Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung)

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Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung)

 
10.02.02 00:41
Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571470

Medizin von Morgen


Folge 1: Das entschlüsselte Genom - neue Waffen gegen die Krankheit

Genforschung: Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts

Die Forscher lernen, im Erbgut des Homo sapiens zu lesen. Mediziner hoffen auf neue Waffen gegen den Krebs und maßgeschneiderte Medikamente, Geningenieure bauen den Menschen um. Ethiker fragen: Haben Kinder ein Recht auf verbesserte Gene?

Letzte Woche verkündete der Amerikaner Craig Venter einen Durchbruch bei der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. Eine neue Ära bricht an: Genchips werden die Medizin der Zukunft bestimmen. Ist der genmanipulierte Mensch das nächste Ziel?

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Links, geradeaus, ein kleines Zucken, dann senkt sich der Roboterarm. Mikrometergenau injiziert er ein Substrat in winzige Näpfe auf einem Glasplättchen, dann beginnt der Vorgang wieder von vorn.

Was hier am Berliner Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik Roboter an einem Vormittag vollbringen, wäre noch vor wenigen Jahren genug Stoff für dutzende von Doktorarbeiten gewesen. Durch piezoelektrische Düsen - die Technik guckten sich die Biologen bei Tintenstrahldruckern ab - verspritzt der Roboter Stränge menschlicher Erbsubstanz, in Portionen von weniger als ein millionstel Millilitern. Das so bestückte Plättchen wird dann an den nächsten Automaten weitergereicht. Dieser führt damit zehntausende von Experimenten gleichzeitig durch.

"Die Biologie befindet sich in der größten Umwälzung ihrer Geschichte", schwärmt Hans Lehrach, einer der Direktoren an dem Institut. "Wir sind in der Rolle eines Landvermessers, der seit Jahrhunderten Berge und Flüsse mit dem Zollstock vermessen hat und nun plötzlich Satellitenunterstützung bekommt." Pipette und Petrischale, seit Jahrzehnten das Standardgerät der Molekularbiologen, sind passé. An ihre Stelle treten Automaten.

Motor der sich anbahnenden Revolution sind die Methoden zur Entschlüsselung des Erbguts. Im Alleingang hat ein einzelner Mann die Verfeinerung dieser Technik vorangetrieben. Am vergangenen Donnerstag trat er mit einer Botschaft vor die Presse, mit der er einmal mehr unter Beweis stellte, dass er der weltweiten Forscherelite den Rang abläuft: Craig Venter, 53, verkündete, er habe sämtliche Gen-Bausteine des Menschen entschlüsselt. In drei, höchstens sechs Wochen werde er sie zum vollständigen Gentext zusammengesetzt haben.

Vor zehn Jahren hatten sich einige visionäre Forscher vorgenommen, dieses Ziel bis zum Jahr 2005 zu erreichen - und wurden für diesen vermessenen Plan von den meisten ihrer Kollegen verlacht. In den vergangenen Monaten jedoch zeigte sich, dass sie noch viel zu bescheiden gewesen waren.

Schon heute sind die Sequenzen von mehr als 60 000 der vermutlich 100 000 bis 140 000 menschlichen Gene in Datenbanken abrufbar. Von etwa 10 000 von ihnen ist auch die biologische Funktion bekannt.

Die Genome von 28 Lebewesen haben die Forscher schon geknackt. Erst waren es Bakterien, dann kamen die Bierhefe, der Fadenwurm, die Fruchtfliege hinzu. Und unentwegt flutet aus den Labors der Schwall neuer Genbuchstaben in die Datenspeicher. In wenigen Wochen wird der Bauplan des Menschen entschlüsselt und digitalisiert sein. Binnen weniger Jahre werden diejenigen von Maus, Hund und Huhn, von Reis, Mais und Weizen hinzukommen.

Anfangs war es einzig ein internationales Konsortium, das die weltweite Sequenzierarbeit am Menschengenom koordinierte. Schritt für Schritt taten sie kleine Etappensiege kund.

Doch seit Venter die Bühne betrat, gelten diese nicht mehr viel. Dank brachialer Maschinengewalt überrannte seine Firma Celera das internationale Genomprojekt mit einem Überraschungsangriff. Im letzten September legte der Herausforderer los. Im Januar sah er bereits ersten Grund zum Triumph: "Ein monumentaler Augenblick, nicht nur für Celera, sondern für die Geschichte der Medizin." 90 Prozent der Sequenzierarbeit seien vollbracht.

