für 5000 Mark Aktien gekauft hatte, jetzt Millionär ist. Und dann suchen sie nach ihrer EM.TV, nach irgendeiner Glitzerfirma, die Wachstum ohne Grenzen verspricht.
"Kursexplosion an den Emerging Markets", schwärmen interessierte Fachblätter, "1500 Prozent in 24 Monaten" sollen dank ihrer Tipps möglich sein. Die "Tageszeitung" fragt ironisch: "Muss ich jetzt auch Millionär werden?"
Vielleicht lässt sich dies ja vermeiden, gerade indem man kräftig spekuliert. So mancher hat an der Börse auch schon sein Vermögen verspielt - zu 100 Prozent.
Abhalten aber wird dies nur wenige. Das merkte auch die Münchner "Abendzeitung". Sie hatte am Faschingsdienstag berichtet, dass im Rathaus die erste Münchner Stadtaktie mit Namen "Monacensus" herausgegeben werde. Zwischen 10 und 13 Uhr könnten sich Einwohner im Büro von Oberbürgermeister Christian Ude als Kaufinteressenten vormerken lassen.
Der Faschingsscherz hatte ernste Folgen. Schon frühmorgens baten Anrufer im Sekretariat des Oberbürgermeisters darum, dass man für sie ein Aktienkontingent reservieren solle. Es waren, mal wieder, die Narren los.