Der nachfolgende Artikle ist sehr interessant, aber m. E. nicht kritisch genug: was zur Zeit passiert, ist, die totale Verfügbarkeit des Individuums zu schaffen. Über maßlose Arbeitszeiten (gefordert über Shareholder Value und Denunzierung der Gewerkschaften) werden Familien zerstört und das Individuum die Sklaverei selbst wählen und auch noch stolz darauf sein. Bargeld wird über Kreditkarten abgeschafft und ermöglicht die totale Kontrolle des Menschen.
Keiner kann mehr "nein" sagen, weil man den Rückhalt nicht mehr haben wird, der früher das Leben ermöglicht hat: Familie und Bargeld, oder: wenn man es aus der Perspektive der Staatsmacht sieht: mafiöse Strukturen.
Die Firma wird zur Ersatzfamilie und bei kritischen Entscheidungen wird man zum willigen Erfüllungsgehilfen, weil einem sonst nichts bleibt ( wir wundern uns heute über die KZ-Schergen, aber das Prinzip ist dasselbe).
Viel Spaß beim Nachdenken.
Von Ulrich Renz
Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten. Im entfesselten globalen Wettbewerb geben sich die Konzerne als Sinn stiftende Institutionen, die dem entwurzelten Individuum Geborgenheit und Lebenszweck versprechen. Je mehr der Geist der Firmen von der Mechanik der Geldvermehrung geprägt wird, desto menschlicher wird ihr Antlitz.
"Wir wollen eine Umgebung schaffen, die von Würde und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Andere behandeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollen. In unserer Zusammenarbeit ... sind wir offen, ehrlich und aufrichtig"
Enron-Zentrale in Houston, Texas: Firmen sind die neuen Kirchen
Haben wir hier die Satzung des internationalen Pfadfinderbundes vor uns? Ein Traktat einer pietistischen Erweckungsbewegung? Nein. Die schönen Worte stammen aus dem letzten Jahresbericht des amerikanischen Energiekonzerns Enron, Kapitel "Unsere Werte". Hier, ein paar Seiten nach den "Financial Highlights", dürfen wir einen Blick in die Seele des Unternehmens tun. Wir lernen eine Belegschaft kennen, die auf dem Urgrund unumstößlicher menschlicher Werte steht, und von da aus tagtäglich aufbricht, "um über den Horizont hinauszuschießen", wie sich Firmenchef Kenneth Lay, den sie auch den "Magier" nannten, gerne ausdrückte.
Enron ist nicht die erste Firma, die erkannt hat, dass Mitarbeiter ihre Arbeit nicht als bloßen Broterwerb sehen wollen, sondern als Aufgabe mit tieferer Bedeutung. Nicht nur das Konto, sondern auch die Seele soll glücklich werden. So ist das Motto: "Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten" schon länger zum obersten Grundsatz moderner Mitarbeiterführung aufgestiegen. Kaum eine Firma von Rang und Namen, die nicht ein "Mission Statement" erstellt hätte, eine Art feierliche Selbstverpflichtung auf gemeinsame ethische Grundsätze. Wo Firmen früher schlicht einem "Geschäftszweck" nachgingen, haben sie heute eine Sendung. Die Belegschaft wird zu einer großen Glaubensgemeinschaft zusammengeschweißt, die freudig erregt den "Visionen" der Geschäftsleitung folgen soll.
Ein Begriff mit Sex Appeal
Wie bitte - Visionen? Waren das nicht diese übersinnlichen Erscheinungen, von denen einstmals Heilige, Häretiker und Hippies heimgesucht wurden? Heute ist "Vision" ein Begriff mit Sex Appeal, der gerade von den als besonders rational geltenden Managern gerne im Munde geführt wird. Visionen an die Untergebenen zu vermitteln ist nun ihre wichtigste Aufgabe. So regnet es in Seminaren, Klausuren, Workshops, Motivationswochenenden, Trainingscentern und Incentive-Veranstaltungen Visionen wie Manna vom Himmel. Als "Visionär" zu gelten ist für eine Führungskraft das höchste Kompliment, der "Mangel an Visionen" ein Kündigungsgrund.