Selbst jetzt, nachdem er die 100-Prozent-Marke fast erreicht hat, versuchen Venters öffentlich finanzierte Rivalen noch, seine Methode madig zu machen. So spottet ein Mitverantwortlicher für das Genomprojekt: "Venters Verfahren entspricht dem Schreddern von Lexika." Bisher habe er nur die Schnipsel. Die eigentliche Arbeit, sie wieder zu einem vollständigen Gentext zusammenzufügen, stehe ihm noch bevor.

Doch mit jeder neuen Erfolgsmeldung des rührigen Amerikaners schrumpft die Zahl der Skeptiker - und mit dem Respekt wächst auch die Angst vor der künftigen Marktmacht von Celera.

Die Folgen von Venters Triumph könnten gewaltig sein. Denn er führt seinen Blitzkrieg nicht uneigennützig: Schon jetzt hat er 6500 Patente auf menschliche Gene beantragt. Dereinst, so fürchten viele, könnte er zum Monopolisten des herandämmernden Genzeitalters aufsteigen. Bill Gates, so heißt es in der Branche, habe seine Milliarden mit Programmzeilen gemacht; Venter werde das Gleiche mit den genetischen Buchstaben vollbringen.

Noch ist das Jahrhundertwerk nicht ganz vollendet, da läuten Wissenschaft und Industrie bereits die "Post-Genom-Ära" ein. Die Abfolge von über drei Milliarden chemischer Buchstaben, die sich in den 23 Chromosomen des Menschen aneinander reihen, sei zunächst nicht mehr als "im Computer gespeichertes Katalogwissen", erklärt der Berliner Molekularbiologe Jens Reich. Es entspreche gleichsam dem ersten Anatomieatlanten, in dem alle Muskeln, Knochen und Sehnen des Körpers verzeichnet waren. Und so, wie daraus die heutige Heilkunst erwachsen sei, so werde aus der Erbgutsequenz die Medizin des anbrechenden Jahrhunderts hervorgehen.

Jetzt gilt es, den Schatz des Wissens zu heben, zu ergründen, wann welche der 210 Zelltypen im Körper Gebrauch von welchem Gen machen, welche Funktion im Stoffwechsel ein Gen hat und wie es mit tausenden anderer Gene in Wechselwirkung tritt.

Schon haben zwei Max-Planck-Institute, in Freiburg und Hannover, gemeinsam mit Kollegen aus vier anderen europäischen Ländern, das Projekt "Eurexpress" gestartet: Bei 6000 Mäuse- und zunächst 400 Menschen-Gensequenzen wollen sie herausfinden, wann sie in welchen Nervenzellen angeschaltet werden. Das Ziel der Forscher: eine dreidimensionale Karte des Hirns, in der das Geplauder der Gene exakt verzeichnet ist.

Die Franzosen haben eine Milliarde Francs für die Post-Genomforschung bereitgestellt. Und japanische Forscher jammern bereits, die Mittel zur Entschlüsselung des Erbguts würden knapp: Vor lauter Zukunftseuphorie werde vergessen, dass die Entschlüsselung noch gar nicht abgeschlossen ist.

Inzwischen treibt nicht mehr die Wissenschaft, sondern die Industrie die rasante Entwicklung voran. Lange hatte sie das Genomprojekt als wirtschaftlich uninteressante Grundlagenforschung abgetan. Nun hat sie die Datenberge als Goldgrube entdeckt; Analysten überschlagen sich mit Prognosen eines sprießenden Milliardenmarkts.

Binnen weniger Jahre hat sich die Strategie der Pharmafirmen umgekehrt: Ehedem konnten sie bei der Medikamentenentwicklung nur auf eine vergleichsweise geringe Zahl bekannter Eiweiße zurückgreifen. Nun können sie die Buchstabenabfolge nach Genen durchforsten, die möglicherweise medizinisch nutzbar sind. Die Firmen lassen sich dabei von der Gewissheit leiten: Ein Gen enthält den Befehl, irgendein Eiweiß zu bauen, und jedes Eiweiß hat im Körper irgendeine Funktion.

Erste Erfolge beim Durchmustern des Erbguts zeichnen sich bereits ab: Die Firma Human Genome Sciences in Rockville bei Washington stieß auf ein offenbar höchst wirksames Wundheilungsprotein, auf eine Substanz, die neue Blutgefäße sprießen lässt, und auf einen Faktor, der bei Krebspatienten die Teilung von Blutstammzellen stoppen könnte. Das kalifornische Unternehmen Amgen kam einem Rezeptor auf die Spur, der die Knochenfestigkeit zu regulieren scheint. Immunex aus Seattle untersucht ein Protein, das offenbar Tumorzellen absterben lässt.

