Er wollte immer der Erste sein

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Er wollte immer der Erste sein

 
20.05.03 10:21
Julius Reuter schuf das früheste Informationsimperium der Welt. Sein Erfolgsrezept: Schneller sein als alle anderen

Von Ines Zöttl

Es ist wieder Gipfel der großen Industrienationen. Die Journalisten stehen da wie 100-Meter-Läufer kurz vor dem Startschuss, die Gesichter vor Aufregung verzerrt, jeder Muskel angespannt. Endlich das Signal: Der Pulk stürmt los, hin zu einem Stapel Papier. Wie alle anderen reißt sich der Reuters-Reporter eines der Blätter vom Stapel und schreit in das Telefon, an dessen anderem Ende in der Zentrale ein Kollege seit Minuten mit den Fingern auf der Tastatur seines Computers wartet: „G-8 erwarten Konjunkturaufschwung im zweiten Quartal!“

Das Verfahren heißt real time und bedeutet, dass Nachrichten den Kunden möglichst in der Sekunde erreichen sollen, in der sie entstehen. Stressfeste Journalisten und technischer Fortschritt machen es möglich. Auf den Computerterminals in den Banken von Tokyo oder New York flimmern die News-Bulletins über die Schirme, sobald sie der Redakteur eingetippt hat. Zeit ist Geld. Ein paar Zehntelsekunden Informationsvorsprung können für den Devisenhändler, der abhängig vom Kommuniqué der Industrienationen Dollar kauft oder verkauft, den Unterschied zwischen Millionen im Plus oder Minus bedeuten.

Die Entscheidung war goldrichtig: Lieber Tauben als die Eisenbahn

Und der globale Informationskonzern Reuters aus London ist schnell. Denn mit genau diesem Ziel hat ihn der deutsche Unternehmer vor eineinhalb Jahrhunderten gegründet. Er erkannte, was heute noch die Grundlage des Geschäfts bildet: Informationen sind im weltweiten Handel ungemein wertvoll, und sie sind umso wertvoller, je schneller und „frischer“ sie den Empfänger erreichen. Diese Idee trug Paul Julius Reuter im Kopf, als er am 22.April 1850 mit seiner Gattin Ida Maria im Gasthof Schlembach gleich neben dem Aachener Bahnhof abstieg. Der gedrungene Mann, der von seiner Frau um gut einen Kopf überragt wurde, trug sich als „Zeitungskorrespondent aus Paris“ ins Gästebuch ein.

Dabei sah er mit seinem geschwungenen Backenbart und seiner Intellektuellenbrille eher aus wie ein Schullehrer. Reuter war gekommen, um den Brauerei- und Bäckereibesitzer Heinrich Geller zu treffen. Der nämlich besaß, was Reuter haben wollte: Brieftauben. In der Telegrafenlinie Berlin–Paris klaffte zwischen Aachen und Brüssel eine knapp 150 Kilometer lange Lücke, die den Nachrichtenfluss zwischen den beiden Handelszentren behinderte. Reuter hatte erkannt, dass die schnellste Technologie, um das telegrafische Niemandsland zu überbrücken, keineswegs die moderne Eisenbahn war, sondern die Taube. Auf dem Dach von Gellers Haus in der Pontstraße 19 gurrten 200 Flugvögel, mit denen der junge Entrepreneur die grenzüberschreitende Schneckenpost in einen Taubenexpress verwandeln wollte. Zwei Tage später war man sich handelseinig. Reuter konnte fortan über 45 Brieftauben nebst 12 Taubenbeförderungskästen verfügen. Damit konnte er Zeitungen und Banken künftig gut fünf Stunden früher mit Nachrichten beliefern als bisher.

