Während der Leitzins in den USA zum Jahresbeginn 2002 noch einen halben Prozentpunkt über dem EU-Satz lag, hat sich das Verhältnis bis heute drastisch verkehrt. USA: 1,25 Prozent / EU: 3,25 Prozent.
Seit Januar 2000 hat die amerikanische Notenbank (Fed) den Leitzins zwölf Mal in Folge gesenkt. Fed-Chef Alan Greenspan verbilligte dabei die Richtschnur für Kreditzinsen in den USA von 6,5 auf 1,25 Prozent.
Der Wachstumsimpuls für die Wirtschaft hielt sich dabei allerdings in Grenzen. Die jüngere Historie belegt damit einen jahrhundertealten volkswirtschaftlichen Grundsatz: Der Effekt einer Zinssenkung ist kurzfristig messbar, nach einigen Monaten ist der direkte Impuls auf die Konjunktur aber verpufft. Der Deflationseffekt ist jedoch nachhaltig - die Inflationsrate der vergangenen drei Jahre war sowohl in den USA wie auch in der EU gering.
Was Greenspan sich nicht zuletzt von dem Zinsschritt in der zweiten Novemberwoche erhofft haben wird, war die Ankurbelung der Investitionen. Doch statt eines Investitionszyklus', wie er häufig nach konjunkturschwachen Phasen entsteht, ist bis heute eher das Gegenteil zu beobachten: Ein Desinvestions-Zyklus mit Arbeitsplatzabbau, sinkenden Konsumausgaben und Kreditabteilungen bei den Banken, die von den Unternehmen hohe Sicherheiten vor der Vergabe von Krediten verlangen.
Wirtschaft und Börse - ob Wall Street oder Dax - zeigen ergo wenig Anzeichen für einen nahenden, nachhaltigen Aufschwung.
Die wichtigsten Zinsschritte der US-Notenbank und ihre Effekte im Überblick:
Datum Neuer Zinssatz Zinsschritt
(Tagesgeld) (in Prozentp.)
06.11.02 1,25 -0,50
11.12.01 1,75 -0,25
06.11.01 2,00 -0,50
02.10.01 2,50 -0,50
17.09.01 3,00 -0,50
21.08.01 3,50 -0,25
27.06.01 3,75 -0,25
15.05.01 4,00 -0,50
18.04.01 4,50 -0,50
20.03.01 5,00 -0,50
31.01.01 5,50 -0,50
03.01.01 6,00 -0,50
Greenspan gibt Gas, doch Wim bleibt unbeweglich. Der Chef der EZB muss sich den Vorwurf anhören, die stotternde Konjunktur in Euroland vollends abzuwürgen. Doch auch der Kurs der Fed ist sehr riskant - die Reaktion der Börsen spricht eine klare Sprache.
Das Dutzend ist voll. Mit der zwölften Zinssenkung in Folge hat Notenbankchef Alan Greenspan die US-Leitzinsen auf 1,25 Prozent gedrückt, das tiefste Niveau seit mehr als vierzig Jahren. Die Notenbanker haben sich sogar für einen großen Schluck aus der Pulle entschieden – mit einem Zinsschritt um 50 Basispunkte wollen sie den "erhöhten geopolitischen Risiken" für die Konjunktur begegnen.
Rechtzeitig vor der Einkaufssaison zwischen Thanksgiving und Weihnachten sendet die Fed an die Konsumenten das Signal, mit dem Geld doch bitteschön etwas lockerer umzugehen. Deren Vertrauen in die Wirtschaftsleistung ihres Landes ist auf den tiefsten Stand seit neun Jahren gefallen, da bedarf es etwas Aufmunterung. Schließlich ist die Zeit zwischen 28. November und Weihnachten die Hauptumsatzzeit für den Einzelhandel, und die Konsumausgaben sind für zwei Drittel der US-Wirtschaftsleistung verantwortlich.
Auch die Unternehmen sollen ihre Zurückhaltung aufgeben und endlich wieder mehr Geld ausgeben. Der schwache Einkaufsmanager-Index und das gesunkene Verbrauchervertrauen waren für die Notenbanker die jüngsten Alarmzeichen, dass die US-Wirtschaft gleich von zwei Seiten unter Druck gerät. Also hieß es, ganz im Gegensatz zur zögerlichen und geschmähten EZB: Klotzen, nur nicht kleckern.