Auch in Deutschland geht, wenngleich verhaltener als in den USA, das Genomfieber um: Eine Gründerwelle hat in den letzten drei Jahren über 170 neue Biotech-Firmen hervorgebracht. Switch Biotech in Martinsried bei München etwa hat gerade Patente für 36 Gene beantragt, die eine Rolle im Wundheilungs-, möglicherweise auch im Entzündungsprozess spielen.

Andere Neugründungen setzen auf das florierende Feld der Bioinformatik: Sie entwickeln Software, die der anschwellenden Datenflut Herr werden soll. Augenscheinliches Indiz dafür, dass die Zukunft von Biologie und Medizin im Informationsmanagement liegt, ist das plötzliche Interesse der Elektronikgiganten Motorola, Hewlett-Packard und Texas Instruments. Auch IBM steigt ins Biogeschäft ein: Für 100 Millionen Dollar will der Konzern einen Rechner der Superlative schaffen. Sein Name: Blue Gene. Seine Aufgabe: aus dem Erbgutstrang auf die dreidimensionale Struktur von Eiweißen zu schließen.

Als größter Markt aber gelten die Genchips. Wie einst Transistoren in einem integrierten Schaltkreis vereinigt wurden, so sollen nun tausende oder sogar zehntausende von Labortests auf pfenniggroße Plättchen passen.

Die Aktivität von über 30 000 Genen lässt sich schon heute mit Tests von Incyte nachweisen, mit denjenigen des Konkurrenten Affymetrix sogar 40 00. Außerdem hat Affymetrix Chips im Angebot, die ermitteln, welche von 1700 Krebsgenen im Gewebe aktiv sind. Ein weiterer Chip analysiert das Gen für Cytochrom P450, ein pharmakologisch höchst interessantes Enzym, das verantwortlich ist für den Abbau vieler Medikamente in der Leber.

Die digitalisierte Hinterlassenschaft der Genomforscher wird, so viel ist gewiss, das Bild vom menschlichen Körper, ja vom irdischen Leben überhaupt grundlegend wandeln. Bisher haben sich die Wissenschaftler meist mit einzelnen Genen, Hormonen oder Enzymen befasst - und damit allenfalls an der Oberfläche der natürlichen Komplexität gekratzt.

Nun liegt bald das Buch des Lebens offen vor ihnen im Datennetz. Sie müssen nur noch lernen, es zu lesen.

Mit der Handarbeit in herkömmlichen Labors geht das nicht. Denn in Jahrmilliarden hat die Evolution in jedem Bakterium einige tausend, in jedem Wurm einige zigtausend, im Menschen schließlich über hunderttausend Gene zu einem raffinierten Netzwerk versponnen. In einigen Zellen sind über 40 000 Gene gleichzeitig aktiv, und jedes kann auf jedes andere einwirken.

Um dieses Geflecht der Wechselwirkungen zu entwirren, brauchen die Forscher zwei mächtige Verbündete: Roboter und Computer. Die Sequenzierautomaten, die gegenwärtig den Gentext buchstabieren, sind nur die Vorboten neuer Gerätegenerationen, die dereinst die Biologieinstitute bevölkern werden. Da wird es Apparate geben, die messen, welches Biomolekül wie mit anderen interagiert. Andere werden tausende von Eiweißkristallen züchten, die dann von Neutronenstrahlen durchleuchtet werden können, um ihre dreidimensionale Struktur aufzuklären.

Selbst die Erzeugung so genannter Knock-out-Mäuse, in denen einzelne Gene gezielt ausgeschaltet werden, könnten Roboter übernehmen. Auch an Automaten, die systematisch die Rolle von Genen während der Fischembryonen-Entwicklung untersuchen, wird schon gearbeitet.

Rund um die Uhr werden Maschinen im vollautomatisierten Labor der Zukunft Messdaten produzieren. Diese geben sie dann an Rechner weiter, die sie vergleichen, verknüpfen und nach auffälligen Zusammenhängen durchforsten sollen. Irgendwann ließen sich all diese Informationen zu einer im Computer simulierten Zelle verschmelzen, diese Zellen wiederum zum virtuellen Menschen, in dem alle Stoffwechselprozesse detailgetreu nachgebildet sind.

Die Aufgabe des Biologen würde dann nur noch darin bestehen, am Bildschirm vorverdauten Zahlenkolonnen, Proteinstrukturen oder Genexpressionsmustern ihre Geheimnisse zu entlocken. Die Chemikalien, Zellkulturen und Reagenzgläser, die heute seinen Alltag prägen, bekäme er so wenig zu Gesicht wie Astronomen die Schwarzen Löcher oder Elementarteilchenphysiker die Quarks.

