Hessens Ministerpräsident Roland Koch wirft der Bundesregierung vor, die Finanzmisere vor der Wahl wissentlich vertuscht zu haben. Er setzte einen "Lügenausschuss" durch, der den Verdacht klären soll. Dabei ist Kochs eigener Haushalt 2003 selbst ein Meisterwerk der Budget-Kosmetik.
Berlin - Kurz nach der Bundestagswahl erlitt Hessens Ministerpräsident einen seiner wohl kalkulierten Wutausbrüche: "Das war Betrug", tobte Roland Koch mit hochrotem Gesicht. Sein Verdacht: Finanzminister Hans Eichel habe vor der Wahl das Ausmaß der staatlichen Finanzmisere vertuscht und damit die Öffentlichkeit bewusst getäuscht. So lange schimpfte und haderte er, bis ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss "Wahlbetrug" eingesetzt wurde, der diese Woche seine Arbeit aufnahm.
Nun also müsste Roland Koch zufrieden sein - doch ausgerechnet jetzt steckt der Chefankläger selbst in der heißen Phase seines Landeswahlkampfes. Und hat allen Grund, von den hessischen Finanzen abzulenken. Im vergangenen Jahr endete der Etat mit der Rekordneuverschuldung von knapp zwei Milliarden Euro - die verfassungsrechtlich erlaubte Grenze liegt bei weniger als der Hälfte dieser Summe. Nach Artikel 115 Grundgesetz darf kein Finanzminister mehr Neuschulden aufnehmen, als er an Ausgaben für Investitionen einplant.
Im bereits verabschiedeten Haushalt 2003 scheint die Finanzkrise in Hessen wie durch ein Wunder überwunden zu sein - zumindest auf dem Papier. Die geplanten Netto-Investitionen von 1068 Millionen Euro liegen 21 Millionen Euro über der vorgesehenen Neuverschuldung von 1047 Millionen Euro. Rein rechnerisch ist den Beamten ein verfassungsmäßiger Haushalt (Gesamtvolumen rund 22 Milliarden Euro) gelungen - doch wer genau nachrechnet, entdeckt die Tricks, mit denen die Regierung Koch ihr wackeliges Rechenergebnis auf die Beine gestellt hat.
So wurden etwa bei den Personalausgaben für den Öffentlichen Dienst, abgesehen von den Mitarbeitern an den Hochschulen, keine Tariferhöhung eingeplant - obwohl die Tarifverhandlungen schon in vollem Gange waren, als die Haushaltsplanung im Dezember abgeschlossen wurde. Reinhard Kahl, finanzpolitischer Sprecher der hessischen SPD-Fraktion, schätzt, dass der nun vereinbarte Abschluss Hessen 150 Millionen Euro kosten wird - siebenmal so viel wie der 21-Millionen-Puffer, der die Verfassungsmäßigkeit sichern sollte. Finanzminister Karlheinz Weimar (CDU) bleibt nur die Hoffnung: "Die gesteigerten Ausgaben müssen in den jeweiligen Ressorts schlicht und einfach erwirtschaftet werden." SPD-Politiker Kahl hält das für nicht möglich: "Der Haushalt ist nicht nur auf Kante genäht, sondern schon weit darüber hinaus."
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Hessens Finanzminister Karlheinz Weimar musste dem Landtag letztes Jahr eine Rekord-Neuverschuldung präsentieren
Ähnlich plump kommt der Griff in den kommunalen Investitionsfonds daher. Das Geld in diesem Fonds ist eigentlich für günstige Kredite an die hessischen Gemeinden gedacht und wird zu knapp 80 Prozent mit Mitteln finanziert, die den Gemeinden aus dem Steueraufkommen zustehen. 100 Millionen Euro griff sich die Koch-Regierung nun aus diesem Topf, 200 Millionen Euro überwies er an die Gemeinden. Die Kommunen hätten diesen Schritt "ausdrücklich gewünscht", sagte der Finanzminister gegenüber SPIEGEL ONLINE.
