Eine Geschichte für die Nachtschwärmer

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Eine Geschichte für die Nachtschwärmer

 
29.04.01 01:35
Katurk und Llewellyen
oder
Jenseits der Großen Sümpfe

Jenseits der großen Sümpfe, eine halbe Jahresreise von allem entfernt, was sich ein Dorf nennen konnte, lebte Katurk. Er wußte nicht, woher er kam, er wußte nicht, wieso er hier lebte, er wußte nur, daß er mit einem Mann, den er Vater nannte, hier gelebt hatte. Seit er gestorben war, lebte er allein in einer kleinen Hütte aus Schilf, die auf einer kleinen Insel inmitten des Flusses stand. Die Küste war nicht weit, aber es waren hohe Klippen, so daß man kaum zum Meer herunterkonnte, es sei denn, man kannte den Weg, den Katurk kannte.
Katurk konnte sich an nichts vor seinem zehnten Lebensjahr erinnern, aber er dachte, das sei auch ganz gut so.
Gegen die Laufrichtung des Stroms kam man zu den Großen Sümpfen, die Katurk einmal in seinem Leben ganz durchquert hatte. Als er am anderen Ende war und in näherer Entfernung - vielleicht ein oder zwei Tagesreisen - ein kleines Dorf liegen sah, wendete er sein Boot und fuhr zurück: In das Dorf wollte er nicht, um keinen Preis.
Das war schon lange her gewesen, und Katurk war jung damals, die Arbeit ging ihm leicht von der Hand. Nun wurde der Tag immer kürzer für ihn, die Arbeit immer mehr. Als er sein Spiegelbild im Wasser sah, wollte er es nicht glauben:
Katurk war alt geworden. Er wußte, was er zu tun hatte, ohne daß er wußte, woher er dieses Wissen hatte. Er sammelte alles zusammen, was er für eine lange Reise brauchte, besserte sein Boot aus und machte sich auf den Weg.

Er stakte durch die Großen Sümpfe, langsam, Stocklänge für Stocklänge. Und sein Stab vergammelte und brach, und Katurk warf ihn weg und suchte einen neuen. Und der Proviant ging Katurk aus, und von da an lebte er von Moosbeeren, Fischen und erlegten Vögeln, wie er es zu Hause auch tat. Und ein halbes Jahr ging vorbei, der ganze Sommer mit seinen Mückenschwärmen, die Katurk nicht scherten, dem hohen, pfeifenden Rohr, das Katurk vorsichtig umschiffte, und den langen, im Wasser liegenden Algenmatten, die sein Boot zerpflügte. So kam er, nach den langen Tagen der Wanderung, ans andere Ende der Großen Sümpfe.
Er sah das kleine Dorf von einstmals dort liegen und schüttelte den Kopf. Es war noch immer ein Dorf, nur wunderlich verändert nach der neuesten Mode dieser Menschen, mit gepflasterten Straßen und Wirtschaftsschildern. Es war 30 Jahre her, daß Katurk das Dorf auch nur gesehen hatte, aber in seinem Kopf war es genau das gleiche geblieben.
Die Menschen blieben stehen, starrten ihn an , tuschelten über ihn und zeigten mit dem Finger auf das Boot, alle redeten und redeten.

Katurk sagte niemals ein Wort, wenn es nicht notwendig war. In Wirklichkeit hatte er die meisten Wörter schon vergessen. Das Wort, das er zuletzt gesagt hatte, war "nein" gewesen, und er hatte es damals gesagt, als er vor 30 Jahren dem Dorf den Rücken kehrte und zurückfuhr. Er rief sich immer wieder dieses letzte Wort in den Sinn, bedachte dessen Aussprache, er träumte sogar davon. Es war ein unnötiges Wort gewesen.
Im Dorf kaufte Katurk die Lebensmittel, von denen er wußte, was es war und wie es schmeckte, und einen Mantel für den Winter ( den bekam er geschenkt, von der einzigen Frau mit mitleidigem Blick im ganzen Dorf, und zu ihr sagte er "Danke". Es war das erste Wort, das er seit 30 Jahren sprach. Die Frau hatte sich sehr erschrocken und grüßte ihn jetzt, wenn die ihn auf der Straße sah.).