Je mehr aber die Forscher dem Gegenstand ihrer Neugier entfremdet werden, desto mehr Informationen können sie mittelbar aus dem Datenmeer destillieren: Gleichsam eingefroren im Erbgut heutiger Bakterien liegt vermutlich noch die Antwort auf die Frage verborgen, wann und wie Organismen die Fähigkeit erlangten, den Stickstoff aus der Luft zu binden, aus Licht mittels Fotosynthese biochemische Energie zu gewinnen oder Sauerstoff zur Atmung zu nutzen - Wendepunkte in der Geschichte des Lebens, die jeweils das ganze Angesicht des Planeten Erde verwandelten.

Im Erbgut heutiger Arten liegt archiviert, wann sich Tiere und Pflanzen schieden, aber auch, wann aus Einzellern die ersten mehrzelligen Wesen hervorgingen. Bis zu den Wurzeln wird sich mittels genetischer Daten der Stammbaum der Primaten, der Säugetiere, der Wirbeltiere verfolgen lassen.

Im Genom der Affen sieht die Zeitschrift "Science" einen "noch unangetasteten Schatz, der entscheidende Schlüssel zur Menschwerdung enthält". Denn in den 1,5 Prozent des Erbguts, in denen sich Homo sapiens und Schimpanse unterscheiden, muss nicht nur das Geheimnis des aufrechten Gangs und der felllosen Haut, sondern auch das der Sprache, der Musik und der Poesie verborgen liegen.

Aber nicht nur Entwicklungs- und Evolutionsbiologen, auch Tiergärten und Lebensversicherer, Artenschützer und Brauereien, Umwelt- und Kriminalpolizei, Kosmetikfirmen und Landwirte werden schon bald wie selbstverständlich die Bio-Datenbanken anzapfen. Der tiefstgreifende Wandel aber steht der Medizin bevor. Drei Trends zeichnen sich ab:

die Individualisierung der Therapie - die Erkenntnisse der Genomforscher werden es den Ärzten ermöglichen, die individuellen Erbanlagen ihrer Patienten zu bestimmen und die Behandlung darauf abzustellen;

die Hinwendung zur Vorbeugung - die Genanalyse wird offenbaren, von welchen Leiden einem Patienten besondere Gefahr droht; die Mediziner werden deshalb nach Wegen suchen, deren Ausbruch zu verzögern oder zu verhindern;

der Vorstoß zur Keimbahn - je besser das Wirkungsgeflecht der Gene bekannt ist, desto mehr wird die Versuchung wachsen, durch Genmanipulation gezielt in dieses Regelwerk einzugreifen.
"Snips" lautet das Schlagwort, unter dem der erste dieser Trends vorangetrieben wird. Mit diesem Begriff werden jene schätzungsweise drei Millionen Orte im Erbgut bezeichnet, an denen sich menschliche Individuen voneinander unterscheiden. Sie bestimmen folglich über individuelle Statur, Persönlichkeit oder auch Krankheitsanfälligkeit.

Mit Hilfe von Chips ließe sich in Minutenschnelle ein individuelles Genprofil erstellen. Dieses könnte dann Auskunft darüber geben, bei wem ein Medikament besonders gut anschlägt und wer darauf mit heftigen Nebenwirkungen reagiert.

Der Berliner Genforscher Lehrach malt sich bereits die enormen Möglichkeiten der künftigen Individualbehandlungen aus: "Ich bin mir völlig sicher, dass die Genchips zum Beispiel die Krebsbehandlung revolutionieren werden."

Dereinst, so prognostiziert er, werde der Arzt nur eine kleine Probe des Tumorgewebes in einen Genanalysator geben müssen. Der bestimme dann die ganz besonderen Eigenschaften dieses speziellen Krebses - Daten, die einem Computer helfen könnten, die Tumorzellen präzise zu simulieren und verschiedene Wirkstoffkombinationen zunächst virtuell daran zu erproben.

Glaubt man den Ankündigungen der Propheten einer zukünftigen Medizin, dann wird das jedoch oft gar nicht nötig sein. Denn die Krebsgefahr lässt sich, dem Genchip sei Dank, schon im Voraus erkennen und möglicherweise bannen.

