Ruhe, Stabilität, Solidarität oder gar Liebe - davon ist derzeit in der Türkei nichts zu sehen. Es brodelt am Bosporus. Das Land durchlebt die schwerste Krise seit Jahren. Innerhalb weniger Wochen hat der Streit um die Wahl des Staatspräsidenten die Türkei tief gespalten: in die Anhänger der regierenden islamischen Partei für Gerechtigkeit und Forschritt (AKP) und ihre Gegner.
Die Nachrichten überschlagen sichMassenproteste, Putschdrohungen der Armee, ein Klage vor dem Verfassungsgericht, Kursstürze am Aktienmarkt - die Nachrichten über den EU-Beitrittskandidaten überschlagen sich. Am Dienstag hat das Verfassungsgericht die Wahl zum Staatspräsidenten gestoppt. Nun könnte es Neuwahlen zum Parlament geben. Der Konflikt würde dadurch aber nicht gelöst.
Seit November 2002 regiert die islamische AKP, seit März 2003 ist Erdogan Regierungschef. Auf den ersten Blick ist er erfolgreich. Die Inflation wurde eingedämmt, die Wirtschaft wächst, die Investitionen aus dem Ausland sprudeln. Im Oktober 2005 konnte Erdogan seine Regierungszeit mit einem lang ersehnten Wunsch der Türkei krönen: der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU. Wenn heute gewählt würde, könnte die AKP mit rund 30 Prozent der Stimmen rechnen. Doch der politische und wirtschaftliche Reformkurs hatte stets eine Fußnote, die sowohl die Anhänger des Laizismus als auch die Europäer beunruhigte: Vordergründig ging es dabei um die Frage, wie islamistisch die AKP von Erdogan tatsächlich sei, wie sehr sie mit ihrem Gesellschaftsbild die Türkei durchdringen würde. Im Kern ging es um die Ur-Frage der Türkei: Wie laizistisch, wie säkular soll das Land, in dem fast ausschließlich Muslime leben, sein? Oder anders gefragt: Wie religiös darf die Republik von Mustafa Kemal Atatürk sein?
Ausgerechnet an der Wahl des neuen Staatspräsidenten hat sich der alte Streit in ungewohnter Schärfe und Intensität neu entzündet. Das Staatsoberhaupt hat überwiegend repräsentative Aufgaben - ist aber auch Oberkommandierender der säkularen Streitkräfte, ernennt wichtige Beamte und kann Gesetze blockieren. Für die AKP-Gegner geht es also um mehr als nur Symbolik: Sie fürchten, dass islamische Kräfte den Staat weiter durchdringen.
Erdogan, der zunächst selbst in das höchste Amt strebte, hatte deshalb seine Kandidatur zurückgezogen. Abdullah Gül hieß der neue Kandidat, mit dem man die Skeptiker wohl locken wollte. Der Außenminister ist in Europa als aufgeschlossener, nach Westen orientierter Politiker bekannt.
Nicht so bei den Gegnern der AKP: So gehört die Frau des Außenministers zu jener Gruppe von Türkinnen, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte versucht hatten, das Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen, Universitäten und anderen staatlichen Institutionen zu Fall zu bringen - vergeblich.
Der Konflikt lässt sich also im Grunde auf die eine Frage reduzieren: Kopftuch im Präsidentenpalast oder nicht? Der bisherige Präsident, Ahmet Necdet Sezer, hatte sich stets geweigert, die Frau Erdogans im Palast zu empfangen, die ebenfalls Kopftuch trägt. Die Sprengkraft, die diese Frage immer noch hat, hat Erdogan nach Ansicht von Beobachtern unterschätzt.
Schlag auf SchlagSeit Tagen geht es nun Schlag auf Schlag: Im ersten Wahlgang am Donnerstag verfehlt Gül nur knapp die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Die Opposition, allen voran die sozialdemokratische CHP, boykottiert die Wahl und reicht Verfassungsklage ein, um die Wahl für ungültig erklären zu lassen. Ihr Argument: Von weniger als zwei Dritteln der Abgeordneten darf ein Staatspräsident nicht gewählt werden. Am Samstag meldet sich dann die Armee zu Wort. Ganz modern, auf der eigenen Internetseite, ganz düster, wie in früheren Zeiten.
Mit großer Sorge, teilt der Generalstab mit, beobachte man die Wahl. Niemand solle vergessen, dass die Streitkräfte "entschieden für die Verteidigung des Laizismus, also der Trennung von Staat und Religion eintreten". Notfalls werde das Militär seine Haltung und sein Vorgehen deutlich machen. Mit anderen Worten: Es werde putschen. Vom "E-Putsch" ist in der Türkei seitdem die Rede.
Geputscht hat das Militär bereits dreimal: 1960, 1971 und 1980. 1997 drängte es den damaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan aus dem Amt. Traditionell nimmt die Armee in der Türkei die Rolle der Hüterin der Verfassung und der Grundwerte der Republik, die der Staatsgründer Kemal Atatürk festgelegt hat, ein - dazu zählt der Laizismus, die strenge Trennung von Religion und Staat. Diesmal aber geht es der Armee auch um etwas anderes: um die eigene Macht. Denn die Annäherung an die EU - und die Übernahme zahlreicher demokratischer Prinzipien - beschneidet den Einfluss der Generäle.