Glauben macht nun einmal selig. Und diese Glaubensseligkeit soll auch dem Kunden zuteil werden. Aus Hochglanz-Anzeigen und Fernsehspots schwappt uns neuerdings eine Flut von Sinnsprüchen entgegen, mit denen die Firmen uns von ihrem höheren Daseinszweck überzeugen wollen: "The Power of Dreams." (Honda), "The Future. Together. Now." (Axa), "Making the world a better place..." (Ford). Wem liefe bei so einer frohen Botschaft nicht ein heiliger Schauer über den Rücken? Fast wundert man sich, dass die früher so viel kritisierten "Multis" noch nicht Gemeinnützigkeitsstatus beantragt haben.
Enron-Logo: Zusammengeschweißt zur großen Glaubensgemeinschaft
Die "Kommunikations"-Abteilungen der Konzerne sorgen dafür, dass wir Firmen nicht mehr als banale Subjekte des Wirtschaftslebens auffassen, sondern als in höheren Sphären beheimatete Wesenheiten, die Heil und Zukunft der Menschheit hüten und befördern. Geschäftsberichte lesen sich heute wie Erbauungsliteratur des 19. Jahrhunderts. Von "Shareholder-Value", von den Firmen noch vor wenigen Jahren lautstark als oberstes Firmenziel verkündet, ist heute nur noch in dem Kapitel "Investor Relations" die Rede. Für die breiteren Schichten setzt man jedoch ganz auf die Programmatik der großen Emotionen. So mutierte John Lennons Lied "Imagine", die Sehnsuchtsmelodie einer ganzen Generation auf der Suche nach spiritueller Wahrheit, zur Erkennungsmelodie eines Energieunternehmens. Eines Atomkonzerns, wenn man es genau nimmt, aber was tut das zur Sache, solange das "Feeling" stimmt...
Firmen sind die neuen Kirchen
Firmen sind die neuen Kirchen. Hier werden wir, als Mitarbeiter wie als Kunden, mit einem höheren Daseinszweck versorgt, mit Sinn und Leidenschaft. Wir dürfen uns einem größeren Ganzen zugehörig fühlen, das einem gemeinsamen guten Ziel dient, angeleitet von verantwortungsvollen Führungskräften, die uns mit ihren Visionen den Weg weisen. Die Sorge um die Seele, früher Sache von Kirche und Familie, ist auf die Firmen übergegangen.
Interessanterweise kommt die weiche Welle gerade jetzt über uns, da die Zeiten härter werden. Im entfesselten globalen Wettbewerb wird der Faktor Arbeit vom Faktor Kapital verdrängt, was Arbeitnehmer sehr konkret zu spüren bekommen: Weniger Arbeitsplatzsicherheit, höhere Arbeitsbelastung, sinkende Realeinkommen. Während wir etwas verängstigt dieser "Purifizierung des Kapitalismus" beiwohnen, findet nun vor unseren Augen diese wunderbare Metamorphose statt. Gerade wo die Forderungen der Unternehmen nach Abbau gesetzlicher Entlassungshemmnisse immer aggressiver werden, sehen sich Belegschaften immer häufiger als "Gemeinde" angesprochen. Je mehr der Geist der Firmen de facto von der Mechanik der Geldvermehrung geprägt wird, desto menschlicher wird ihr Antlitz.
It's the Profit, Stupid!
Aber schreien wir nicht allzu voreilig Verrat. Sind es nicht wir selber, die sich den Bären aufbinden lassen? Natürlich wissen wir - und nicht erst seit der Enron-Pleite - dass die von den Firmen ausgestellten hohen Ideale nichts als eine Selbstvermarktungs-Masche sind. Natürlich wissen alle Beteiligten, dass es bei der Veranstaltung, die sich Wirtschaft nennt, am Ende um die Zahl unter dem Strich geht. Und dass auch keine noch so neue Economy irgendetwas an dieser Spielregel geändert hat. It's the Profit, Stupid.
Manager-"Magier" Kenneth Lay: Visionen an Untergebene vermitteln
Warum wirkt der Zauber trotzdem? Weil der moderne Mensch, trotz aller Bekenntnisse zu Rationalität und Diesseitigkeit, weiterhin ein zutiefst irrationales Wesen ist. Und je weiter er fortschreitet auf seinem Weg der Individualisierung, umso mehr hat er an den Folgen dieses "Fortschritts" zu tragen. Körper und Geist jubilieren über die gewonnenen Freiheiten, aber die Seele ächzt unter der Vereinzelung. Zwischenmenschliche Beziehungen, ob in Familie oder Nachbarschaft, sind immer weniger verlässlich, Traditionen, Kirche und Religion geben keinen Halt mehr. Der moderne Mensch hat Haus und Hof verlassen und muss nun als "spirituell Obdachloser" um einen Platz in der Welt kämpfen.
