Nicht arbeiten, nicht nachfragen, nicht nachdenken, nur im Voraus bezahlen: Das ist die Idee von Ginger. Eine Dankesrede an die Erfinder und Propagandisten des besten IQ-Tests, den es jemals im Internet gab.
Vor einigen Jahren flatterte etlichen Bundesbürgern ein Zahlschein ins Haus. „Letzte Chance für die Einzahlung: 31.03.“ stand da drauf, und es ging um 121,50 Mark. Von Kontonummer und Bank abgesehen, fanden sich keine weiteren Informationen auf dem Zahlschein.
Wieso? Warum? Weswegen?
Viele Fragen. Kein Zahlungszweck. Mehr als 40000 Mark gingen innerhalb weniger Stunden auf dem Konto ein. Wochen, Monate später fragten sich dann doch einige Einzahler: Wofür haben wir bezahlt? Betrug! Allein: Der Staatsanwalt hatte es schwer, daraus eine Anklage wegen Betrugs zu stricken. Denn getäuscht wurden die Geldgeber nicht. Zahlungen, die nach dem 31.03. aufgegeben worden waren, hatte der Erfinder der brillanten Einzahlidee kommentarlos zurückgebucht. Die letzte Möglichkeit, 121,50 Mark zu zahlen, war der 31.03. Und von etwas anderem war nie die Rede. Dankeschön, der Nächste bitte.
Heute geht das vollautomatisch, übers Netz. Und es heißt auch nicht mehr „ein paar Idioten anscheißen“. Die Methode heißt „vergingern“.
Man braucht dazu ein paar Millionen Leichtgläubige aus der so genannten Web-Generation, die zu den „Information Rich“ gehören, weil sie die reichlich aus dem Netz sprudelnden Informationen alle für bare Münze nehmen – was sie langsam, aber sicher um ihr Erspartes bringt. Dazu noch ein paar in der Recherche leichtfüßige wie auch durch technische Phantasien beeindruckbare Journalisten und verdiente Helden des informationstechnischen Gewerbes, die über jeden Ruf erhaben sind, und sei es ein noch so guter.
Dann macht es Klick.
Dean Kamen ist ein Ingenieur aus dem Silicon Valley, 49 Jahre alt und ein Kumpel des Apple-Gründers Steve Jobs und des Amazon-Vormanns Jeff Bezos.
Kamen hat ein Geheimprojekt namens Ginger, das er mehreren Reportern unter Abnahme des großen Journalistenehrenworts ansatzweise so darstellte: „Es ist sensationell, es wird die Welt verändern, lässt sich in zehn Minuten zusammenbauen und kostet weniger als 2000 Dollar.“ Die renommierte Harvard University Press weiß auch nicht mehr und hat schon mal Dean Kamen für die Rechte an „Ginger – Das Buch“ 250000 Dollar bezahlt. Macht nichts.
»Wired«, das müde gewordene Kampfblatt der Web-Opas, macht hinter Kamens Kampagne die „Neuauflage des energiesparenden Stirling-Motors“ aus, möglicherweise aber ist es auch ein „motorisiertes Kickboard“. Und Kamen-Finanzier John Doerr, ein alter Silicon-Valley-Venture-Capitalist, findet, dass Kamen Henry Ford und Thomas Alva Edison in den Schatten stellen und überhaupt bald reicher sein wird als Bill Gates – womit wir übrigens an die Grenzen der Physik stoßen, was in diesem Zusammenhang weder überrascht noch vom Schreiben abhält: Das keiner Innovation ausweichende »Hamburger Abendblatt« mutmaßt nämlich, dass Kamen möglicherweise eine „Anti-Schwerkraft-Maschine“ entwickelt hat.
Die Folgen dieser Schwerkraftzersetzung zeigen sich eindrucksvoll: Internet-Auktionsdienste vertickern die Vorkaufsrechte für Ginger, und Tausende steigern mit, zahlen bis zu 500 Dollar für etwas, wovon sie nicht wissen, was es ist. Was?! Würden Sie nie machen?! Obacht. Denn immerhin haben sich Steve Jobs und Jeff Bezos bereit erklärt, Millionen in die Ginger-Entwicklung zu pumpen. Mensch! Da müssen sie dabei sein! Sonst werden wieder nur die beiden Ami-Oberschrate reich und Sie schon wieder nicht!