"Keine Scharia, kein Putsch"Am Tag nach dem E-Putsch strömen in Istanbul die Massen auf die Straßen. Es sind Sozialdemokraten, Liberale, Nationalisten, Kommunisten, auch neue, bis dahin oft unpolitische Kräfte, die ihrer Wut Luft machen. "Keine Scharia, kein Putsch", lautet die Parole. Die Mullahs, schimpft etwa die junge Studentin Aysel, "nutzen die Gunst der Stunde, um alle Festungen der Republik zu erobern."
In der Tat gibt es dafür Indizien: In den Medien wurde jüngst eine Karte der Türkei veröffentlicht, auf der alle Städte markiert waren, in denen bereits Alkoholverbot in kommunalen und staatlichen Einrichtungen herrscht: in 62 von 81 Provinzen. Überall in Anatolien arbeiten AKP-Bürgermeister emsig daran, das öffentliche und private Leben in ihrem Sinne neu zu ordnen. Moscheen werden gebaut, Korankurse ausgeweitet, neuerdings gibt es auch Koranunterricht für erwachsene Frauen.
Selbst in Istanbul, der heimlichen Hauptstadt, hat sich in den letzten Jahren das Bild auf den Straßen geändert. Sichtbarstes Zeichen ist das Kopftuch. "Ich fühle ein physisches Unbehagen", berichtet eine junge Frau. "Früher trug ich im Sommer in der Stadt kurze Shorts, heute ist das nicht mehr möglich." Die Zahl der "offenen" Frauen in Bussen kann man oft an einer Hand abzählen. In Vororten gibt es kaum eine unverhüllte Frau mehr. Alkoholabstinenz, Koranstunden und die Trennung von Männern und Frauen prägen den Alltag. Wer in einem öffentlichen Park eine Bierdose aufmacht, wird von Passanten angezeigt. Den Wein hat die AKP mit einer so hohen Mehrwertsteuer versehen, dass er etwa doppelt so teuer ist wie in der EU.
"Die westliche Lebensweise soll nur den Touristen und Nichtmuslimen überlassen werden", sagt Mehmet, ein Istanbuler Fremdenführer. "Wenn ich zwischen Demokratie und dem Laizismus entscheiden muss, dann werde ich den Laizismus wählen." Im Zweifel also: für die Armee.
Im Zweifel gegen die EUDas hieße aber auch: im Zweifel gegen die EU, die natürlich die Intervention des Militärs sofort verurteilt hat. Erstaunlicherweise denken viele in der Türkei wie Mehmet. Bei den Großdemos wurden auch Parolen gegen die EU und USA gerufen. Türkische Journalisten flüstern bereits hinter vorgehaltener Hand: "Die Leute werden die Panzer mit Blumen bewerfen."
Im Kampf um Scharia und Staat schwingt in vielen Protesten ein weiterer Unmut mit: der Reformkurs, die Annäherung an die EU, so der Tenor, hätten zum "Ausverkauf des Landes" geführt. Die Massen spüren noch nicht die Segen des Anschlusses der Türkei an die globalen Märkte. Im Gegenteil: Viele Kleinhändler und der Mittelstand klagen über fehlende Liquidität. Immer öfter hört man die Forderung nach einer "nationalen Wirtschaftspolitik". Der E-Putsch der Armee, sagt der Ökonom Erol Manisali, sei deshalb nicht nur gegen den Islamismus, sondern auch "gegen die USA, die EU und das Großkapital" gerichtet gewesen. Es ist ein Aufbäumen der alten Kräfte, ein Aufbäumen der Verlierer.
Am Dienstag hat das Verfassungsgericht den ersten Wahlgang zum Staatsoberhaupt annulliert. Der vermeintliche Sieg der AKP-Gegner wird aber nur von kurzer Dauer sein. Denn nun dürfte es Neuwahlen zum Parlament geben. Und die AKP würde wohl wieder stärkste Kraft.
Krise eines EU-Aspiranten
Proteste Am Wochenende haben in Istanbul Hunderttausende Demonstranten gegen die regierende islamische AKP protestiert. Die Krise hatte sich am Streit um die Wahl des Staatspräsidenten entzündet, der bisher nicht von der AKP gestellt wurde.
Rückzieher Seit 2003 ist Recep Tayyip Erdogan Ministerpräsident. Dann strebte er in das Amt des Staatspräsidenten. Doch Kritiker fürchteten, dass islamische Kräfte damit zu viel Einfluss gewinnen würden. Nach Protesten zog Erdogan die Kandidatur zurück.
Putsch Das Militär drohte am Wochenende mit einer Intervention. Traditionell nimmt die Armee die Rolle der Hüterin der Grundwerte der Republik ein - dazu zählt der Laizismus, die Trennung von Religion und Staat.
Alternative Nach Erdogan präsentierte die AKP Außenminister Abdullah Gül als Kandidaten. Im ersten Wahlgang verfehlte er die Zweidrittelmehrheit. Das Verfassungsgericht hat die Wahl am Dienstag annulliert.
Von Dilek Zaptcioglu (Istanbul) und Horst von Buttlar (Hamburg)
Quelle: Financial Times Deutschland
Servus, J.B.
"Bitte, folgen Sie meinen Empfehlungen nicht und hören Sie nicht auf mein Geschwafel, denn ich bin ein Wahnsinniger"