Der Applaus unmittelbar nach der Zinssenkung war der Fed sicher. Schließlich ist Alan Greenspan stets beherzt eingesprungen, wenn Wirtschaft und Börsenkurse ins Wanken gerieten. Mit ihrer Studie "Preventing Deflation: Lessons from Japan´s Experience" hat die US-Notenbank ihre Akzente gesetzt: Für weitaus gefährlicher als eine Inflation hält sie die Deflation, also die anhaltende Zurückhaltung von Konsumenten und Industrie trotz fallender Preise. Die gefürchtete "japanische Krankheit" hält Nippons Volkswirtschaft seit 1999 am Boden. Es sei daher richtig, dass die Fed "ihre Munition lieber früher als später nutzt", meint Goldman Sachs-Ökonom Bill Dudley.
Der Fed kann man nicht nachsagen, sie habe wie die japanische Notenbank die Zeit des Handelns verschlafen. Siehe ihre zwölf Zinssenkungen innerhalb von zwei Jahren. Eine Zinssenkungs-Orgie nach der Devise: Lieber eine höhere Verschuldung als Kaufzurückhaltung, die den meisten US-Bürgern ohnehin wesensfremd ist. Also mit Macht noch einmal die Zinsen herunter, und nun mit Powershopping gegen die Deflation.
Dem ersten Jubelruf an der Wall Street folgte jedoch schnell die Ernüchterung. Die Kurse in New York marschierten bereits einen Tag nach der Zinssenkung deutlich gen Süden – ungewöhnlich nach dem überraschend hohen Zinsschritt und ein Indiz dafür, dass die Fed sich auf ein riskantes Spiel eingelassen hat. Mit den "geopolitischen Risiken" kann nur ein Militärschlag gegen den Irak gemeint sein, für den Präsident Bush nach dem Sieg der Republikaner im Kongress nun umso mehr Rückendeckung hat.
Auf den Beginn des Golfkrieges 1990/91 hat die US-Notenbank seinerzeit mit einer Zinssenkung um 225 Basispunkte reagiert. Diesen Spielraum hat sie nun nicht mehr. Sollte der überraschend große Zinsschritt nicht zünden und die US-Wirtschaft im Frühjahr in eine kriegsbedingte Rezession abgleiten, bleiben der Notenbank nur noch 125 Basispunkte Spielraum. Dann wäre auch sie bei Japans Nullzinspolitik angekommen.
Viele Volkswirte werfen der Europäischen Zentralbank eine zu zögerliche Haltung vor, doch nicht wenige befürchten auch, dass die US-Notenbank diesmal die Schraube überdreht haben könnte. Ein großer Zinsschritt bei diesem bereits niedrigen Niveau – da kommen schnell Befürchtungen auf, dass der Zustand der US-Wirtschaft weiter kritisch ist. Gleichzeitig hat die Fed ihre mittelfristige zinspolitische Ausrichtung auf "neutral" gesenkt, hält weitere Zinsschritte also vorerst für nicht nötig: Dieser Spagat scheint vielen Beobachtern inkonsequent. Die Verunsicherung an den Märkten ist deutlich zu spüren.
Außerdem löst auch ein kurzfristiger Konsumrausch zur Weihnachts-Einkaufszeit nicht das Problem, dass die Amerikaner hoch verschuldet sind und sich nicht mehr länger auf Aktiengewinne zur Finanzierung ihrer Pension verlassen können. Sinkende Zinsen sind ein Anreiz, immer neue Kredite aufzunehmen – doch irgendwann müssen diese Kredite auch bezahlt werden. Ein überschuldeter Haushalt wird sich eines Tages auch von günstigen Darlehen nicht mehr locken lassen – und dann dürfte die Nachfrage umso deutlicher einbrechen.
Skeptiker unter den Volkswirten wenden ein, dass die Zurückhaltung der Unternehmen nötig ist, da sie während des Investitionsbooms der 90er Jahre über ihre Verhältnisse gelebt haben. Diese Überkapazitäten müssen abgebaut werden: Wenn die US-Notenbank nun mit extrem niedrigen Zinsen dagegen hält und zu weiteren Investitionen lockt, verzögert sie einen notwendigen Heilungsprozess. Die Notenbank hat mit ihrem großen Zinsschritt zwar die Überraschung und den Applaus auf ihrer Seite, sie hat sich jedoch auf einen gefährlichen Kurs begeben.
Die gescholtenen Eurobanker halten dagegen ihr Pulver weiter trocken. Für viele Volkswirte, die sich eine aktivere Rolle der EZB wünschen, ist es nicht nachvollziehbar, dass der Leitzins im wirtschaftlich ebenso schwächelnden Euroland nun mehr als doppelt so hoch ist wie in den USA. Wim Duisenberg, der Unbewegbare, steht Alan Greenspan, dem Entschlossenen, gegenüber.