Oder sollten wir uns des Dichterworts erinnern: Der Laie staunt, der Fachmann kichert – hoffentlich gehirnversichert. Wir meinen: Ja. Denn Kamen, Jobs und Bezos machen sich nur einen kleinen globalen Jux. Hunderttausende, wenn nicht mehr, haben Millionen, sicher nicht weniger, für etwas bezahlt, was man eine „Killer Application“ nennt, eine revolutionäre Neuerung, von der niemand weiß, was sie ist. Eine Killer Application kann man salopp mit tödlicher Anwendung übersetzen. Das heißt, dass die Anwendung tot ist, bevor sie jemand benutzen kann, was entweder daran liegt, dass es die Anwendung nicht gibt oder aber dass sie nicht funktioniert, wobei die Chancen erfahrungsgemäß fifty-fifty stehen.
Unter dem Motto „Dumme muss es immer geben, denn wir müssen schließlich leben“ haben die Gentlemen das einigende Merkmal vieler so genannter Net-Investoren und ihres kleinanlegerischen Anhangs, Leichtgläubigkeit, zum Wohle der behinderten Menschheit ausgenutzt, die mit ihnen endlich wieder mal etwas zu lachen hat.
Mögen die Bilanzen von Apple und Amazon auch trostlos sein, Bezos, Jobs, Kamen, Doerr und ein paar ältere Jungs aus dem Valley lachen insgeheim bis der Arzt kommt oder sich die Schwerkraft aufhebt, weil jemand einen Stirling-Motor-Witz erzählt hat oder vom motorisierten Kickboard gefallen ist, nachdem er mit einem Dollarhaufen, der aus den Vorbestellungen von Ginger stammt, kollidierte. Bleibt zu hoffen, dass die lustigen Burschen des Silicon Valley ihren treuen Aposteln in aller Welt bald schon etwas zeigen, was man aufblasen kann oder lutschen oder Opa in den Bart kleben, wenn der nicht ins Internet will. Danke, liebe Ginger-Boys. Denn: Dämlich währt am längsten.
Über Ginger, den berühmtesten Roller des Jahrhunderts
Gestern stellte der amerikanische Erfinder Dean Kamen sein Projekt Ginger der Öffentlichkeit vor. Ginger, wahlweise auch schlicht IT genannt, galt über Monate als das größte Mysterium der Hi Tech-Branche. Nun wissen wir: Ginger ist ein elektrisch betriebener Roller.
Es sieht ziemlich lustig aus, wie ein mechanischer Rasenmäher. Es heißt Segway und wird rund 3000 Dollar kosten. Es fährt mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 Kilometer pro Stunde. Es fühlt sich an wie ein paar magische Turnschuhe, sagt sein Erfinder Dean Kamen. Es klingt also eigentlich ganz interessant.
Trotzdem gab es wahrscheinlich den ein oder anderen enttäuschten Zuschauer, als Kamen gestern seine neueste Erfindung im US-Fernsehen präsentierte. Denn es alais ES alias IT alias Ginger alias Segway war Anfang des Jahres als das heiße neue Ding bekannt und gehyped worden. Keiner wusste, was es war, aber jeder wollte es haben. Schließlich sollte es angeblich die Welt verändern. Oder wahlweise auch die Fundamente des Städtebaus erschüttern. Und es hatte wahnsinnig viele einflussreiche Freunde.
"Bedeutender als das World Wide Web"
Wie etwa John Doerr. Er habe nicht geglaubt, jemals in seinem Leben wieder eine so bedeutende Entwicklung wie das World Wide Web zu Gesicht zu bekommen, erklärte der bekannte Venture-Kapitalist. Jedenfalls nicht, bis er IT sah. Danach war Doerr überzeugt: Es wird die Welt verändern. Als Doerr dies der Öffentlichkeit mitteilte, war kaum etwas über das geheimnisvolle Gerät bekannt. Fest stand allein, dass es von einem gewissen Dean Kamen erfunden worden war. Kamen hbatte sich zuvor eher mit Dingen wie dem treppensteigenden Rollstuhl und dem mobilen Blutzuckermessgerät einen Namen gemacht. Nicht gerade Dinge, die an Hi Tech und Silicon Valley denken lassen. Doch bald wurde bekannt, dass er mit seiner Erfindung bei Amazon-Chef Jeff Bezos und Steven Jobs von Apple vorbeigeschaut hatte. Beide waren spontan begeistert. Der Macintosh-Guru erzählte im Anschluß an das Treffen, Ginger spreche für sich selbst. Wer es gesehen habe, müsse nicht mehr davon überzeugt werden. Jobs und Bezos erklärten sich spontan bereit, Kamen als Berater zur Seite zu stehen. Und Doerr, der schon Netscape, Amazon und Excite auf die Beine geholfen hat, kümmerte sich gemeinsam mit Xerox-Chef Paul Allaire um die Finanzierung. Allaire rechnete damit, dass Ginger in einem Jahr mehr Geld einnehmen werde als je ein Startup erwirtschaftet hat. Ginger-Erfinder Kamen werde dadurch in fünf Jahren reicher sein als Bill Gates.