Katurk blieb vier Tage im Dorf. Während dieser Zeit schlief er in seinem Boot, und nicht in einer Pension oder Wirtschaft mit Leuten, denen er nicht vertraute.
Am Morgen des fünften Tages, als es noch dunkel war und keiner der Bewohner des Dorfes erwacht, fuhr Katurk davon, weiter gegen die Richtung des Stroms. Er wollte zur großen Stadt, die zwei bis drei Tage entfernt lag. Dort würde er finden, was er suchte.
Katurk kannte den Unterschied zwischen der Stadt und dem Dorf nicht genau, und in seinem Kopf benutzte er auch dasselbe Wort dafür. "Häuser" war die Stadt, "Häuser" war das Dorf. Seine Hütte war nicht "Häuser" sondern "zu-hause", und er überlegte, während er in die Stadt stakte, was "zu-hause" mit "Häuser" zu tun haben könnte, aber er kam nicht darauf. Es war schon sehr lange her, daß Katurk über anderes nachgedacht hatte als über die nächste Mahlzeit, die nächste Arbeit, den nächsten Schritt.
In der Stadt waren die Menschen genauso wie im Dorf. Tuscheln und die Augen senken, wenn er vorüberging, war, was er von ihnen mitbekam. Er ging durch die Straßen, die Sonne im Rücken, und er kannte den Weg.
Er wußte nicht woher; die Erinnerung an genau diese Straße war gerade in sein Herz gekommen. Er kannte auch alle anderen Straßen, die von dieser abzweigten, er erinnerte sich an das Muster, das der Sonnenuntergang auf das Pflaster malte. Er ging weiter, und zum ersten Mal seit zahllosen Zeiten lächelte Katurk: Er hatte das Glück des Erinnerns erfahren. Sein Gesicht, das einem unerfahrenen Beobachter stets den gleichen Ausdruck zeigte, wirkte verzerrt und in lederne Falten geworfen, und ein paar Kinder, die noch mit ihren Eltern auf der Straße gingen, erschraken sich gewaltig, eines fing sogar an zu weinen.

Nach ein paar bekannten Schritten, die in Katurks Herz auf ewig festgehalten waren, erreichte er die Pension. Er trat ein, und es war 30 Jahre her, daß er ein anderes Haus betrat als sein eigenes.
Die Pension war alt und verfallen, und es schien, als habe sie seit ebenso langer Zeit keine Gäste mehr empfangen.
Darinnen war ein behagliches Halbdunkel, das Katurks Grinsen zu einem ertragbaren Lächeln minderte.
Das Alter in Katurks Gesicht schien von der Person abgefallen zu sein, als er an den Thresen trat und mir der Rechten vorsichtig an die uralte, silbern angelaufene Glocke stieß. Ein helles "Ding" durchflog den Raum und ließ sich auf der Schulter einer alten Frau nieder, die wie hingezaubert plötzlich aus dem Türrahmen erschien. Sie sah aus, als werde sie mit der nächsten Bewegung in abertausend kleine Stücke zerbrechen. Sie sah das leise Lächeln des Katurk und hob die Hand zu einer seltsamen Gebärde. "Du bist Katurk, der Grüne ",sagte sie langsam, und Katurk nickte, obwohl er den Sinn nicht begriff. Lange sah ihn die alte Frau an, und Katurk hatte das Gefühl, daß sie ihn einer Prüfung unterzog.
"Du bist uns willkommen, Katurk", sagte sie dann, "du darfst hier wohnen." - "Danke", erwiderte Katurk, und es hörte sich an wie das Knarzen eines alten Baumes.
Die alte Frau lächelte, und so standen sie sich gegenüber, lächelnd, alt, unsichtbar im Dunkel: Er versteckt in der unendlichen Leere des Landes, und sie verborgen in der verwirrenden Fülle der Stadt.