Nur noch in unseren Rollen als Produzenten und Konsumenten haben wir sicheres Terrain unter den Füßen. Einen letzten Rückzugsort, in den wir dann auch noch unsere innigsten Sehnsüchte reinpacken - nach Liebe, Sinn und höherer Berufung. Begierig wollen wir uns mit unserer Arbeit "identifizieren", mit Haut und Haar in ihr aufgehen und sind nur zu gerne bereit, Zweifel am tieferen Sinn des ganzen Gerennes zurückzustellen. Lieber verklären wir das Ziel und rennen weiter.
Was wäre, wenn wir anhalten würden?
Was wäre, wenn wir anhalten würden? Vielleicht würden wir nie wieder los rennen wollen? Vielleicht würden wir anfangen zu staunen über die Leichtfertigkeit, mit der wir die Ziele irgendwelcher "Visionäre" und "Magier" zu den eigenen Lebenszielen gemacht haben. Vielleicht würde uns die Ahnung streifen, dass wir mit unserem Engagement für die Firma nicht zwangsläufig die Menschheit erlöst, sondern schlichtweg etwas verkauft haben - darunter möglicherweise sogar so manches Überflüssige. Vielleicht würde uns ein Schmunzeln befallen über die Tragikomik, mit der der moderne Sinnsucher sich eine humanitäre Mission vorspiegeln lässt, wo der Auftrag schlicht "mehr Kohle" heißt...
Und vielleicht würden wir am Ende von Herzen lachen, wenn wieder einmal die Karawane der Visionäre los zieht - in ihre nächste "New Economy", zur nächsten "globalen Herausforderung" zum höheren Wohl der Menschheit. Wir würden womöglich noch ein bisschen winken, und uns dann unserer eigenen Reise zuwenden - unseren vielleicht etwas verwirrenden und vielstimmigen, vielleicht nicht einmal besonders spektakulären, aber dafür echten, ja... Visionen.
Ulrich Renz, Jahrgang 1960, ist Arzt und Ex-Manager eines deutschen Medienkonzerns. Seit 1998 ist er freier Schriftsteller. Letzte Buchpublikation: "Die Kunst, weniger zu arbeiten" (zusammen mit Axel Braig) im Argon Verlag, Berlin, 2001. Mehr Infos: www.arbeitswahn.de
Keiner kann mehr "nein" sagen, weil man den Rückhalt nicht mehr haben wird, der früher das Leben ermöglicht hat: Familie und Bargeld, oder: wenn man es aus der Perspektive der Staatsmacht sieht: mafiöse Strukturen.
Die Firma wird zur Ersatzfamilie und bei kritischen Entscheidungen wird man zum willigen Erfüllungsgehilfen, weil einem sonst nichts bleibt ( wir wundern uns heute über die KZ-Schergen, aber das Prinzip ist dasselbe).
Viel Spaß beim Nachdenken.
Von Ulrich Renz
Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten. Im entfesselten globalen Wettbewerb geben sich die Konzerne als Sinn stiftende Institutionen, die dem entwurzelten Individuum Geborgenheit und Lebenszweck versprechen. Je mehr der Geist der Firmen von der Mechanik der Geldvermehrung geprägt wird, desto menschlicher wird ihr Antlitz.
"Wir wollen eine Umgebung schaffen, die von Würde und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Andere behandeln wir so, wie wir selbst behandelt werden wollen. In unserer Zusammenarbeit ... sind wir offen, ehrlich und aufrichtig"
Enron-Zentrale in Houston, Texas: Firmen sind die neuen Kirchen
Haben wir hier die Satzung des internationalen Pfadfinderbundes vor uns? Ein Traktat einer pietistischen Erweckungsbewegung? Nein. Die schönen Worte stammen aus dem letzten Jahresbericht des amerikanischen Energiekonzerns Enron, Kapitel "Unsere Werte". Hier, ein paar Seiten nach den "Financial Highlights", dürfen wir einen Blick in die Seele des Unternehmens tun. Wir lernen eine Belegschaft kennen, die auf dem Urgrund unumstößlicher menschlicher Werte steht, und von da aus tagtäglich aufbricht, "um über den Horizont hinauszuschießen", wie sich Firmenchef Kenneth Lay, den sie auch den "Magier" nannten, gerne ausdrückte.