Wer zur Hölle ist Warren Beatty?
Dean Kamen ist so etwas wie der Protoyp des amerikanischen Nerds. In der Schule war er schlecht, weil sie ihn langweilte. Warum sollte er auch Dinge lernen, die alle anderen sowieso schon wussten? Kein Wunder, dass er es mit dieser Einstellung auch am College nicht lange aushielt. Statt zu studieren, entwickelte er lieber portable Geräte für Zuckerkranke, die ihn mit 25 zum Millionär machten. Mittlerweile ist Kamen 50, Multimillionär, Träger der höchsten amerikanischen Wissenschaftsauszeichnung und ganz und gar besessen von seiner Arbeit. Manche Leute würden ihn sicher als weltfremd bezeichnen. Als er einmal zu einem Dinner ins weiße Haus eingeladen wurde, saß er angeblich neben zwei Menschen, von denen er noch nie etwas gehört hatte: Warren Beatty und Shirley MacLaine.
Einem Team des Fernsehsenders CBS erklärte er einmal, wenn ihn jemand für verrückt halte, sei das ein großes Kompliment für ihn. Gut möglich, dass Kamen von seinen Nachbarn ständig Komplimente bekommt: Wer sein Haus betritt, fällt Medienberichten zufolge als erstes über eine riesige, 150 Jahre alte Dampfmaschine. Und für den Weg zur Arbeit benutzt der exzentrische Erfinder einen seiner beiden Hubschrauber. Gut, das machen andere auch. Aber andere kaufen nicht erst den Hersteller der Hubschrauber auf, um die Konstruktion der Geräte zu optimieren.
Zu Ginger wollte Kamen aber über Monate hinweg nichts sagen. Anfangs erklärte er, die Erfindung werde möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf einige Giganten der Old Economy haben. Dann befürchtete er offenbar, diese könnten ihm einen Strich durch die Rechnung machen und hielt den Ball lieber flach. Der ganze Rummel um Ginger sei etwas übertrieben, so Kamen gegenüber Journalisten.
Ein Beamer, ein Düsenantrieb, ein Roller?
Doch die Netzgemeinde ließ sich davon nicht beirren. Nachdem das mittlerweile eingestellte Onlinemagazin Inside.com im Januar erstmals über die "IT Files" berichtete, wurde das Thema in kürzester Zeit zum heißesten Thema des Netzes. Slashdot wurde mit Postings überschwemmt, Fan-Sites wie Theitquestion.com zogen in wenigen Tagen Millionen von Surfern an. Kurzzeitig schaffte es Ginger sogar in die Top 10 der Lycos-Suchbegriffe. Eifrige Surfer durchforsteten die Datenbanken der Patentbehörden und fanden dabei schon damals eine Anmeldung für eine Art motorisierten Roller. Die größte Erfindung seit dem World Wide Web - ein Roller?
Damit wollte sich damals nicht jeder abfinden. Kritiker der Roller-Theorie wandten ein, Kamen habe vielleicht aus Geheimhaltungsgründen für Ginger kein Patent beantragt. Außerdem war dies nur eine Theorie unter vielen. IT wurde als Abkürzung für Individual Transport gehandelt, aber auch für Interdimension Technology - eine Theorie, die besonders unter Star-Trek-Fans beliebt war. Andere sahen in Ginger eine Art Skateboard mit Transrapid-Antrieb, ein Mini-Luftkissenfahrzeug, einen Rollstuhl mit Füßen, einen Kleinsthubschrauber oder gleich einen Raketenantrieb zum Umschnallen.
Ein Hype außer Kontrolle?