"Du wirst Vorbereitung brauchen", sagte sie langsam, und Katurk nickte dazu.

Während des ganzen Winters wohnte Katurk mir der alten Frau im Haus, und so nannte er es auch. Das Im-Haus war groß, größer, als es erschien. Eingequetscht zwischen zwei behäbigen Bauernhäusern des alten Stadtkerns wirkte es wie eine halbverfallene Bretterbude. War man aber darinnen, gab es eine Vielzahl von langen, beleuchteten Gängen in alle Richtungen, in denen sich Tür an Tür, Zimmer an Zimmer reihte, und Katurk bewohnte sie ringsum. Er bemerkte nie einen Unterschied zwischen ihnen, außer in der Farbe: Sie hatten wundervolle Farben, und immer andere. Katurk half der alten Frau, und sie half ihm, langsam, und auf eine beinah nicht zu bemerkende Weise.
Katurk half in der Küche, putzte, richtete das Haus und tat alles, was die alte Frau sagte.

Sie aber erklärte ihm die Notwendigkeit, sich zu bekleiden; und sie übte mit ihm die Worte, die er noch kannte, und sie erklärte ihm die Worte, die er vergessen hatte. Sie zeigte ihm die Notwendigkeit, sich zu waschen und die Kleider zu wechseln, aber sie sprach nie mit ihm, wenn er es nicht tat. So lebten sie den ganzen Winter lang, und sie lebten gut.
Der Winter aber ging dem Ende zu, und es wurde Zeit für Katurk, zu gehen und die Aufgabe zu vollenden, wegen der er hergekommen war. Er merkte es an der Art, wie die Schneeflocken nicht fielen und der verbleibende Schnee zu Matsch wurde, er merkte es am Himmel, der morgens nicht mehr grau am Fenster klebte, sondern auch ab und zu einen fahlen Sonnenstrahl hindurchließ; und er merkte es am Im-Haus. Zuerst waren nur wenige Türen verschlossen gewesen, dann mehrere, schließlich ein Gang, zwei Gänge und so fort. Je mehr Katurk lernte und je mehr es Frühling wurde, umso mehr Türen waren abgeschlossen oder einfach verschwunden, bis schließlich nur noch ein kleiner, alter Gang zurückblieb, in dem sich eine Tür öffnen ließ, daß heißt, sie war eigentlich immer offen, denn diese Tür war aus dem Rahmen gefallen.
Dieses Zimmer bewohnte Katurk, bis warme Winde den Schnee tauen ließen und Regen ins Land brachte, und er schloß es in seine Herz, tiefer als vieles andere, mit dem er sein Leben lang umgegangen war. Dies war sein Im-zu-Hause; und hier sprach er mit der alten Frau, über alle Dinge, die es auf der Welt gab, von den neuesten Erfindungen und den Verrücktheiten der Stadt, über die Existenz von Drachen bis hin zu grundlegenden Fragen der Philosophie. Und Katurk flogen die Worte zu, so viele hatte er noch nie gekannt, so viel noch nie gewußt; und er wußte auch: Jetzt war es Zeit.
Als er am Morgen nach dem Waschen in sein Zimmer kam, um sich anzukleiden, war jene letzte Tür zu "seinem" Zimmer verschwunden, und er besaß wieder genausoviel wie damals, als er hergekommen war.
Stillschweigend ging er zu der alten Frau und sagte ihr mit einem einzigen Blick, was geschehen war. Sie nickte, drehte sich um und holte aus dem Schrank genau jene Kleidung, die Katurk hatte anziehen wollen, und Katurk nahm sie, ohne zu fragen.
Er reichte ihr die Hand, und so standen sie eine lange Weile, ohne daß ein Wort das Gespräch zwischen ihnen störte. Dann ging Katurk aus dem Im-Haus, und er tat es in dem Bewußtsein, es nie wieder betreten zu können.
Die nächsten Nächte, die allesamt mild und regnerisch waren, verbrachte er als Penner unter Brücken mit anderen Pennern, die auch kuriose Geschichten zu erzählen hatten.

