Bei den weiteren Übungen sah Gertrud vor allen Dingen darauf, daß wir beim Gehen die Hüften straff gespannt hielten. Wenn eins sich in den Hüften gehen ließ oder gar einknickte, bekam es eins hinten auf. Sie sagte, man dürfe beim Gehen keinen Boden mehr unter den Füßen fühlen, man dürfe seine Beine überhaupt nicht mehr spüren, man dürfe nur noch fühlen, daß man Hüften habe. Die Hüften, das sei der Mittelpunkt; der müsse unbeweglich und ruhig bleiben. Aber alle anderen Bewegungen im Oberkörper sowohl wie in den Beinen bis in die Zehenspitzen müßten von den Hüften ausgehen und von ihnen aus gewollt und dirigiert werden. Sie selber war in dieser Beziehung ein wahres Muster. Wenn man sie auf sich zukommen sah, hatte man gar nicht mehr die Empfindung, daß sie einen Körper von einer gewissen Schwere hatte. Man sah nur Formen. Und auch die Formen vergaß man beinahe über der Schönheit der Bewegung. Anderen Menschen gegenüber erschien sie mir immer wie etwas, was ich mir nur in meiner Phantasie gedacht und was in Wirklichkeit gar nicht existierte. Manchmal zwinkerte ich mit den Augen, um zu sehen, ob sie nachher noch da war. Übrigens merkte ich schon damals, daß alle diese Übungen uns Mädchen viel leichter wurden als den Knaben, die nie über ihre Extremitäten wegkamen. Und wenn einige von uns Mädchen so sehr breite Hüften bekamen, so bin ich fest überzeugt, daß das nur daher rührt, daß wir gewissermaßen mit den Hüften denken lernten.
Simba war groß und dabei schlank wie ein Faden, aber weder Rippen noch Sehnen waren an ihrem Körper bemerkbar. Ich starrte sie an und hatte ein ähnliches Gefühl wie damals in jener Nacht, als ich von Morni träumte. Die Art und Weise, wie sie ihren Körper dehnte, wie sie sich in den Weichen hob und senkte, das wonnige Behagen, mit dem sie ihre Achseln zurücksinken ließ, die süßliche Trägheit ihrer schlaffen Glieder, die Geschmeidigkeit ihres Leibes, die Lust, mit der sie selbst sich ihres Körpers bewußt zu werden schien und die in jeder leisen Bewegung wieder zum Ausdruck gelangte, alles das berauschte, betörte, übermannte mich derart, daß ich zwei Tage wie im Halbschlummer umherging und, wohin ich sehen mochte, nur ihr Bild vor mir hatte.
Und dann das Kostüm. Das sehe ich heute noch und kann es nicht fassen, daß ich das wirklich mit Augen gesehen habe. Und das mit sieben Jahren, wo die Welt noch so gut wie unbemerkt an einem vorübergeht. Wie war das möglich. Übrigens habe ich derartige Wunderwerke von Schönheit und Sinnenreiz aus meinen reiferen Lebensjahren nicht mehr zu notieren. Sie hören auf in meiner Erinnerung mit dem Augenblick, wo ich aufhörte, Kind zu sein. Hatte ich die Augen dafür verloren, oder waren es die Aufregungen, Not und Leidenschaft, die mir die zu derartigem Genuß notwendige Ruhe raubten; oder habe ich mir schließlich die menschliche Schönheit in so hohem Maße zum Genuß werden lassen, daß sie aufhörte, mir noch als etwas besonders Begehrenswertes aufzufallen? Ich weiß es nicht.
Ihr üppiges, weniges, rabenschwarzes Haar trug Simba tief über die Schläfen herab und im Nacken in einen dichten Knoten geknüpft. Sie hatte langgezogene, schlangenförmige Brauen, eine feine, feine Nase und das schmerzlichste und zugleich süßeste Lächeln auf den Lippen, das ich je gesehen habe. Dann erinnere ich mich auch noch ihrer Zungenspitze, die manchmal wie ein Feuersalamander herauszuckte.
Um die schmale, schlanke Brust und die feinen Schultern trug sie ein enganliegendes Netzwerk aus dicken dunkelgrünen Glasperlen, in der Art eines Mieders, das aber ihre zarten Brüste vollkommen frei ließ, indem es beide mit großen Ringen einfaßte, deren Perlen um einiges dicker waren als die des übrigen Netzes. An den Beinen trug sie weißseidene Trikots und darüber ein Beinkleid, nur von den Hüften bis zur Mitte der Schenkel reichend, aus buntem türkischen Seidenstoff in hellen Farben; gelbe, rote und weiße senkrechte Streifen nebeneinander, oben zu einem bauschigen, schräggestreiften Gürtel umgelegt, um den Leib anschließend, aber nach unten gerade geschnitten und reichlich weit, so daß die schlanken, weißen Beine frei heraustreten. Ihre Füße steckten in weichen, niedrigen, weitausgeschnittenen schwarzen Schuhen. Und über alles das trug sie einen Mantel aus hellgelbem Wollstoff, rot verbrämt, vorn von oben bis unten offen, nur in der Taille, die er eng umschloß, von einer Agraffe zusammengehalten, im Nacken ein schmaler spitzer Ausschnitt bis auf den Gürtel hinab, die Ärmel bis über die Achseln hinauf geschlitzt, schmal und nach unten spitz zugeschnitten, rot ausgeschlagen, als Hintergrund für die brünetten, feinen Arme. Nicht wenig überrascht war ich, unter ihren Achseln, als sie die Arme hob, zwei dichte Büschel braunschwarzer Haare zu sehen. Es war mir das weder bei Naema noch bei Gertrud jemals aufgefallen. (minnehaha v.f. wedekind)