Zu den wenigen Leuten, die das Gerät bereits vor Monaten zu Gesicht bekamen, gehört auch Steve Kemper. Der Wissenschaftsjournalist hat Kamen über anderthalb Jahre über die Schulter geguckt und dabei ein Buch über Ginger geschrieben. Ein amerikanischer Wissenschaftsverlag zahlte ihm dafür 250 000 Dollar Vorschuss - ohne zu wissen, worum es in dem Buch geht. Denn auch Kemper hielt still, allerdings auf seine Weise.
Seine für den Verlag geschriebene Buchankündigung soll voll von Andeutungen und vollmundigen Versprechungen gewesen sein, die den Verlegern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Als der Vertrag unter Dach und Fach war, ließ irgend jemand das Papier Inside.com zukommen, und der Hype nahm seinen Lauf. Kemper hat sich sicher sich über die Publicity ins Fäustchen gelacht, doch Kamen war das gar nicht so lieb. Er erklärte, die Buchankündigung reiße Zitate aus dem Zusammenhang und sei voll von Übertreibungen. Ist der Ginger-Hype also nicht viel mehr als ein geschickter Marketing-Gag für ein Buch, der von ein paar feixenden Firmenchefs unterstützt wurde und im Netz völlig außer Kontrolle geraten ist?
Kamen lässt sich von der jetzt um sich greifenden Enttäuschung nicht beirren. Segway sei für Autos das, was Autos für Pferdekutschen gewesen seien, diktierte er gestern der Presse ins Mikrofon. Das Time Magazine spricht sogar davon, Kamen habe das Rad noch einmal neu erfunden. Besonders begeistert haben den Time-Reporter die feinen Sensoren der Maschine. Diese ermöglichen beispielsweise ein Bremsen allein dadurch, dass man ans Bremsen denkt - die subtilen Körperreaktionen auf den Gedanken reichen aus, um Segway zum Stillstand zu bringen.
Dean Kamen ist deshalb auch weiterhin überzeugt, dass jeder Segway sofort kaufen will, sobald er es einmal ausprobiert hat. Doch es wird noch eine Weile dauern, bis sich dies in der Praxis überprüfen lässt. Einige Firmen wollen die ersten Prototypen schon in den nächsten Monaten testen, doch für Endkunden soll das Gerät erst in einem Jahr verfügbar sein. Vielleicht geht dann der Hype auch erst richtig los.
Ginger-Fansites: www.theitquestion.com - www.gingerpoll.com
Dean Kamens Tüftel-Labor
Gruß
Happy End
Vor einigen Jahren flatterte etlichen Bundesbürgern ein Zahlschein ins Haus. „Letzte Chance für die Einzahlung: 31.03.“ stand da drauf, und es ging um 121,50 Mark. Von Kontonummer und Bank abgesehen, fanden sich keine weiteren Informationen auf dem Zahlschein.
Wieso? Warum? Weswegen?
Viele Fragen. Kein Zahlungszweck. Mehr als 40000 Mark gingen innerhalb weniger Stunden auf dem Konto ein. Wochen, Monate später fragten sich dann doch einige Einzahler: Wofür haben wir bezahlt? Betrug! Allein: Der Staatsanwalt hatte es schwer, daraus eine Anklage wegen Betrugs zu stricken. Denn getäuscht wurden die Geldgeber nicht. Zahlungen, die nach dem 31.03. aufgegeben worden waren, hatte der Erfinder der brillanten Einzahlidee kommentarlos zurückgebucht. Die letzte Möglichkeit, 121,50 Mark zu zahlen, war der 31.03. Und von etwas anderem war nie die Rede. Dankeschön, der Nächste bitte.
Heute geht das vollautomatisch, übers Netz. Und es heißt auch nicht mehr „ein paar Idioten anscheißen“. Die Methode heißt „vergingern“.
Man braucht dazu ein paar Millionen Leichtgläubige aus der so genannten Web-Generation, die zu den „Information Rich“ gehören, weil sie die reichlich aus dem Netz sprudelnden Informationen alle für bare Münze nehmen – was sie langsam, aber sicher um ihr Erspartes bringt. Dazu noch ein paar in der Recherche leichtfüßige wie auch durch technische Phantasien beeindruckbare Journalisten und verdiente Helden des informationstechnischen Gewerbes, die über jeden Ruf erhaben sind, und sei es ein noch so guter.
Dann macht es Klick.
Dean Kamen ist ein Ingenieur aus dem Silicon Valley, 49 Jahre alt und ein Kumpel des Apple-Gründers Steve Jobs und des Amazon-Vormanns Jeff Bezos.
