Ein flacher Bulle
Von Michael Hartnett, London
Europäische Aktien scheinen billig - vor allem im Vergleich zu Bonds. Dennoch gibt es keinen Grund zur Euphorie.
Die kann sich erst einstellen, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen deutlich senkt und die Erwartungen für die Unternehmensgewinne auf ein realistisches Niveau heruntergeschraubt werden. Bis dahin werden sich die Kurse europäischer Aktien seitwärts bewegen.
Deshalb wird sich dieses Mal nicht das ereignen, was in den vergangenen 20 Jahren zu beobachten war, auch wenn das Rendite-Verhältnis zwischen europäischen Aktien und Rentenpapieren von rund 0,88 daraufhin deutet, dass Aktien relativ billig sind. Denn in der Vergangenheit sind die Aktienkurse in den drei darauf folgenden Monaten um durchschnittlich 7,7 Prozent immer dann gestiegen, wenn das Verhältnis diesen Wert erreicht hatte.
Wir sind davon überzeugt, dass die EZB letztlich auf die Konjunkturverlangsamung mit einer Zinssenkung von mindestens 75 Basispunkten reagieren wird. Die Frage ist hier nicht, ob die EZB senkt, sondern wann und um wieviel Punkte.
Wir sind vielleicht optimistischer als andere EZB-Beobachter. Das liegt aber einfach daran, dass wir die Wachstumsaussichten in der Eurozone pessimistischer beurteilen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen, die das Platzen der Technologieblase gehabt hat, wird die EZB noch auf dem falschen Fuß erwischen. Allein die europäischen Telekomfirmen haben einen Schuldenberg von 260 Mrd. Euro angehäuft. Das entspricht 19 Prozent der Investitionsausgaben in Europa.
Während aus den aktuellen Konsensusschätzungen der Analysten für die Unternehmensgewinne im nächsten Jahr ein Zuwachs um 15 Prozent abzulesen ist, gehen wir von einer einstelligen Rate aus. Die Begeisterung für eine V-förmige Erholung - ein Einbruch gefolgt von einem starken Anstieg - hält sich vor allem in der Tech-Branche. Die Gewinne der IT-Hardware-Hersteller sollen erwartungsgemäß 2002 um 83 Prozent steigen.
Trotz unserer Prognose, dass die europäischen Aktienmärkte zunächst seitwärts gehen werden, gibt es einige viel versprechende Branchen. Da die EZB bisher noch nicht die Zinsen gesenkt hat, hat sich die Renditekurve abgeflacht. Die Konjunkturaussichten verdüstern sich weiter und die Zinssenkungsfantasie nimmt zu. Diese Phase - auch "bull flattening" genannt - wirkt sich positiv auf die zinssensitiven und defensiven Werte aus. Versorger, Versicherer, Banken mit langfristigen Verbindlichkeiten, und Tabakfirmen profitieren in diesem Umfeld.
Michael Hartnett leitet bei Merrill Lynch in London das Team "European Equity Strategy & Economics"