Kaum ein Experte bezweifelt: Je tiefer die Forscher in die Geheimnisse im Innern der Zellen vordringen, desto mehr Risikomutationen werden sie auf die Spur kommen. Und jede von ihnen wird sich mit Hilfe von Chips aus den vielen tausenden zielsicher herausfischen lassen. Doch wie groß der medizinische Nutzen tatsächlich sein wird, ist noch umstritten. Was soll der Einzelne damit anfangen, dass er ein nur zweiprozentiges Risiko hat, an Diabetes zu erkranken, aber mit 30-prozentiger Sicherheit im Alter mit Alzheimer dahinvegetieren wird? Hilft es ihm, wenn er weiß, dass ihm ein Tod durch Darmkrebs, nicht aber durch Herzinfarkt droht?

Der Patient der Zukunft wird das Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten lernen müssen. Aus dem Noch-Gesunden von heute wird der Noch-nicht-Multimorbide von morgen werden. Und er wird von seinen Ärzten überschüttet werden mit Ratschlägen, wie er der Vielzahl von in seinem Erbgut schlummernden Gefahren begegnen kann.

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Größer noch als die Angst vor der heranrollenden Welle medizinischer Informationen ist jedoch die vor dem Fall des letzten Tabus: der Herstellung genmanipulierter Menschen. Als sich vor rund 25 Jahren abzeichnete, dass es einmal möglich sein würde, Erbgut mit Hilfe molekularer Werkzeuge maßzuschneidern, einigten sich Genforscher wie Ärzte rasch darauf, die Keimbahn des Menschen selbst nicht anzutasten.

Doch der Konsens beruhte auf einem entscheidenden Handicap: Was die Forscher einhellig beschworen, nicht tun zu wollen, konnten sie noch gar nicht.

Zwar laborieren Genchirurgen bereits seit zehn Jahren daran, menschliche Blut-, Leber- oder Lungenzellen mit Genen aus ihren Labors aufzurüsten. Doch die anfangs von lauten Versprechungen begleiteten Gentherapie-Experimente scheiterten ausnahmslos. An Keimzellen wagte sich unter diesen Umständen erst recht keiner heran.

Inzwischen haben vor allem in den USA die Experten ihre Scheu verloren, auch vom genetisch veränderten Menschen zu reden. Neue Methoden lassen ihnen das Unterfangen erstmals technisch realisierbar erscheinen. Einer Maus namens Lucy könnte dabei eine weit größere Bedeutung zukommen als dem weltweit gefeierten oder geächteten Klonschaf Dolly. Im Oktober letzten Jahres erfuhr die Welt von ihrer Existenz, doch kaum jemand nahm Notiz davon.

Lucy ist das erste Säugetier mit einem künstlichen Chromosom. Neben ihren 20 natürlichen Chromosomen vererbt sie ihren Nachkommen ein weiteres, das aus dem Genlabor der Firma Chromos Molecular Systems aus British Columbia stammt.

Damit tun sich Möglichkeiten der Erbgutmanipulation auf, die weitaus eleganter und vielfältiger sind als alle bisher erprobten Verfahren: Schleust man ein einzelnes Gen in fremdes Erbgut ein, so kann es dort versehentlich andere, womöglich lebenswichtige Gene lahm legen; beim Einschleusen eines ganzen Chromosoms hingegen besteht diese Gefahr offenbar nicht. Zudem gelingt der Einbau einzelner Gene oft erst nach hunderten von Versuchen. Die Erfolgsquote bei der Chromosomen-Kur ist ungleich höher.

Vor allem aber ließen sich gleich ganze Genpakete auf ein Kunstchromosom schmuggeln - und wer einen gesünderen und klügeren Menschen schaffen will, dem wird ein einzelnes Gen dazu kaum reichen.

Dass es am Willen inzwischen nicht mehr mangelt, das wird auf US-Kongressen deutlich, auf denen immer ungenierter über die anbrechende Ära des Menschendesigns diskutiert wird.

"Wir könnten wahrscheinlich einen Menschen konstruieren, der völlig gefeit gegen Aids wäre oder gegen bestimmte Krebsformen", verspricht etwa Leroy Hood, ein Miterfinder des Sequenzierautomaten. "Wir könnten sogar Menschen machen, die viel älter würden als heute. Oder wir könnten die menschliche Intelligenz massiv beeinflussen. Ist das nicht äußerst verlockend?"

Und der Biophysiker Gregory Stock prophezeit gar: "In nicht allzu ferner Zukunft wird man Leute, die Kinder durch normale Empfängnis bekommen, als Dummköpfe betrachten."

Selbst French Anderson, einem der Pioniere der Gentherapie, wird angesichts solch ungeschminkter Euphorie offenbar mulmig: "Die Gesellschaft", warnt er, "wird sich in Werte und Unwerte teilen, wenn wir nicht rechtzeitig Sicherungen einbauen."