Kamen hat ein Geheimprojekt namens Ginger, das er mehreren Reportern unter Abnahme des großen Journalistenehrenworts ansatzweise so darstellte: „Es ist sensationell, es wird die Welt verändern, lässt sich in zehn Minuten zusammenbauen und kostet weniger als 2000 Dollar.“ Die renommierte Harvard University Press weiß auch nicht mehr und hat schon mal Dean Kamen für die Rechte an „Ginger – Das Buch“ 250000 Dollar bezahlt. Macht nichts.
»Wired«, das müde gewordene Kampfblatt der Web-Opas, macht hinter Kamens Kampagne die „Neuauflage des energiesparenden Stirling-Motors“ aus, möglicherweise aber ist es auch ein „motorisiertes Kickboard“. Und Kamen-Finanzier John Doerr, ein alter Silicon-Valley-Venture-Capitalist, findet, dass Kamen Henry Ford und Thomas Alva Edison in den Schatten stellen und überhaupt bald reicher sein wird als Bill Gates – womit wir übrigens an die Grenzen der Physik stoßen, was in diesem Zusammenhang weder überrascht noch vom Schreiben abhält: Das keiner Innovation ausweichende »Hamburger Abendblatt« mutmaßt nämlich, dass Kamen möglicherweise eine „Anti-Schwerkraft-Maschine“ entwickelt hat.
Die Folgen dieser Schwerkraftzersetzung zeigen sich eindrucksvoll: Internet-Auktionsdienste vertickern die Vorkaufsrechte für Ginger, und Tausende steigern mit, zahlen bis zu 500 Dollar für etwas, wovon sie nicht wissen, was es ist. Was?! Würden Sie nie machen?! Obacht. Denn immerhin haben sich Steve Jobs und Jeff Bezos bereit erklärt, Millionen in die Ginger-Entwicklung zu pumpen. Mensch! Da müssen sie dabei sein! Sonst werden wieder nur die beiden Ami-Oberschrate reich und Sie schon wieder nicht!
Oder sollten wir uns des Dichterworts erinnern: Der Laie staunt, der Fachmann kichert – hoffentlich gehirnversichert. Wir meinen: Ja. Denn Kamen, Jobs und Bezos machen sich nur einen kleinen globalen Jux. Hunderttausende, wenn nicht mehr, haben Millionen, sicher nicht weniger, für etwas bezahlt, was man eine „Killer Application“ nennt, eine revolutionäre Neuerung, von der niemand weiß, was sie ist. Eine Killer Application kann man salopp mit tödlicher Anwendung übersetzen. Das heißt, dass die Anwendung tot ist, bevor sie jemand benutzen kann, was entweder daran liegt, dass es die Anwendung nicht gibt oder aber dass sie nicht funktioniert, wobei die Chancen erfahrungsgemäß fifty-fifty stehen.
Unter dem Motto „Dumme muss es immer geben, denn wir müssen schließlich leben“ haben die Gentlemen das einigende Merkmal vieler so genannter Net-Investoren und ihres kleinanlegerischen Anhangs, Leichtgläubigkeit, zum Wohle der behinderten Menschheit ausgenutzt, die mit ihnen endlich wieder mal etwas zu lachen hat.
Mögen die Bilanzen von Apple und Amazon auch trostlos sein, Bezos, Jobs, Kamen, Doerr und ein paar ältere Jungs aus dem Valley lachen insgeheim bis der Arzt kommt oder sich die Schwerkraft aufhebt, weil jemand einen Stirling-Motor-Witz erzählt hat oder vom motorisierten Kickboard gefallen ist, nachdem er mit einem Dollarhaufen, der aus den Vorbestellungen von Ginger stammt, kollidierte. Bleibt zu hoffen, dass die lustigen Burschen des Silicon Valley ihren treuen Aposteln in aller Welt bald schon etwas zeigen, was man aufblasen kann oder lutschen oder Opa in den Bart kleben, wenn der nicht ins Internet will. Danke, liebe Ginger-Boys. Denn: Dämlich währt am längsten.
ES ist da
Über Ginger, den berühmtesten Roller des Jahrhunderts
Gestern stellte der amerikanische Erfinder Dean Kamen sein Projekt Ginger der Öffentlichkeit vor. Ginger, wahlweise auch schlicht IT genannt, galt über Monate als das größte Mysterium der Hi Tech-Branche. Nun wissen wir: Ginger ist ein elektrisch betriebener Roller.