Mit dem Zug wurde das Federvieh nun nach Brüssel expediert, von dort hoben die gefiederten Datenträger am nächsten Tag zum Kurzstreckenflug nach Aachen ab. Bepackt mit brandaktuellen Nachrichten landete Reuters „Frühtaube“ gegen sieben Uhr morgens in dem verschlafenen Städtchen. Der Direktor, wie sich Reuter seit Gründung seiner Firma stolz titulierte, war da längst wach und erwartete inmitten eines Bergs von Zeitungen und mit der Zigarre im Mund die wertvolle Fracht. Nicht selten eilte der Chef von da aus persönlich zum Telegrafenbüro am Rheinischen Bahnhof, von wo er die Nachrichten an die Verlagshäuser und Banken in Berlin kabelte.

Der frisch gebackene Unternehmer vertraute nicht vielen Leuten und am meisten immer noch sich selbst. Gerade einmal zehn Paragrafen lang war sein Vertrag mit Geller, doch die Geheimhaltungspflichten regelte er im Detail. Für die paar Meter vom Taubenschlag bis zu Reuters Büro musste Geller die Meldungen in einer versiegelten Box verwahren. Bei einer Verletzung seiner Verschwiegenheitspflicht drohte ihm eine Strafe von 100 Talern, damals viel Geld.

Als Reuter am 21. Juli 1816 in Kassel zur Welt kam, hieß er Israel Beer Josaphat. Mit 32 Jahren aber konvertierte Israel zum Christentum und gab sich einen damals weit verbreiteten deutschen Namen – mit dessen Aussprache sich dann die Briten jahrelang plagten („Mr Righter?“). Reuter schämte sich seiner jüdischen Herkunft nicht, aber er sah keinen Grund, warum seine Karriere durch seine Herkunft beschränkt werden sollte. Nach dem Tode seines Vaters hatte der damals 15-Jährige bei seinem Onkel Benfey in Göttingen eine Banklehre absolviert. Die stark ausgeprägte kaufmännische Vorsicht vieler Banker aber blieb ihm ein Leben lang fremd. Reuter wollte sein eigener Herr sein, und er wollte lieber alles verlieren als sich mit dem begnügen, was ihm als Sohn eines hessischen Rabbiners in die Wiege gelegt war. Vor dem Brieftauben-Coup hatte er sich erfolglos an mehreren Projekten wie dem Aufbau einer Buchhandlung versucht.

Angespornt vom Erfolg seiner Taubenunternehmung, traf Julius Reuter 1851 seine wichtigste Entscheidung. Soeben war das erste Untersee-Kabel für die Nachrichtenbeförderung zwischen Dover und Calais verlegt worden. Und Reuters Wahlspruch lautete: „Per mare et terram“ – „Über See und Land“. Reuters Horizont endete nicht in Aachen, nicht am Atlantik und nicht am Amazonas. Mit Sack und Pack siedelte er nach London um und gründete die Firma Submarine Telegraph, die in zwei Zimmern des Börsengebäudes residierte. Dort schuf er auch gleich einen Arbeitsplatz: Fred Griffiths, elf Jahre alt, Laufbursche und stolz auf seinen Job. Und Fred bewies, dass er den Geist seines Chefs verinnerlicht hatte. Völlig außer Atem kam der Junge eines Mittags in das Steak-House gerannt, wo Reuter gerade zu Mittag aß. Ein „irgendwie ausländisch aussehender Gentleman“ habe nach ihm gefragt, japste Fred. Reuter sprang auf. Wie er denn den Besucher wieder gehen lassen konnte, raunzte er seinen Bürohelfer an. „Bitte, Sir“, antwortete der, „das habe ich nicht. Er ist noch im Büro, ich habe ihn eingesperrt.“ Die Firma hatte einen ihrer ersten Abonnenten gewonnen.

Die Erfolgsgeschichte Reuter wurde gemischt aus einer Prise Zufall, einer Messerspitze Glück, zwei Teilen Instinkt, Mut sowie einer gehörigen Portion Besessenheit. Als der ehrgeizige Aufsteiger zum ersten Mal bei der Tageszeitung Times vorstellig wurde, um seinen Nachrichtendienst anzubieten, beschied man ihm kurz und arrogant, dass man das Geschäft besser beherrsche als jeder andere. Doch Reuter kam immer wieder, und am Schluss hatte er gewonnen.