Und langsam gehörte Katurk zu den Berbern, wie sie selbst sich nannten, und nie sagte er ein Wort, wenn es nicht notwendig war. Darum erhielt er von ihnen den Namen E-tain, das heißt "Der Stille". Viele der Berber wollten nicht mit ihrem richtigen Namen angeredet werden, denn die Erinnerung daran verband sie mit dem Netz der Stadt, die auch sie einmal bewohnt hatten, und durch dessen Maschen und Webfehler sie gefallen waren. Sie wollten ihren Namen als einen Guten behalten und dieses Leben mit einem anderen Namen führen. Katurk E-tain verstand sie; und er hörte allen zu.
Sein besonderes Augenmerk aber galt nicht den Alten: sondern den Jungen, denen, die nicht älter waren als 10 Jahre und doch schon fast alles verloren hatten. Es gab sehr viele, und Katurk beobachtete sie alle.
Viele Male schüttelte er den Kopf über ihre Zahl, und durch sie verstand er den Unterschied zwischen Stadt-"häuser" und Dorf-"häuser": In dem Dorf, das er kannte, wäre ihre Zahl niemals so groß geworden, aber in der Stadt fand sich kaum eine einzelne Seele, die sich um sie kümmerte.

Und als es langsam, aber sicher Sommer wurde, hatte Katurk einen Jungen gefunden. Das Sonnenlicht des Morgens rann durch seine Haare, die Farbe des Feuers hatten, und ließ die grünen Augen wie die einer Katze schimmern.
Er fiel Katurk auf, weil er - im Gegensatz zu allen anderen - eine der üblichen Raufereien zu schlichten versuchte anstatt sie anzufeuern. Katurk erhob sich und verscheuchte die übrigen Kinder mit ein paar Handbewegungen, ihn aber hielt er fest.
Zuerst wollte er sich herauswinden, und seine grünen Augen starrten ängstlich, doch Katurks milde braune Blicke beruhigten ihn. Schließlich sagte Katurk "Hallo". Der Junge schnüffelte, schüttelte den Kopf und sagte: "Du riechst nicht nach Schnaps, alter Mann. Warum hast du das also getan ? Laß mich gehen !"
"Ich möchte mit Dir reden," sagte Katurk, " Ich bitte Dich zu bleiben. Es wird nicht sehr lange dauern." Zögernd nickte der Junge. Katurk ließ ihn los, setzte sich auf den sonnenbeschienenen Rinnstein und fragte: "Wie ist dein Name?"
"Llewellyen," erwiderte dieser, und setzte sich neben ihn. "Und wie ist dein Name, alter Mann ?"- "Mein Name ist Katurk. Ich komme von weither. In der Entfernung von vier Tagesreisen beginnen die Großen Sümpfe, und ich lebe jenseits der Großen Sümpfe auf einer Insel im Fluß. Mein Zuhause ist aus Schilf, mein Bett ist aus Schilf, und mein Boot ist aus Schilf. Ich werde bald dorthin zurückkehren, und wenn Du es wünschst, darfst Du mich begleiten."
Und Katurk erzählte vom Leben im Schilf, von der Arbeit und der Insel, von dem Meer und dem Fisch, den Sonnenuntergängen und dem Zirpen der Grillen im Rohr.
Viele Stunden lange erzählte er, und als er alles erzählt hatte, was ihm wichtig schien, wiederholte er sein Angebot: Llewellyen dürfe mit ihm kommen, wenn er es wolle. - "Du schlägst etwas vor, daß Dir keinen Nutzen bringt, alter Mann," antwortete Llewellyen ruhig. "Warum solltest Du so etwas tun ? Du bist entweder verrückt, oder es ist ein Haken dabei; ich traue Dir nicht." - "Laß mich erklären," sagte Katurk geduldig, "ich biete Dir ein neues Leben. Für den Fall, daß Dir dieses nicht gefällt. Ich brauche einen, der mir nachfolgt, sonst verfällt mein Haus und mein Boot verrottet. Ich habe nicht viel, aber ich würde es mit Dir teilen."
Der Junge war zunehmend nachdenklicher geworden. "Warum ich ?" fragte er schließlich. Katurk lächelte langsam. "Ich habe in Dein Herz gesehen. Ich habe gefunden, daß es gut ist. Auch mein Vorfolger hat mich damals so gefunden. Ich möchte, daß Du dich entscheidest. In drei Tagen werde ich abfahren, wenn ich mein Boot ausgebessert habe. Sage ja, und Du kannst nicht mehr zurück. Sage nein - und lebe hier."
