J. P. Morgan-Aktienstratege Douglas Cliggott über die Zukunft des US-Marktes.
Mr. Cliggott, erste Anzeichen für die Unternehmensgewinne im vierten Quartal sind ermutigend. Müssen Sie als der größte Pessimist an der Wall Street jetzt nicht Ihre Meinung ändern?
Nein. Zwar sind ermutigende Unternehmensgewinne immer eine gute Nachricht und es kann durchaus sein, dass die Talsohle etwas höher liegt, als wir sie erwartet haben. Doch ich fürchte, die Tatsache, dass wir über den pessimistischen Schätzungen liegen zeigt nur, dass Käufe beispielsweise im Automobilgeschäft vorgezogen wurden.
Sie bleiben also bei Ihrer pessimistischen Vorhersage, dass der Aktienmarkt bis Ende dieses Jahres noch um rund 15 Prozent fällt?
Alles was wir derzeit sehen ist, um eine Analogie aus der Sportwelt zu nehmen, ein Hürdenläufer, der mit Leichtigkeit über eine drastisch gesenkte Latte springt. Nach dem 11. September wurden die Gewinnschätzungen für das vierte Quartal 2001 enorm reduziert. Sie liegen jetzt bei 10,50 Dollar je Aktie für die Unternehmen im S&P 500. Doch bis zum vierten Quartal dieses Jahres steigen die Konsensschätzungen rapide auf 14,50 Dollar an. Wenn man bedenkt, dass der Rekordgewinn in einem Quartal bei knapp unter 15 Dollar liegt, ist das eine sehr hohe Hürde.
Glauben Sie denn nicht an ein Ende der Rezession in den USA?
Doch schon, aber das Wachstum wird frustrierend langsam ausfallen. Auch 1991 bis 1993 haben sich die Leute noch ein Jahr nach dem statistischen Ende der Rezession gewundert, ob sie tatsächlich vorüber ist. Auch wir werden uns in einem Jahr darüber immer noch den Kopf zerbrechen. Der Grund für die halbherzige Erholung ist, dass wir im Gegensatz zu früheren Rezessionen diesmal keinen Einbruch bei den Verbrauchern und im privaten Baugewerbe erlebt haben. Da sollte also auch niemand mit einem dramatischen Anstieg rechnen.
Was heißt das für die Unternehmensgewinne 2002?
Selbst ein reales Wirtschaftswachstum schlägt angesichts der weit verbreiteten Überkapazitäten und des damit verbundenen Preisdrucks nicht auf die Umsätze durch. Wir gehen davon aus, dass bei bis zu 60 Prozent der Aktiengesellschaften die Gewinne schrumpfen werden. Die restlichen 40 Prozent sorgen dann allenfalls dafür, dass die Gewinne insgesamt stagnieren.
Den enormen Kursgewinnen der vergangenen Wochen zufolge sehen das einige Marktteilnehmen anders.
Der Markt rechnet mit einem deutlichen Gewinnwachstum und das birgt die Gefahr einer großen Enttäuschung. Das so genannte Fed-Modell zeigt, wie sehr der Markt derzeit überbewertet ist. Danach müsste, um das aktuelle Marktniveau vor dem Hintergrund der derzeitigen Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen zu rechtfertigen, der Jahresgewinn pro Aktie des S&P 500 bei 58 Dollar liegen. Wohlgemerkt, der absolute Rekord liegt bei 56 Dollar und wir rechnen mit 36 Dollar.
Was bedeutet das für die Kurse?
Viele argumentieren, dass die Liquidität und andere Faktoren die Kurse oben halten. Doch der Markt ist sehr ungeduldig. Ich bezweifle, dass Käufer zyklischer Werte 18 Monate auf die Gewinne warten, die diese Preise rechtfertigen. Wir werden mittelfristig eine drastische Kurskorrektur erleben.
Noch unter Ihr Jahresendziel von 8500 Punkten für den Dow-Jones-Index?
Dafür gibt es Szenarien, wie beispielsweise den Rückzug ausländischer Investoren aus dem US-Markt. Das könnte ein Katalysator dafür sein. Wie wahrscheinlich das ist, ist schwer einzuschätzen.
Viele Ihrer Kollegen an der Wall Street argumentieren, dass der Vergleich mit historischen Kennzahlen naiv ist und der Markt ein sehr viel höheres Kurs-Gewinn-Verhältnis verdient.
Im Vergleich zu den Siebziger- und den frühen Achtzigerjahren sicher. Aber 1960 bis 1961 hatten wir eine ähnliche Inflationsrate, die Zinsen waren gleich, die Profitmargen und das Produktivitätswachstum lagen höher und die Position amerikanischer Unternehmen in der Welt war robuster.
Und wie stehen wir heute im Vergleich dazu?
Damals erreichte der Markt seinen Tiefpunkt bei einem KGV von 16,5 für die zurückliegenden Nettogewinne. Heute liegen wir bei 22, wohlgemerkt für die operativen Gewinne des vor uns liegenden Jahres. Es gibt also keinen Zweifel, dass wir derzeit eine viel zu hohe Bewertung haben.