Enron ist nicht die erste Firma, die erkannt hat, dass Mitarbeiter ihre Arbeit nicht als bloßen Broterwerb sehen wollen, sondern als Aufgabe mit tieferer Bedeutung. Nicht nur das Konto, sondern auch die Seele soll glücklich werden. So ist das Motto: "Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten" schon länger zum obersten Grundsatz moderner Mitarbeiterführung aufgestiegen. Kaum eine Firma von Rang und Namen, die nicht ein "Mission Statement" erstellt hätte, eine Art feierliche Selbstverpflichtung auf gemeinsame ethische Grundsätze. Wo Firmen früher schlicht einem "Geschäftszweck" nachgingen, haben sie heute eine Sendung. Die Belegschaft wird zu einer großen Glaubensgemeinschaft zusammengeschweißt, die freudig erregt den "Visionen" der Geschäftsleitung folgen soll.
Ein Begriff mit Sex Appeal
Wie bitte - Visionen? Waren das nicht diese übersinnlichen Erscheinungen, von denen einstmals Heilige, Häretiker und Hippies heimgesucht wurden? Heute ist "Vision" ein Begriff mit Sex Appeal, der gerade von den als besonders rational geltenden Managern gerne im Munde geführt wird. Visionen an die Untergebenen zu vermitteln ist nun ihre wichtigste Aufgabe. So regnet es in Seminaren, Klausuren, Workshops, Motivationswochenenden, Trainingscentern und Incentive-Veranstaltungen Visionen wie Manna vom Himmel. Als "Visionär" zu gelten ist für eine Führungskraft das höchste Kompliment, der "Mangel an Visionen" ein Kündigungsgrund.
Glauben macht nun einmal selig. Und diese Glaubensseligkeit soll auch dem Kunden zuteil werden. Aus Hochglanz-Anzeigen und Fernsehspots schwappt uns neuerdings eine Flut von Sinnsprüchen entgegen, mit denen die Firmen uns von ihrem höheren Daseinszweck überzeugen wollen: "The Power of Dreams." (Honda), "The Future. Together. Now." (Axa), "Making the world a better place..." (Ford). Wem liefe bei so einer frohen Botschaft nicht ein heiliger Schauer über den Rücken? Fast wundert man sich, dass die früher so viel kritisierten "Multis" noch nicht Gemeinnützigkeitsstatus beantragt haben.
Enron-Logo: Zusammengeschweißt zur großen Glaubensgemeinschaft
Die "Kommunikations"-Abteilungen der Konzerne sorgen dafür, dass wir Firmen nicht mehr als banale Subjekte des Wirtschaftslebens auffassen, sondern als in höheren Sphären beheimatete Wesenheiten, die Heil und Zukunft der Menschheit hüten und befördern. Geschäftsberichte lesen sich heute wie Erbauungsliteratur des 19. Jahrhunderts. Von "Shareholder-Value", von den Firmen noch vor wenigen Jahren lautstark als oberstes Firmenziel verkündet, ist heute nur noch in dem Kapitel "Investor Relations" die Rede. Für die breiteren Schichten setzt man jedoch ganz auf die Programmatik der großen Emotionen. So mutierte John Lennons Lied "Imagine", die Sehnsuchtsmelodie einer ganzen Generation auf der Suche nach spiritueller Wahrheit, zur Erkennungsmelodie eines Energieunternehmens. Eines Atomkonzerns, wenn man es genau nimmt, aber was tut das zur Sache, solange das "Feeling" stimmt...
Firmen sind die neuen Kirchen
Firmen sind die neuen Kirchen. Hier werden wir, als Mitarbeiter wie als Kunden, mit einem höheren Daseinszweck versorgt, mit Sinn und Leidenschaft. Wir dürfen uns einem größeren Ganzen zugehörig fühlen, das einem gemeinsamen guten Ziel dient, angeleitet von verantwortungsvollen Führungskräften, die uns mit ihren Visionen den Weg weisen. Die Sorge um die Seele, früher Sache von Kirche und Familie, ist auf die Firmen übergegangen.