Weit gefehlt: "Politisch unzulässig und rechtlich bedenklich", nennt der Präsident des Hessischen Städtetags und Oberbürgermeister Darmstadts, Peter Benz, die Umleitung der 100 Millionen Euro in die Landeskasse. Der Steuerfachmann des Städtetags, Wilfried Merzbach, nennt die Entscheidung sogar "rechtswidrig". Da aber die Landesregierung über den Fonds bestimmen kann, bleibt ihm nur die Resignation: "Wir können schreien, wie wir wollen, letztlich entscheidet der Landtag." Zugestimmt hat der Hessische Städtetag nur den ihnen zugeschlagenen 200 Millionen Euro, die die Stadt- und Gemeindekassen dringend benötigen.
Doch Kochs Rechenmaschinerie ist noch erheblich raffinierter. So staunten Haushaltsexperten kurz vor Jahresende über eine überraschende Korrektur am Etat 2003. Da wurden mit einem Mal die erwarteten Einnahmen aus den Zahlungsaufforderungen der hessischen Justiz um 70 Millionen Euro hochgesetzt. Dabei war nur wenige Tage zuvor die haargenau gleiche Position im Nachtragshaushalt 2002 gesenkt worden. Was also solle die Einnahmen 2003 plötzlich steigen lassen? Das Finanzministerium begründet die Anhebung mit "Kenntnis bereits erstellter Bußgeldbescheide in außergewöhnlichen Fällen". Was für ungewöhnlich gewinnbringende Fälle das sind, konnte das Ministerium jedoch nicht sagen. Eine potenzielle Luftbuchung also - dreimal so groß wie der rechnerische Abstand von 21 Millionen zur Verfassungswidrigkeit.
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Koch kann gut lachen: In den Umfragen liegt er deutlich vor seinem SPD-Herausforderer
Sehr viel komplizierter, aber zur Wahrung der Haushaltskosmetik ebenso wirksam, sind An- und Verkäufe des Finanzministeriums. So veräußerte das Land der Landesbank Hessen-Thüringen seine 20 Prozent an der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft Hessen und kaufte im Gegenzug von derselben Bank Anteile an zwei anderen Wohnungsbaugesellschaften. Bei 73 Millionen Euro Einnahmen gegen 66 Millionen Ausgaben ergibt das einen kleinen Kapitalgewinn von sieben Millionen Euro. Der Handel scheint auf den ersten Blick keine weitere Bedeutung zu haben - letztlich hat sich für das Landesvermögen nicht viel geändert, Wohnungsbaugesellschaft bleibt Wohnungsbaugesellschaft.
Haushaltstechnisch allerdings ist der Vorgang aber durchaus beachtenswert, denn Hessen kann durch die Kauf-Verkauf-Aktion erst einmal 66 Millionen Euro mehr ausgeben. Die Verkaufs-Millionen erscheinen als Einnahme im Haushalt, die aber nicht für den Neukauf verwendet werden. Das Finanzministerium bestätigt, dass die neuen Anteile an der Nassauschen Heimstätte und der Wohnstadt Kassel kreditfinanziert werden. Da der Kauf von Unternehmensanteilen als Investition zählt, steigt auf der anderen Seite das Limit für die Neuverschuldung.
"Da wird eindeutig Vermögen gegen Schulden getauscht und nicht wie versprochen Vermögen gegen Vermögen", urteilt der haushaltspolitische Sprecher der Grünen im Hessischen Landtag, Frank Kaufmann, und wirft Roland Koch Wortbruch vor. Die Union hatte immer wieder angekündigt, die Einnahmen aus dem Verkauf von Landeseigentum nach dem Motto "Vermögen gegen Vermögen" für Investitionen einzusetzen. Wenn die Regierung die Verkaufserlöse konsumiert, warnt Kaufmann, seien hinterher Vermögen und Geld weg. "Das ist zwar haushaltsrechtlich machbar, betriebswirtschaftlich aber eine Katastrophe."