Ist die Pleite von Enron und die allgemein hohe Verschuldung amerikanischer Unternehmen für Sie Anlass zur Besorgnis?
Das Verschuldungsniveau von Corporate America ist ein Grund mehr, sehr konservativ dabei zu sein, wie hoch man die Gewinne an der Börse bewertet.
Was müsste geschehen, damit Sie Ihre negative Aussicht ändern?
Das hört sich natürlich bizarr an, aber wenn die Kurse viel niedriger wären, wären wir sehr viel optimistischer. Darüber hinaus schauen wir vor allem auf das Investitionsverhalten von Unternehmen und auf die Rohstoffpreise. Beide haben eine sehr starke Korrelation mit den Gewinnen. Wir sehen zwar die Talsohle erreicht, aber eben noch keine klaren Anzeichen für eine Erholung.
Wenn schon nicht im Gesamtmarkt, wo sehen Sie Chancen für Anleger?
Ein Trend ist sicher, dass große, bekannte Unternehmen wie schon in den vergangenen zwei Jahren weiter in der Performance hinterherhinken. Positive Überraschungen bewegen Aktien, und das wird rein mathematisch immer schwieriger, je größer ein Unternehmen wird. Das ist wie mit einem unberührten schönen Strand. Wenn die Massen kommen, ist es vorbei mit der natürlichen Schönheit. Die Chancen liegen also nicht bei großen Namen oder Indexprodukten, sondern bei kleinen und mittelgroßen Werten. Anleger können im US-Markt trotz unserer pessimistischen Einschätzungen durchaus ansehnliche Gewinne erzielen, wenn sie über die 30 oder 40 größten Unternehmen hinausschauen.
Welche Branchen bieten da die besten Aussichten?
Im nichtzyklischen Bereich bevorzugen wir den Gesundheitssektor, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sowie Nahrungsmittel- und Getränkewerte. Bei den zyklischen Werten konzentrieren wir uns auf Bereiche, in denen in den vergangenen Jahren nicht viel investiert wurde. Bei Eisenbahnen, landwirtschaftlichen Geräten, im Rüstungsbereich und auch bei Energiewerten sollte selbst ein moderates Wirtschaftswachstum zu höheren Gewinnmargen führen. Bei Technologietiteln, im Finanzsektor oder im Einzelhandel sorgt die Überkapazität dagegen dafür, dass die Unternehmen nicht nur Quartale, sondern Jahre entfernt sind von Spitzengewinnen.
Michael Baumann / New York
Mr. Cliggott, erste Anzeichen für die Unternehmensgewinne im vierten Quartal sind ermutigend. Müssen Sie als der größte Pessimist an der Wall Street jetzt nicht Ihre Meinung ändern?
Nein. Zwar sind ermutigende Unternehmensgewinne immer eine gute Nachricht und es kann durchaus sein, dass die Talsohle etwas höher liegt, als wir sie erwartet haben. Doch ich fürchte, die Tatsache, dass wir über den pessimistischen Schätzungen liegen zeigt nur, dass Käufe beispielsweise im Automobilgeschäft vorgezogen wurden.
Sie bleiben also bei Ihrer pessimistischen Vorhersage, dass der Aktienmarkt bis Ende dieses Jahres noch um rund 15 Prozent fällt?
Alles was wir derzeit sehen ist, um eine Analogie aus der Sportwelt zu nehmen, ein Hürdenläufer, der mit Leichtigkeit über eine drastisch gesenkte Latte springt. Nach dem 11. September wurden die Gewinnschätzungen für das vierte Quartal 2001 enorm reduziert. Sie liegen jetzt bei 10,50 Dollar je Aktie für die Unternehmen im S&P 500. Doch bis zum vierten Quartal dieses Jahres steigen die Konsensschätzungen rapide auf 14,50 Dollar an. Wenn man bedenkt, dass der Rekordgewinn in einem Quartal bei knapp unter 15 Dollar liegt, ist das eine sehr hohe Hürde.
Glauben Sie denn nicht an ein Ende der Rezession in den USA?
Doch schon, aber das Wachstum wird frustrierend langsam ausfallen. Auch 1991 bis 1993 haben sich die Leute noch ein Jahr nach dem statistischen Ende der Rezession gewundert, ob sie tatsächlich vorüber ist. Auch wir werden uns in einem Jahr darüber immer noch den Kopf zerbrechen. Der Grund für die halbherzige Erholung ist, dass wir im Gegensatz zu früheren Rezessionen diesmal keinen Einbruch bei den Verbrauchern und im privaten Baugewerbe erlebt haben. Da sollte also auch niemand mit einem dramatischen Anstieg rechnen.
Was heißt das für die Unternehmensgewinne 2002?
Selbst ein reales Wirtschaftswachstum schlägt angesichts der weit verbreiteten Überkapazitäten und des damit verbundenen Preisdrucks nicht auf die Umsätze durch. Wir gehen davon aus, dass bei bis zu 60 Prozent der Aktiengesellschaften die Gewinne schrumpfen werden. Die restlichen 40 Prozent sorgen dann allenfalls dafür, dass die Gewinne insgesamt stagnieren.