Damit stand Katurk auf und ging davon, und der Junge Llewellyen saß noch eine ganze Weile verwundert auf dem Rinnstein, bis ihn ein ehrbarer Bürger verscheuchte.
Katurk reparierte sein Boot; es war genau die richtige Zeit dafür. Der volle Mond stand am wolkigen Himmel und das Schilf war zäh und faulte nicht so schnell um diese Zeit, darum riß Katurk geduldig Strähne für Strähne vom Rohr und flickte damit sein Boot.
Eigentlich baute er ein neues, mit dem besten erhaltenen Schilf und den alten Schnüren, und so hatte er es immer getan. Dann suchte er sich eine schöne lange Stakstange und wartete.
Am Morgen des dritten Tages bedeckte Nebel den Fluß, und vom Schein der einzigen Laterne angelockt stand Llewellyen, schmächtig und zitternd am Flußufer. Er hatte sich entschieden und Abschied genommen von der Stadt, von seinen Kameraden: er würde mit Katurk fahren, dessen Worte sein Herz seltsam berührt hatten.
Llewellyen wußte, daß er vielleicht nie mehr in die Stadt zurückkehren würde, und es war ihm recht.
Die Stadt war ein Ort voller Hunger, Abscheu und Scheinheiligkeit; und Llewellyen spürte, daß bei Katurk zumindest die Chance bestand, daß er ein Heim fand, ein Zu-Hause, und nicht bloß "Häuser".
Als Llewellyen ins Licht trat, lächelte Katurk. Er ließ ihn das Boot besteigen, und sie fuhren los. Schweigend versank die Stadt hinter ihnen, stinkend von Abwasser und Müll, und doch blankgewischt und gnädig verdeckt vom Nebel.
Zuerst stakte Katurk, nach Norden, nach Norden. Den Fluß hinunter mit dem Strom bis zum Dorf stakte Katurk, und als die Großen Sümpfe begannen, stakte Llewellyen und Katurk deutete den Weg, und erklärte, welche Wegmarken die richtigen waren: und Llewellyen merkte sie sich alle, nur für alle Fälle.
Zu Anfang sang Llewellyen noch hin und wieder ein Lied, das ihm in den Kopf kam, doch das beharrliche Schweigen Katurks und die Qual der sommerlichen Stechmücken ließen ihn bald verstummen. Llewellyen war ständig von Mücken umschwärmt, er wedelte mit allen verfügbaren Gliedmaßen, doch sie wichen nicht. Es gab Tage, da waren seine Arme schwarz von erschlagenen und auf ihren Verwandten sitzenden Mücken.
Llewellyen beobachtete Katurk, den Seltsamen, und er fand, daß er geduldig die Mückenqual ertrug; und daß die Mücken langsam von ihm abließen, ihn schließlich gar nicht mehr belästigten. Llewellyen dachte darüber nach, und schließlich versuchte er, sich ebenso wie Katurk zu verhalten: Sich so wenig wie möglich zu bewegen.
Dadurch stakte er zwar langsamer, aber da Katurk nichts sagte, konnte es nicht falsch sein. Schließlich waren sie sich ähnlich geworden: Möglichst keine Bewegungen und niemals Worte, ein gleichbleibendes Gesicht, und die Mücken hielten sie für einen fahrenden Baum.
Schließlich hatten sie die Großen Sümpfe durchquert, und dank Llewllyens Kraft und der Gunst des Flusses war nur ein Sommer vergangen. Sie landeten auf der Insel und Llewellyen hatte den Eindruck, sie sei mit nichts bedeckt als einem großen Gebüsch; doch beim Näherkommen grüßte Katurk das Zu-Hause und segnete es.
Tatsächlich konnte Llewellyen, stand er ganz dicht davor, noch die Türöffnung erkennen, das war aber auch alles. Katurk nun fing an, ohne ein weiteres Wort, das Boot zu entladen und das alte Haus zu erneuern und auszubauen: Llewellyen sollte schließlich auch Platz haben. Sie konnten nicht mehr viel von dem alten Schilf gebrauchen, doch der Platz war gut und die Natur erschien ihnen günstig und gütig. Die Sonne beschien ihre Arbeit und tauchte das Moor mit seinen tanzenden Mückenschwärmen in ein goldenes Licht, daß Llewellyen, der doch gerade dieses Moor durchquert und es hundertmal und mehr als Hölle empfunden hatte, stehenblieb und aufsah und dachte, was dies ein wunderschöner Ort sei, der nun sein neues Zuhause war. Und Katurk nickte.