DER HERR DER GENE

Die meisten Genforscher hassen ihn - und Craig Venter ist stolz darauf. In den acht Jahren, die er an den National Institutes of Health arbeitete, hat er gelernt, die Arbeit staatlicher Labors zu verachten. Während dieser Zeit forschte er an einem einzigen menschlichen Eiweiß. Als er dann begriff, dass die Zukunft in der systematischen Entschlüsselung von Erbgut lag, wurde sein Forschungsantrag abgelehnt. Seither hält er sich lieber an Risikokapital. Immer wieder setzte er sich Ziele, für die er von seinen Kollegen verspottet wurde. Immer wieder widerlegte er die Skeptiker. Es war Venter, der erstmals die Gensequenz eines Bakteriums präsentierte. Und er war es auch, der die Entschlüsselung des Fruchtfliegen-Erbguts vorantrieb. In den nächsten Wochen wird er nun beweisen müssen, dass er auch jetzt, bei der bisher lautesten seiner Wortmeldungen, den Mund nicht zu voll genommen hat: bei der Ankündigung, er habe das Erbgut des Menschen geknackt. Venters Triumphe freilich sind nicht nur seinem wissenschaftlichen Talent zu danken. Vor allem weiß er moderne Technik zu nutzen. Seine Firma Celera ist eine Tochter von Perkin-Elmer, dem weltweit führenden Hersteller von Sequenzier-Robotern. 300 dieser Maschinen, weit mehr als an jedem anderen Ort, arbeiten in seinem Labor rund um die Uhr - und sichern ihm damit den Vorsprung vor der Konkurrenz. Nachdem nun die Automaten ihr Soll offenbar erfüllt haben, sind Venters andere Hightech-Verbündete gefordert: Rechner, von denen es heißt, dass sie in ihrer Leistung denen des Pentagon nahe kommen. Sie sollen die menschlichen Erbgut-Sequenzen zu einem ganzen Text zusammenfügen. "Das Ganze ist so simpel, dass es eigentlich jeder machen könnte", prahlt Venter - und genießt es, wie sehr er seine neidischen Kollegen damit zur Weißglut bringt.  


"WIR SIEGEN AUF JEDEN FALL"

In drei Jahren stieg eine Heidelberger Firma zum Beinahe-Global-Player auf. Ihr Geschäft: Bioinformatik. Pharmakonzerne reißen sich um die Genomsoftware.

Die zwei Bilder, die an den Wänden des 30 Quadratmeter großen, übersichtlichen Büros hängen, haben dreierlei gemeinsam: Sie sind gleich groß, ihre vorherrschende Farbe ist Blau, und sie hängen beide gleich schief.
Der Schreibtisch, mit einem schlichten Bürostuhl davor und einem dahinter, ist mit einem Zettelchaos bedeckt, in der Ecke gegenüber lümmelt ein schlapper Fußball. Vom Vorstandsvorsitzenden eines deutschen Unternehmens ist man eigentlich imponierendere Auftritte gewohnt.

Der Chef der Firma Lion Bioscience in Heidelberg transportiert seine Unterlagen mit Vorliebe in einem etwas schäbigen grünen Rucksack und trägt einen ziemlich berühmten Namen: Friedrich von Bohlen und Halbach, 37, Doktor der Biochemie, letztes Jahr als "Entrepreneur des Jahres" ausgezeichnet; seine Angestellten nennen ihn "der Friedrich". Der Jungunternehmer schwärmt für Borussia Dortmund. "Nur hilfsweise", sagt er. "Weil, eigentlich bin ich Fan von Rot-Weiß Essen, aber die spielen ständig so einen Mist zusammen."

4,5 Millionen Mark Kapital hatten von Bohlen und fünf weitere Wissenschaftler, die vom nahe gelegenen European Molecular Biology Laboratory (EMBL) kamen, zusammengepumpt, als sie im März 1997, auf dem Gipfel des Biotech-Booms, Lion Bioscience gründeten.

Obwohl die Zahl der Neugründungen seit 1999 stagniert, hat die Branche beste Aussichten. Zur Zeit gibt es in Deutschland 543 Biotechnologieunternehmen. In knapp drei Jahren machte das Gründer-Team aus Lion eines der deutschen Vorzeigeunternehmen im Geschäft mit dem Erbgut.

201 Menschen aus 15 Nationen arbeiten inzwischen bei Lion Bioscience: Molekularbiologen, Laboranten, Programmierer. Ihre Fähigkeit ist es, Programme zu schreiben, die das Verhalten, die Eigenschaften von Biomolekülen erfassen, vorhersagen und vergleichen können. Im Moment feilen die klugen Köpfe an einem Programm, mit dem sie das Erbgut des Menschen zum Sprechen bringen wollen.