Allerdings sehen sich die europäischen Währungshüter in einer anderen Rolle als die US-Kollegen: Ihre Aufgabe sei es nicht, die Konjunktur anzuschieben, sondern für Preisstabilität zu sorgen. Wenn Hilfen für die Konjunktur, dann über stabile Preise. Und eine Inflation von mehr als zwei Prozent in der Eurozone ist für die EZB nicht akzeptabel. Hinzu kommt das Wachstum der Geldmenge, ein schwaches Argument, da es in erster Linie Konsequenz der Anlegerflucht aus Aktien in Anleihen ist. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings die Gefahr, dass höhere Lohnabschlüsse und steigende Ölpreise die Inflation anheizen.
Doch auch die lahmende Konjunktur in Euroland schreit nach Hilfe, und entsprechend scharf ist die Kritik von Ökonomen an der EZB. Die gesamte Euro-Zone gerate in einen Abschwung, und Deutschland sei nur knapp von einer Rezession entfernt, kritisiert zum Beispiel das Investmenthaus Bear Stearns. Kritiker sprechen gar von einer Trotzreaktion der EZB, die nach der Diskussion um den Stabilitätspakt ein Zeichen setzen und gleichzeitig beweisen wolle, dass sie sich als politisch unabhängige Institution nicht durch Medien und Politik unter Druck setzen lässt.
"Wir hatten lange mit einer aggressiven Zinssenkung gerechnet und sind nun schon enttäuscht", erklärte ein Volkswirt der HypoVereinsbank. Nach Einschätzung der CSFB hatten die Eurobanker jedoch verschiedene Gründe, sich mit Zinssenkungen zurückzuhalten: Umso größer sei ihr Spielraum, wenn ein Waffengang im Irak Schockwellen für die Weltwirtschaft aussendet.
Die Mehrheit der Volkswirte rechnet nun damit, dass die EZB die Zinsen noch im Dezember oder spätestens im Frühjahr um 0,5 Prozent auf dann 2,75 Prozent senken wird. Nach Ansicht von Thomas Mayer, Europa-Chefvolkswirt der Deutschen Bank, dürften die Eurobanker noch abwarten, bis sich die Aufregung um den Stabilitätspakt gelegt habe und Regierungen von Deutschland oder Portugal ihren Sparwillen gezeigt hätten. Auf Sicht von drei Monaten sei eine Zinssenkung um 0,5 Prozent auch in der Eurozone wahrscheinlich.
Die Eurobanker können nicht allen gerecht werden, da sie für den gesamten Währungsraum nur einen Leitzins festsetzen. Und in den meisten Ländern der Eurozone ist eine Deflation unwahrscheinlich: Dagegen sprechen Teuerungsraten von rund zwei Prozent, steigende Löhne und sogar ein Wachstum der Bankkredite. Außerdem dürften die Kursverluste an den Börsen nicht so stark auf den Konsum niederschlagen wie in den USA, da die Europäer bei ihrer Vermögensplanung weniger stark auf Aktien vertrauen.
Deflationsgefahren gibt es dagegen in Deutschland. In der größten Volkswirtschaft der Europäischen Union ist die Preissteigerungsrate niedriger als in den Nachbarländern. Der Mittelstand wird von hoher Abgabenlast drangsaliert: Bis Jahresende rechnen Volkswirte mit mehr als 40.000 Pleiten in Deutschland. Hohe Arbeitslosigkeit führt zu starker Zurückhaltung beim Konsum, und auch die Unternehmen halten sich mit Investitionen zurück. Deutschland werde noch einige Jahre Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum sein, schätzt David Walton, Volkswirt bei Goldman Sachs.
Starthilfe für die Konjunktur ist also gerade in Deutschland bitter nötig. Von der EZB kam dieser Impuls nicht – bei anhaltend hohen Realzinsen dürften sich Unternehmen mit der Kreditaufnahme und Investitionen weiter schwer tun. Auch von der Regierung ist nach Ansicht von Walton keine Erhöhung der Staatsausgaben zu erwarten, da der europäische Stabilitätspakt Finanzminister Eichel zum Sparen zwingt.
Doch statt allein auf die Eurobanker zu schimpfen, sollten die einzelnen Länder der Union erst einmal ihre Hausaufgaben machen: In Deutschland seien eine Reform des Arbeitsmarktes, der Altersvorsorge und des Steuersystems überfällig. Noch ist nach Ansicht von Goldman Sachs die Gefahr gering, dass in Deutschland "japanische Verhältnisse" einkehren. Bleiben die nötigen Reformen jedoch aus, könnte der Konjunkturmotor vollends abwürgen. Die EZB setzt Deutschland stärker unter Zugzwang. Sie trägt aber nicht die Schuld an der Misere.