"Ja," sagte er, " die Welt ist ein Paradies. Man muß sie nur aus dem richtigen Blickwinkel betrachten: Von ferne." Und sie gingen wieder an ihre Arbeit, doch Katurk nahm diese Sache zum Zeichen, daß er die richtige Wahl getroffen hatte, mit Llewellyen, dem Roten.
Und Katurk unterrichtete Llewellyen und zeigte ihm alles, was er wissen mußte,
um auf der Insel zu überleben. Er sprach mit ihm viele Worte, daß er sie nicht vergaß, über den Sumpf, über die Menschen und die Herzen der Menschen, über die Insel, die Störche, das Meer und über die ganze Welt. Katurk, den Llewellyen jetzt "Vater" nannte, brachte Llewellyen bei, mit dem Herzen zu sehen und die Welt im Flug zu betrachten, er zeigte ihm den Wechsel der Jahreszeiten und den Kreislauf des Lebens, er erklärte Llewellyen die Welt und ihr Wesen, ihr Fortbestehen und ihren ewigen Tanz, er zeigte ihm das Wesen der Pflanzen und der Tiere.
Und als Llewellyen 14 Jahre alt war, war er weise, denn seine Seele und Katurks waren eins geworden, und sie brauchten keine Worte mehr, um zu reden. Llewellyen wußte um die Botschaften des Vogelfluges, er wußte wie ein Tier oder eine Pflanze zu fühlen, er wußte, wie das Moor dachte und die Mücken, er konnte Steine heben mit der Kraft seines Geistes.
Da legte Katurk eines Abends, als die Sonne wieder einmal das Land golden färbte, seine Hände auf Llewellyens Kopf und sprach die heiligen Worte.
Und er sagte: " Dein Leben war sinnlos an dem Ort, wo du warst. Die Menschen erachteten es nicht für wertvoll. Ich, Katurk E-tain, habe Dir ein neues Leben geschenkt. Dieses nun ist wertvoll und wichtig, wie alles Leben auf Erden. Damit Dich nichts quält und Deine Seele verfärbt, sollst Du, Llewellyen Ka-har, das heißt: Der Rote, dein älteres Leben vergessen. Die Mächte der Vorfahren gewähren Dir diese Möglichkeit. Llewellyen Ka-har, entscheidest Du dich nun, nach der Langen Zeit der Probe, für das Leben eines Meisters ?
Und Llewellyen nickte, und ein sanfter Ruck ging durch seinen Kopf, und er fiel hin und schlief, drei Tage lang. Als er aber erwachte, grüßte ihn Katurk, dann bat er ihn, ihm bei einer Arbeit zu helfen: Und sie bauten ein neues Boot.
Mit Erdfarbe malte Llewellyen einen roten Kreis um den hochgezogenen Bug, und Katurk nickte dazu. Aus Gras und Blätter machte er grüne Farbe, damit bestrich er das alte Boot.
Dann ging Katurk zum Fluß, wusch sich, kehrte zurück und legte Llewellyen die Hand auf die Schulter. "Llewellyen," sagte er, " es ist Zeit, Abschied zu
nehmen: Ich bin alt. Du bist Meister. Du weißt, was ich weiß; Du denkst, was ich denke und Du fühlst, was ich fühle. Erkenne Llewellyen, daß Du ein Meister
bist, und daß es doch mehr Wissen gibt, als Du oder ich je besaßen. Sammle, Llewellyen, denn das ist Deine Aufgabe. Jeder neue Meister weiß ein wenig mehr als der alte Meister. Darum ist es wichtig, daß Du hier bist."
Llewellyen nun verbeugte sich vor seinem Lehrer und sagte: "Vater, soviel Wissen hast Du mir beigebracht, und noch dreimal soviel ist in Deinem Herzen, und Du kannst es mir nicht geben und keinem anderen, denn das Leben hat es dort hinein geschrieben. Ewig werde ich trachten, Deiner Erfahrung gleichzukommen: Doch wird es mir niemals gelingen. Das Wissen mag sich ändern, doch mehr wird es nie."
Da nickte Katurk, und sie standen sehr lang, und hatten die Augen voll Tränen. Schließlich aber ging Katurk, bestieg sein Boot mit dem grünen Streifen und folgte dem Fluß in Richtung zum Moor. Dann wandte er sich in östlicher Richtung und stakte davon, langsam verschwindend, und Llewellyens scharfe Augen glaubten ihn mit seinem Boot zwischen den Wolken am Abendhimmel schweben zu sehen, wie er sich nach Osten zu immer weiter und weiter von der untergehenden Sonne entfernte.
Und Llewellyen lebte lange Jahre allein, und er kannte das Wesen der Büsche und Bäume, der Tiere und des Steins.