Den enormen Kursgewinnen der vergangenen Wochen zufolge sehen das einige Marktteilnehmen anders.
Der Markt rechnet mit einem deutlichen Gewinnwachstum und das birgt die Gefahr einer großen Enttäuschung. Das so genannte Fed-Modell zeigt, wie sehr der Markt derzeit überbewertet ist. Danach müsste, um das aktuelle Marktniveau vor dem Hintergrund der derzeitigen Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen zu rechtfertigen, der Jahresgewinn pro Aktie des S&P 500 bei 58 Dollar liegen. Wohlgemerkt, der absolute Rekord liegt bei 56 Dollar und wir rechnen mit 36 Dollar.
Was bedeutet das für die Kurse?
Viele argumentieren, dass die Liquidität und andere Faktoren die Kurse oben halten. Doch der Markt ist sehr ungeduldig. Ich bezweifle, dass Käufer zyklischer Werte 18 Monate auf die Gewinne warten, die diese Preise rechtfertigen. Wir werden mittelfristig eine drastische Kurskorrektur erleben.
Noch unter Ihr Jahresendziel von 8500 Punkten für den Dow-Jones-Index?
Dafür gibt es Szenarien, wie beispielsweise den Rückzug ausländischer Investoren aus dem US-Markt. Das könnte ein Katalysator dafür sein. Wie wahrscheinlich das ist, ist schwer einzuschätzen.
Viele Ihrer Kollegen an der Wall Street argumentieren, dass der Vergleich mit historischen Kennzahlen naiv ist und der Markt ein sehr viel höheres Kurs-Gewinn-Verhältnis verdient.
Im Vergleich zu den Siebziger- und den frühen Achtzigerjahren sicher. Aber 1960 bis 1961 hatten wir eine ähnliche Inflationsrate, die Zinsen waren gleich, die Profitmargen und das Produktivitätswachstum lagen höher und die Position amerikanischer Unternehmen in der Welt war robuster.
Und wie stehen wir heute im Vergleich dazu?
Damals erreichte der Markt seinen Tiefpunkt bei einem KGV von 16,5 für die zurückliegenden Nettogewinne. Heute liegen wir bei 22, wohlgemerkt für die operativen Gewinne des vor uns liegenden Jahres. Es gibt also keinen Zweifel, dass wir derzeit eine viel zu hohe Bewertung haben.
Ist die Pleite von Enron und die allgemein hohe Verschuldung amerikanischer Unternehmen für Sie Anlass zur Besorgnis?
Das Verschuldungsniveau von Corporate America ist ein Grund mehr, sehr konservativ dabei zu sein, wie hoch man die Gewinne an der Börse bewertet.
Was müsste geschehen, damit Sie Ihre negative Aussicht ändern?
Das hört sich natürlich bizarr an, aber wenn die Kurse viel niedriger wären, wären wir sehr viel optimistischer. Darüber hinaus schauen wir vor allem auf das Investitionsverhalten von Unternehmen und auf die Rohstoffpreise. Beide haben eine sehr starke Korrelation mit den Gewinnen. Wir sehen zwar die Talsohle erreicht, aber eben noch keine klaren Anzeichen für eine Erholung.
Wenn schon nicht im Gesamtmarkt, wo sehen Sie Chancen für Anleger?
Ein Trend ist sicher, dass große, bekannte Unternehmen wie schon in den vergangenen zwei Jahren weiter in der Performance hinterherhinken. Positive Überraschungen bewegen Aktien, und das wird rein mathematisch immer schwieriger, je größer ein Unternehmen wird. Das ist wie mit einem unberührten schönen Strand. Wenn die Massen kommen, ist es vorbei mit der natürlichen Schönheit. Die Chancen liegen also nicht bei großen Namen oder Indexprodukten, sondern bei kleinen und mittelgroßen Werten. Anleger können im US-Markt trotz unserer pessimistischen Einschätzungen durchaus ansehnliche Gewinne erzielen, wenn sie über die 30 oder 40 größten Unternehmen hinausschauen.
Welche Branchen bieten da die besten Aussichten?
Im nichtzyklischen Bereich bevorzugen wir den Gesundheitssektor, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sowie Nahrungsmittel- und Getränkewerte. Bei den zyklischen Werten konzentrieren wir uns auf Bereiche, in denen in den vergangenen Jahren nicht viel investiert wurde. Bei Eisenbahnen, landwirtschaftlichen Geräten, im Rüstungsbereich und auch bei Energiewerten sollte selbst ein moderates Wirtschaftswachstum zu höheren Gewinnmargen führen. Bei Technologietiteln, im Finanzsektor oder im Einzelhandel sorgt die Überkapazität dagegen dafür, dass die Unternehmen nicht nur Quartale, sondern Jahre entfernt sind von Spitzengewinnen.
Michael Baumann / New York