Reuter war kein Schöngeist oder Idealist, der das Wort um die Welt tragen wollte, selbst einen Publizisten wollte man ihn nicht nennen. Er war ein Geschäftsmann, der besessen war von dem Willen zum Erfolg. Wäre er zwei Generationen früher auf die Welt gekommen, hätte er vielleicht mit Baumwolle gehandelt, so förderte er eben Nachrichten. Und in nur zehn Jahren hatte der unbekannte deutsche Immigrant, den Karl Marx einmal als „grammatikalischen Analphabeten“ schmähte, seinen Eineinhalb-Mann-Betrieb zum britischen Erfolgsunternehmen ausgebaut. „Ist dieser Mr. Reuter eine Institution oder ein Mythos?“, fragte ein Magazin schon 1861. Mit dem Erfolg kam dann auch die soziale Anerkennung, die Reuter ersehnte. 1871 wurde er, nach Zahlung einer erheblichen Geldsumme, von Königin Victoria zum Baron de Reuter of Saxe-Coburg-Gotha geadelt. Für ihn selber war dies vielleicht der größte Erfolg.

Der Chef wird zum Schreckgespenst in der Nacht

Seine unstillbare Energie war nicht nur der Schlüssel zu seinem Erfolg, er machte Reuter auch zum Schrecken seiner Mitarbeiter. Der Jungredakteur Douglas Williams wachte eines Nachts davon auf, dass ein wütendes Gespenst ihm mit einem Stück Papier vor dem Kopf herumfuchtelte. Wieder einmal war Julius im Morgengrauen und nur mit Morgenmantel und Pantoffeln bekleidet durch den Garten seines Hauses am Finsbury Square getrippelt, um in dem angrenzenden Redakteursbüro nach dem Rechten zu sehen. Und stieß dabei prompt auf eine Nachricht von der Schlacht von Bull Run im amerikanischen Bürgerkrieg, die Williams verpennt hatte. Der Boss ließ Gnade walten, der Journalist durfte bleiben.

Reuter wusste, worauf es in dem Geschäft ankam: „Be first but be first right“ (etwa: Sei der Erste, aber sei der Erste, der das Richtige berichtet). Ein Beispiel vom 15. April 1865: Zwei Stunden vor der offiziellen Bestätigung schreckte die Agentur ihre Kunden mit der Botschaft auf, der amerikanische Präsident Abraham Lincoln sei ermordet worden.

Die Firma war dazu übergegangen, die Postdampfer aus den USA vor der Küste Irlands abzupassen. Helfer auf den Schiffen warfen die Meldungen verpackt in wasserdichten Kanistern über Bord, dann wurden sie mit Fischerei-Netzen aufgefischt und an Land gebracht. Während des Krieges zwischen Napoleon III. und den Österreichern erfand Julius, was heute bei den Finanzagenturen flash oder snap heißt: eine einzeilige Nachricht, die auf dem Ticker oder Bildschirm des Kunden mit Klingeln und Warnleuchten ankommt. So eine Blitzmeldung informiert über Kriege und Katastrophen, über Rücktritte von Regierungen, Zinsentscheide der Zentralbank oder Gewinnwarnungen von Firmenchefs – eben über alles, was in der modernen Finanzsprache „den Markt bewegt“.

Julius Reuter erkannte das Potenzial von Innovationen (oder glaubte es zu erkennen) und nutzte es, bevor andere auf den fahrenden Zug aufsprangen. Wie heutige Management-Professoren wissen, geht der „Frühanwender“ ein hohes Risiko des Scheiterns ein – was, wenn die Neuerung nichts taugt, die Kunden sie nicht wollen? –, aber dafür winken ihm im Erfolgsfall satte Gewinne. Gerade im Informationsgeschäft ist es wichtig, früh dran zu sein. Und dafür war der ehrgeizige Unternehmer genau der richtige Mann.


(c) DIE ZEIT 15.05.2003 Nr.21
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