Zu den Angestellten aus Fleisch und Blut kommen noch Q-bot und seine Kollegen, die Laborroboter. Die arbeiten im Keller. Die rechnergesteuerten Automaten verteilen mit lautem Surren Genproben und Bakterienkolonien auf speziellen Filterfolien. Dort werden die Proben später vollautomatisch mit so genannten Gensonden überspült, an denen Fluoreszenzfarbstoffe kleben.

Im Laserlicht verraten die leuchtenden Farbstoffe, welche Gene in bestimmten Zellen und Gewebearten an- und welche abgeschaltet sind. Sie lassen auch erkennen, wie in dem Genkonzert einer Bakterienzelle jene biochemischen Eigenschaften entstehen, die sie in einen gefährlichen Krankheitserreger verwandeln.

Über 12 000 Gene, erläutert Laborchef Abdellah Harim, ein gebürtiger Marokkaner, könne man gegenwärtig gleichzeitig erfassen. Solche Informationen über Genmuster sind bei den Pharmaunternehmen hoch geschätzt. Sie liefern Ansatzpunkte für neue Medikamente, und überdies wollen die Pharmaexperten damit künftig im voraus Nebenwirkungen oder toxische Eigenschaften neuer Wirkstoffe abschätzen.

Nebenan summt eine Reihe von DNS-Sequenzierern, Maschinen, die automatisch jede beliebige Erbinformation entschlüsseln. Im Auftrag von Forschungsinstituten und Pharmaunternehmen durchleuchten die Lion-Forscher mit den Apparaten das Genmaterial von Mikroorganismen. Bei fünf Mikroorganismen habe man das Erbgut bereits entschlüsselt, berichtet Lion-Mitgründer Voss voller Stolz - "mehr hat nur das "TIGR" (The Institute of Genomic Research) in den USA gemacht", das von dem charismatischen Genomforscher Craig Venter gegründet wurde und in dem zum ersten Mal die Entschlüsselung des kompletten Erbgutes eines Bakteriums gelang.

Ihr wichtigstes Produkt wollen die Lion-Manager an Genomfirmen, Labors und all die Pharmariesen verkaufen, die sich nun in dem Datenwust der Menschengene zurechtfinden müssen. Allein die Entzifferung von drei Milliarden Buchstaben der menschlichen Erbinformation, wie sie jetzt von Venter und anderen vorangetrieben wird, führt noch nicht sehr weit. "Die Genomprojekte produzieren bloß Roheisen", meint Claus Kremoser. "Aber wir haben dazu die Schmiedewerkzeuge."

Das Handwerkszeug, das die Lion-Wissenschaftler für ihre Kunden entwickeln, besteht aus hochgezüchteter Software. Die nennt sich SRS6 oder Bioscout. SRS6 ist eine Art Datenbank-Esperanto, das laut Kremoser von 350 verschiedenen molekulargenetischen Großdatenbanken rund um den Globus verstanden wird.

Wie das vor sich geht, versteht der Biologe selber nicht: "Mit SRS6", sagt der 34-Jährige, der sich "Vice President Corporate Development" nennt, "ist es wie mit der Coca-Cola-Formel: Das Geheimnis kennen nur ganz wenige Leute." Und die, ergänzt Kremoser, "sind fast alle bei uns". Die meisten Pharmamultis haben die ursprünglich im EMBL ertüftelte Software schon gekauft.

Bioscout, das zweite Softwareprodukt des Unternehmens, ist der Vorläufer eines umfassenden Expertensystems, eine Art biomedizinisches Trüffelschwein: Wenn es mit einer Gensequenz gefüttert wird, geht es automatisch auf die Reise durch die Datenbanken rund um den Globus und sammelt dort alle verfügbaren Informationen ein.

Schließlich erscheint auf dem Bildschirm ein "Genporträt" - die wahrscheinliche Funktion des Gens, seine Aktivitätsmuster in verschiedenen Geweben, verwandte Gene bei anderen Organismen, Eigenschaften des nach der Genanweisung hergestellten Eiweißmoleküls.

Jede Firma, die von den Daten der Genomprojekte profitieren will, braucht in Zukunft derartige Softwarepakete, die den ungeheuren Datenstrom aus den menschlichen Chromosomen verarbeiten können.