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SPD-Kandidat Gerhard Bökel hat zum Auftakt des Wahlkampfes Parteifreund Schröder zu Gast. Der Kanzler weiß, dass sich das Blatt im Endspurt noch wenden kann
Ebenfalls aus dem Bereich Wohnungsbau kommen weitere 100 Millionen Euro, die als frei verwendbare Einnahme im Haushalt 2003 eingeplant sind. Das Geld stammt aus dem Sondervermögen Wohnungswesen und Zukunftsinvestitionen. An sich sind die Mittel aus diesem Sondervermögen zweckgebunden. Sie dürfen nur für Wohnungsbau und Wirtschaftsförderung ausgegeben werden. Das Finanzministerium hat die Anlagen in dem Sondervermögen jetzt neu bewerten lassen. Ergebnis: eine Wertsteigerung des Kapitals. Die 100 Millionen Euro stammen aus dem Plus dieser Neubewertung - ausgegeben will Koch sie allerdings ohne festgelegte Verwendung. Finanzminister Weimar gegenüber SPIEGEL ONLINE: "Für den abgeschöpften Wertzuwachs des Sondervermögens bestand von Anfang an keine Zweckbindung." Oppositionspolitiker Kahl sieht das anders. Seiner Meinung nach hat die Regierungskoalition die Zweckbindung aufgehoben, um sich frei aus diesem Topf bedienen zu können.
Ähnlich gelagert ist der Fall der 130 Millionen Euro, die aus dem Ersparten der so genannten Zukunftsoffensive abgezogen wurden - ein Budget, das eigentlich zur Wirtschaftsförderung gedacht war. Blumig erklärt der Finanzminister: "Die Landesregierung wird dafür Sorge tragen, dass die im Rahmen der Zukunftsoffensive getroffenen politischen Festlegungen ungeschmälert umgesetzt und die hierfür erforderlichen Finanzmittel im Bedarfszeitpunkt zur Verfügung stehen." Woher das Geld angesichts leerer Kassen "im Bedarfszeitpunkt" genommen werden soll, bleibt unklar. SPD-Sprecher Kahl hält das für eine Ausflucht: "Offen zu sagen, sie wollen das Geld zum Stopfen von Haushaltslöchern einsetzen, ist ein Offenbarungseid."
IN SPIEGEL ONLINE
· SPIEGEL-Gespräch: SPIEGEL-Gespräch mit dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch über den Kurs der Union [€] (13.01.2003)
· Interview mit Hessens SPD-Chef Bökel: "Es wird gekämpft und gesiegt" (15.01.2003)
Zu guter Letzt findet sich auch im Etat 2003 eine weit verbreitete Kuriosität: eine globale Minderausgabe, in diesem Fall von 130 Millionen Euro. Die Minderausgabe beziffert Hessens Hoffnung auf weitere Einsparungen in den Behörden im Laufe des Jahres. Mit dieser zusätzlichen Sparpflicht wird es immer unwahrscheinlicher, dass auch die Mehrausgaben für die Tariferhöhung im Öffentlichen Dienst allein durch Sparen bewältigt werden können.
Kochs Hoffnung wird es nun sein, dass bis zur Wahl am 2. Februar keiner an seinem zerbrechlichen Zahlengebilde rüttelt. "Wir werden den Weg der qualitativen Konsolidierung des Haushaltes fortsetzen", verspricht Kochs Wahlprogramm. Schließlich sei "in der laufenden Legislaturperiode bereits eine Konsolidierung erfolgreich durchgeführt worden". Erfolgreiche Konsolidierung - trotz Rekordverschuldung im letzten Regierungsjahr von knapp zwei Milliarden Euro?
Wirklich helfen kann Koch nur ein Wirtschaftsaufschwung mit den dazugehörigen Steuermehreinnahmen, um diesen Haushalt über das Jahr retten zu können. Doch gerade erst haben die Wirtschaftsforschungsinstitute die Wachstumsprognosen wieder gesenkt. Behalten sie Recht, wird Koch vielleicht schon bald das Schicksal seines politischen Lieblingsgegners Hans Eichel teilen - und eine höhere Neuverschuldung eingestehen müssen.