Eine Archäologin im Silicon Valley

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Eine Archäologin im Silicon Valley

 
29.03.02 22:03
Christine Finn untersucht die Brutstätte der zweiten industriellen Revolution mit den Mitteln der klassischen Archäologie

Keine Region der Welt hat in den Jahren des Internet-Booms mehr europäische Journalisten angelockt als das Silicon Valley. Hier, so schien es, wurde die Zukunft geschmiedet. Hier, in einem Tal südlich von San Fransisco, lag das Athen unserer Epoche. Kein anderer Ort der Welt war so "hot and happening" wie das Silicon Valley, und wie schon einst beim kalifornischen Goldrausch winkte den Journalisten hier nicht nur die Chance, einen Jahrhundertboom mitzuerleben, sondern auch finanziell an ihm teilzuhaben. Zahlreiche Reporter wurden in den Hochzeiten des Nasdaq-Rausches allein ob ihrer Branchenkenntnis von Venture-Capital-Häusern oder erfolgreichen Internet-Firmen abgeworben und fanden sich so, nur Monate nach ihrer Ankunft im Valley, als Millionäre wieder.

In ihren Berichten aber beschränkten sich die meisten europäischen Journalisten nur auf tagesaktuelle Technologie- und Wirtschaftsthemen, angereichert mit Society-Stories über die dekadenten Partys 20-jähriger Dot-com-Millionäre und die schillernden Eskapaden von Oracle-Boss Larry Ellison. Die Beantwortung der Frage jedoch, wie ausgerechnet dieser Landstrich südlich von San Francisco das Epizentrum der zweiten industriellen Revolution werden konnte, erschöpfte sich dabei fast immer im selben Klischee von Amerika als dem wurzel- und geschichtslosen Land angeblich unbegrenzter Möglichkeiten. Ein Klischee, an dem die europäische Berichterstattung über die USA schon seit Jahrzehnten gerne festhält. Umso erfreuter wird im Valley deshalb nun das Buch der britischen Wissenschaftlerin Christine Finn aufgenommen, die die schnelllebige Region ein Jahr lang mit dem ortsfremden Zeitgefühl und dem Geschichtsbewusstsein einer europäischen Archäologin beobachtet hat und dabei ihren Gesprächen mit Busfahrern oder den Notizen an Pinnwänden in Einkaufszentren dieselbe Bedeutung beimaß wie ihren Interviews mit berühmten Unternehmern. Ihr Buch "Artifacts. An Archeologist's Year in Silicon Valley" ist eine Collage aus Interviews, notizblockartigen Reflexionen, Auflistungen von Fundgegenständen und stets abgebrochenen Versuchen, dem Buch irgendeine Vollständigkeit zu verleihen. Die Autorin zieht Parallelen zwischen der Vielfalt an Programmiersprachen und der Sprachenvielfalt der Region, sie macht sich auf die Suche nach den letzten Apfelgärten des blühenden Santa Clara Valleys, befragt pensionierte Intel-Ingenieure und versucht herauszufinden, weshalb die Region trotz ihrer enormen kulturellen Dynamik noch keine eigenen Kunststile hervorgebracht hat. Auf diese Weise präsentiert das Buch zwar viele wertvolle und lesenswerte Details, sie alle bleiben aber ohne Zusammenhang und haben nur den Charme ungeordneter Tonscherben auf den Brettern einer Ausgrabungsstätte. Viele wichtige Eigenarten der Region werden angerissen: die offenere Kommunikationskultur, die soziale Akzeptanz für unternehmerisches Scheitern, die zunehmenden Infrastrukturprobleme. Diese Reportagenfragmente sind aber alle nur scheinbar journalistischer Natur und dienen vielmehr der Illustration des inneren Zwiegesprächs der Autorin über die tiefer liegende Frage, woher Dinge und Orte ihre spätere Bedeutung beziehen. Es ist weniger ein Buch über das Silicon Valley als vielmehr ein Bericht über den interessanten Versuch, diese schnelllebige und kulturell schwer verständliche Region mit dem Instrumentarium der klassischen Archäologie zu erfassen. Finn sucht fortlaufend nach Anknüpfungspunkten und vergleicht etwa die Schichtenfunktion der aus dem Silicon Valley stammenden Bildbearbeitungssoftware Photoshop mit ihrer eigenen schichtenweisen Ausgrabungstechnik. Anschließend fragt sie sich, wie die physische Hinterlassenschaft des Silicon Valley im Falle eines pompejischen Vulkanausbruchs überhaupt einmal interpretiert werden könnte. Die schiere Größe einer Villa in Palo Alto und die Zahl der Garagen, so sinniert sie, helfe nicht mehr, um später einmal die Zahl der damaligen Bewohner zu ermitteln. Aufschlussreicher sei heutzutage die Anzahl der verkabelten Arbeitsplätze.

Typisch europäisch an Finns Annäherungsweise an das Silicon Valley ist dabei, dass sie die Pyramidenarchitektur eines Elektronikkaufhauses oder die jüngst vom Straßenbauamt geschaffenen, steinzeitlich anmutenden Felsenmalereien an einem Highway beschreibt, um der Region wenigstens in ihren architektonischen Zitaten doch noch eine gewisse Bedeutungstiefe und Geschichtsträchtigkeit zu verleihen. Gleichzeitig ignoriert Finn aber viele kulturgeschichtliche Erbschaften, die die Region ganz entscheidend geformt haben. Sie vergisst den Stamm der Ohlone-Indianer, auf dessen Hinterlassenschaften heute das Hauptquartier von Hewlett-Packard steht. Sie ignoriert die enorme Bedeutung von Amerikas Kriegen für die Entwicklung des Valley, und sie lässt den Goldrausch von 1848, den kulturellen und wirtschaftlichen Urknall Kaliforniens, gänzlich unerwähnt.

Für eine gute Einführung in die Region empfiehlt sich eher Martin Cheeks "Silicon Valley Handbook". Als das Tagebuch einer assoziativ verlaufenden, europäisch geprägten Auseinandersetzung mit dem Valley ist Finn aber dennoch äußerst lesenswert.

Christine Finn:
Artifacts. An Archeologist's Year in Silicon Valley,
The MIT Press, Massachusetts, 2002,
294 Seiten, 29,19 Euro


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