Es sieht ziemlich lustig aus, wie ein mechanischer Rasenmäher. Es heißt Segway und wird rund 3000 Dollar kosten. Es fährt mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 Kilometer pro Stunde. Es fühlt sich an wie ein paar magische Turnschuhe, sagt sein Erfinder Dean Kamen. Es klingt also eigentlich ganz interessant.
Trotzdem gab es wahrscheinlich den ein oder anderen enttäuschten Zuschauer, als Kamen gestern seine neueste Erfindung im US-Fernsehen präsentierte. Denn es alais ES alias IT alias Ginger alias Segway war Anfang des Jahres als das heiße neue Ding bekannt und gehyped worden. Keiner wusste, was es war, aber jeder wollte es haben. Schließlich sollte es angeblich die Welt verändern. Oder wahlweise auch die Fundamente des Städtebaus erschüttern. Und es hatte wahnsinnig viele einflussreiche Freunde.
"Bedeutender als das World Wide Web"
Wie etwa John Doerr. Er habe nicht geglaubt, jemals in seinem Leben wieder eine so bedeutende Entwicklung wie das World Wide Web zu Gesicht zu bekommen, erklärte der bekannte Venture-Kapitalist. Jedenfalls nicht, bis er IT sah. Danach war Doerr überzeugt: Es wird die Welt verändern. Als Doerr dies der Öffentlichkeit mitteilte, war kaum etwas über das geheimnisvolle Gerät bekannt. Fest stand allein, dass es von einem gewissen Dean Kamen erfunden worden war. Kamen hbatte sich zuvor eher mit Dingen wie dem treppensteigenden Rollstuhl und dem mobilen Blutzuckermessgerät einen Namen gemacht. Nicht gerade Dinge, die an Hi Tech und Silicon Valley denken lassen. Doch bald wurde bekannt, dass er mit seiner Erfindung bei Amazon-Chef Jeff Bezos und Steven Jobs von Apple vorbeigeschaut hatte. Beide waren spontan begeistert. Der Macintosh-Guru erzählte im Anschluß an das Treffen, Ginger spreche für sich selbst. Wer es gesehen habe, müsse nicht mehr davon überzeugt werden. Jobs und Bezos erklärten sich spontan bereit, Kamen als Berater zur Seite zu stehen. Und Doerr, der schon Netscape, Amazon und Excite auf die Beine geholfen hat, kümmerte sich gemeinsam mit Xerox-Chef Paul Allaire um die Finanzierung. Allaire rechnete damit, dass Ginger in einem Jahr mehr Geld einnehmen werde als je ein Startup erwirtschaftet hat. Ginger-Erfinder Kamen werde dadurch in fünf Jahren reicher sein als Bill Gates.
Wer zur Hölle ist Warren Beatty?
Dean Kamen ist so etwas wie der Protoyp des amerikanischen Nerds. In der Schule war er schlecht, weil sie ihn langweilte. Warum sollte er auch Dinge lernen, die alle anderen sowieso schon wussten? Kein Wunder, dass er es mit dieser Einstellung auch am College nicht lange aushielt. Statt zu studieren, entwickelte er lieber portable Geräte für Zuckerkranke, die ihn mit 25 zum Millionär machten. Mittlerweile ist Kamen 50, Multimillionär, Träger der höchsten amerikanischen Wissenschaftsauszeichnung und ganz und gar besessen von seiner Arbeit. Manche Leute würden ihn sicher als weltfremd bezeichnen. Als er einmal zu einem Dinner ins weiße Haus eingeladen wurde, saß er angeblich neben zwei Menschen, von denen er noch nie etwas gehört hatte: Warren Beatty und Shirley MacLaine.
Einem Team des Fernsehsenders CBS erklärte er einmal, wenn ihn jemand für verrückt halte, sei das ein großes Kompliment für ihn. Gut möglich, dass Kamen von seinen Nachbarn ständig Komplimente bekommt: Wer sein Haus betritt, fällt Medienberichten zufolge als erstes über eine riesige, 150 Jahre alte Dampfmaschine. Und für den Weg zur Arbeit benutzt der exzentrische Erfinder einen seiner beiden Hubschrauber. Gut, das machen andere auch. Aber andere kaufen nicht erst den Hersteller der Hubschrauber auf, um die Konstruktion der Geräte zu optimieren.