Jenseits der Großen Sümpfe, eine halbe Jahresreise von allem entfernt, was sich ein Dorf nennen konnte, lebte Llewellyen. Er wußte nicht, woher er kam, er wußte nicht, wieso er hier lebte, er wußte nur, daß er mit einem Mann, den er "Vater" nannte, hier gelebt hatte. Seit er gestorben war, lebte er allein in einer kleinen Hütte aus Schilf, die auf einer kleinen Insel inmitten des Flusses stand. Die Küste war nicht weit, aber es waren hohe Klippen, so daß man kaum zum Meer herunterkonnte, es sei denn, man kannte den Weg, den Llewellyen kannte. Llewellyen konnte sich an nichts vor seinem zehnten Lebensjahr erinnern, aber er dachte, das sei vielleicht ganz gut so. Gegen die Laufrichtung des Stroms kam man zu den Großen Sümpfen, die Llewellyen einmal in seinem Leben ganz durchquerte. Er sah in näherer Entfernung- vielleicht ein oder zwei Tagesreisen - ein kleines Dorf liegen. Da sagte er, mit tiefer, kehliger Stimme, die die meisten Wörter schon vergessen hatte, ein einziges, unnötiges Wort, "nein", und als die Sonne seine Haare wie eine Flamme tanzen ließ, wendete er sein Boot und fuhr zurück.

So steht es geschrieben, und so ist es geschehn.
 
 
 
 


 

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