Interessanterweise kommt die weiche Welle gerade jetzt über uns, da die Zeiten härter werden. Im entfesselten globalen Wettbewerb wird der Faktor Arbeit vom Faktor Kapital verdrängt, was Arbeitnehmer sehr konkret zu spüren bekommen: Weniger Arbeitsplatzsicherheit, höhere Arbeitsbelastung, sinkende Realeinkommen. Während wir etwas verängstigt dieser "Purifizierung des Kapitalismus" beiwohnen, findet nun vor unseren Augen diese wunderbare Metamorphose statt. Gerade wo die Forderungen der Unternehmen nach Abbau gesetzlicher Entlassungshemmnisse immer aggressiver werden, sehen sich Belegschaften immer häufiger als "Gemeinde" angesprochen. Je mehr der Geist der Firmen de facto von der Mechanik der Geldvermehrung geprägt wird, desto menschlicher wird ihr Antlitz.
It's the Profit, Stupid!
Aber schreien wir nicht allzu voreilig Verrat. Sind es nicht wir selber, die sich den Bären aufbinden lassen? Natürlich wissen wir - und nicht erst seit der Enron-Pleite - dass die von den Firmen ausgestellten hohen Ideale nichts als eine Selbstvermarktungs-Masche sind. Natürlich wissen alle Beteiligten, dass es bei der Veranstaltung, die sich Wirtschaft nennt, am Ende um die Zahl unter dem Strich geht. Und dass auch keine noch so neue Economy irgendetwas an dieser Spielregel geändert hat. It's the Profit, Stupid.
Manager-"Magier" Kenneth Lay: Visionen an Untergebene vermitteln
Warum wirkt der Zauber trotzdem? Weil der moderne Mensch, trotz aller Bekenntnisse zu Rationalität und Diesseitigkeit, weiterhin ein zutiefst irrationales Wesen ist. Und je weiter er fortschreitet auf seinem Weg der Individualisierung, umso mehr hat er an den Folgen dieses "Fortschritts" zu tragen. Körper und Geist jubilieren über die gewonnenen Freiheiten, aber die Seele ächzt unter der Vereinzelung. Zwischenmenschliche Beziehungen, ob in Familie oder Nachbarschaft, sind immer weniger verlässlich, Traditionen, Kirche und Religion geben keinen Halt mehr. Der moderne Mensch hat Haus und Hof verlassen und muss nun als "spirituell Obdachloser" um einen Platz in der Welt kämpfen.
Nur noch in unseren Rollen als Produzenten und Konsumenten haben wir sicheres Terrain unter den Füßen. Einen letzten Rückzugsort, in den wir dann auch noch unsere innigsten Sehnsüchte reinpacken - nach Liebe, Sinn und höherer Berufung. Begierig wollen wir uns mit unserer Arbeit "identifizieren", mit Haut und Haar in ihr aufgehen und sind nur zu gerne bereit, Zweifel am tieferen Sinn des ganzen Gerennes zurückzustellen. Lieber verklären wir das Ziel und rennen weiter.
Was wäre, wenn wir anhalten würden?
Was wäre, wenn wir anhalten würden? Vielleicht würden wir nie wieder los rennen wollen? Vielleicht würden wir anfangen zu staunen über die Leichtfertigkeit, mit der wir die Ziele irgendwelcher "Visionäre" und "Magier" zu den eigenen Lebenszielen gemacht haben. Vielleicht würde uns die Ahnung streifen, dass wir mit unserem Engagement für die Firma nicht zwangsläufig die Menschheit erlöst, sondern schlichtweg etwas verkauft haben - darunter möglicherweise sogar so manches Überflüssige. Vielleicht würde uns ein Schmunzeln befallen über die Tragikomik, mit der der moderne Sinnsucher sich eine humanitäre Mission vorspiegeln lässt, wo der Auftrag schlicht "mehr Kohle" heißt...
Und vielleicht würden wir am Ende von Herzen lachen, wenn wieder einmal die Karawane der Visionäre los zieht - in ihre nächste "New Economy", zur nächsten "globalen Herausforderung" zum höheren Wohl der Menschheit. Wir würden womöglich noch ein bisschen winken, und uns dann unserer eigenen Reise zuwenden - unseren vielleicht etwas verwirrenden und vielstimmigen, vielleicht nicht einmal besonders spektakulären, aber dafür echten, ja... Visionen.
Ulrich Renz, Jahrgang 1960, ist Arzt und Ex-Manager eines deutschen Medienkonzerns. Seit 1998 ist er freier Schriftsteller. Letzte Buchpublikation: "Die Kunst, weniger zu arbeiten" (zusammen mit Axel Braig) im Argon Verlag, Berlin, 2001. Mehr Infos: www.arbeitswahn.de