Zu Ginger wollte Kamen aber über Monate hinweg nichts sagen. Anfangs erklärte er, die Erfindung werde möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf einige Giganten der Old Economy haben. Dann befürchtete er offenbar, diese könnten ihm einen Strich durch die Rechnung machen und hielt den Ball lieber flach. Der ganze Rummel um Ginger sei etwas übertrieben, so Kamen gegenüber Journalisten.
Ein Beamer, ein Düsenantrieb, ein Roller?
Doch die Netzgemeinde ließ sich davon nicht beirren. Nachdem das mittlerweile eingestellte Onlinemagazin Inside.com im Januar erstmals über die "IT Files" berichtete, wurde das Thema in kürzester Zeit zum heißesten Thema des Netzes. Slashdot wurde mit Postings überschwemmt, Fan-Sites wie Theitquestion.com zogen in wenigen Tagen Millionen von Surfern an. Kurzzeitig schaffte es Ginger sogar in die Top 10 der Lycos-Suchbegriffe. Eifrige Surfer durchforsteten die Datenbanken der Patentbehörden und fanden dabei schon damals eine Anmeldung für eine Art motorisierten Roller. Die größte Erfindung seit dem World Wide Web - ein Roller?
Damit wollte sich damals nicht jeder abfinden. Kritiker der Roller-Theorie wandten ein, Kamen habe vielleicht aus Geheimhaltungsgründen für Ginger kein Patent beantragt. Außerdem war dies nur eine Theorie unter vielen. IT wurde als Abkürzung für Individual Transport gehandelt, aber auch für Interdimension Technology - eine Theorie, die besonders unter Star-Trek-Fans beliebt war. Andere sahen in Ginger eine Art Skateboard mit Transrapid-Antrieb, ein Mini-Luftkissenfahrzeug, einen Rollstuhl mit Füßen, einen Kleinsthubschrauber oder gleich einen Raketenantrieb zum Umschnallen.
Ein Hype außer Kontrolle?
Zu den wenigen Leuten, die das Gerät bereits vor Monaten zu Gesicht bekamen, gehört auch Steve Kemper. Der Wissenschaftsjournalist hat Kamen über anderthalb Jahre über die Schulter geguckt und dabei ein Buch über Ginger geschrieben. Ein amerikanischer Wissenschaftsverlag zahlte ihm dafür 250 000 Dollar Vorschuss - ohne zu wissen, worum es in dem Buch geht. Denn auch Kemper hielt still, allerdings auf seine Weise.
Seine für den Verlag geschriebene Buchankündigung soll voll von Andeutungen und vollmundigen Versprechungen gewesen sein, die den Verlegern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Als der Vertrag unter Dach und Fach war, ließ irgend jemand das Papier Inside.com zukommen, und der Hype nahm seinen Lauf. Kemper hat sich sicher sich über die Publicity ins Fäustchen gelacht, doch Kamen war das gar nicht so lieb. Er erklärte, die Buchankündigung reiße Zitate aus dem Zusammenhang und sei voll von Übertreibungen. Ist der Ginger-Hype also nicht viel mehr als ein geschickter Marketing-Gag für ein Buch, der von ein paar feixenden Firmenchefs unterstützt wurde und im Netz völlig außer Kontrolle geraten ist?
Kamen lässt sich von der jetzt um sich greifenden Enttäuschung nicht beirren. Segway sei für Autos das, was Autos für Pferdekutschen gewesen seien, diktierte er gestern der Presse ins Mikrofon. Das Time Magazine spricht sogar davon, Kamen habe das Rad noch einmal neu erfunden. Besonders begeistert haben den Time-Reporter die feinen Sensoren der Maschine. Diese ermöglichen beispielsweise ein Bremsen allein dadurch, dass man ans Bremsen denkt - die subtilen Körperreaktionen auf den Gedanken reichen aus, um Segway zum Stillstand zu bringen.
Dean Kamen ist deshalb auch weiterhin überzeugt, dass jeder Segway sofort kaufen will, sobald er es einmal ausprobiert hat. Doch es wird noch eine Weile dauern, bis sich dies in der Praxis überprüfen lässt. Einige Firmen wollen die ersten Prototypen schon in den nächsten Monaten testen, doch für Endkunden soll das Gerät erst in einem Jahr verfügbar sein. Vielleicht geht dann der Hype auch erst richtig los.
Ginger-Fansites: www.theitquestion.com - www.gingerpoll.com
Dean Kamens Tüftel-Labor
Gruß
Happy End