Dem Pharmariesen Bayer war der elektronische Rollgriff in die Erbgutdaten des Menschen viel Geld wert: Zum Preis von 100 Millionen Dollar installieren die Lion-Experten gegenwärtig in Boston für Bayer ihre gesamte Bioinformatik-Technologie - eine firmenübergreifende Zusammenführung von Informatik und Biologie, die unter dem Namen "i-biology" eine neue Ära der Biowissenschaften signalisiert.

Mit dem Bioscout-Paket wollen die Heidelberger ein Global Player im heraufziehenden Zeitalter des Genomgeschäfts werden - bislang eine Domäne amerikanischer Biotech Companies. Wer da mitmischen will, meint von Bohlen, müsse den US-Boys ihre eigene Medizin zu schmecken geben. "Angriffsfußball", nennt es der Lion-Boss. "Die deutsche Nationalmannschaft geht auf den Platz und sagt: 'Bloß kein Gegentor in den ersten 20 Minuten.' Die Amerikaner gehen raus und sagen: 'Wir siegen auf jeden Fall' - selbst wenn sie 0 : 3 zurückliegen."

Erst vor wenigen Wochen übernahm die junge deutsche Firma eine Sperrminorität beim US-Unternehmen Tripos Inc. in St. Louis, die komplette Übernahme könnte in Kürze folgen. Dass eine deutsche BiotechFirma ein US-Unternehmen schluckt, ist in der Branche noch nicht vorgekommen. "Wir sind schon aggressiv", sagt der Lion-Boss, "und wir wollen wirklich gewinnen."

Die Verschmelzung aus Siliziumtechnologie und Genomforschung soll schon bald nicht nur der Pharmaforschung zu Diensten sein. In Zukunft wollen Firmen wie Lion mit i-biology im Gesundheitssektor Kasse machen.

Die Zauberformel i-biology könnte schon bald die Börsen so beflügeln wie heute der Internet-Rummel, meinen Experten. Dafür wollen von Bohlen und seine Kompagnons ihre Bioscout-Technologie zu einem umfassenden medizinischen Expertensystem ausbauen.

Das könnte bedeuten: Schon in wenigen Jahren werden die Hausärzte nur noch ein wenig Blut, Speichel oder Urin auf einen Genchip tröpfeln und in ein Lesegerät schieben. Dann soll eine aufgerüstete Bioscout-Version automatisch die Diagnose stellen und die Therapie konzipieren. Für den Doktor druckt das System nur noch den Befund aus, für die Patienten Rezepte und Überweisungsscheine.

Das hört sich nach Science-Fiction an und könnte trotzdem schon bald Wirklichkeit werden. Die technologische Entwicklung eilt schon längst auch den Geschäftsplänen der Biotech-Unternehmen voraus.

Schon jetzt kann die neueste Generation von Genchips automatisch zwischen verschiedenen Leukämieformen unterscheiden. Die richtige Diagnose, bislang erst nach aufwendiger Laborarbeit möglich, liefert der Chip nach wenigen Minuten. "In diesem Business kenne ich nur zwei Arten von Unternehmen", sagt der Lion-Boss, "die einen sind schnell genug. Die anderen sind tot."

Bei so viel Tempo bleibt zuweilen die Etikette auf der Strecke. Zum Beispiel als der Programmierer Markus Hogh auf dem Weg zur Arbeit mit seinem Mountainbike in einen Regenschauer geriet und am selben Tag eine Riege fein gewandeter Herren vom Pharmakonzern Hoechst bei Lion durch die Gänge schritt.

"Die haben etwas verstört geguckt", erinnert sich Kremoser, "als sie hinter einer Silicon-Graphics-Maschine auf einen fast nackten Programmierer in nassen Unterhosen stießen."


DER GEIST IST AUS DER FLASCHE

Soll die Gesellschaft die Entwicklung zur Genmanipulation stoppen - oder haben die Kinder von morgen nicht sogar ein Recht auf verbesserte Gene? Der Biophysiker GREGORY STOCK über eine Zukunft, in der der Mensch Herrscher über die Evolution sein wird.

Wir sind an einer Weggabelung der Evolution angelangt, für die es in der Geschichte der Menschheit kein Beispiel gibt. Die mächtigen Technologien, die bisher die Welt um uns herum verändert haben, nehmen nun auf einmal uns selbst ins Visier. Jetzt, da wir unsere eigene Biologie entschlüsseln und lernen, sie zu verändern, ergreifen wir die Macht über unsere eigene Evolution. Wir beginnen eine Reise ins Ungewisse.
Der rasante Fortschritt der Molekulargenetik und verwandter Technologien wird uns dazu zwingen, über die Frage nachzudenken, was es überhaupt heißt, ein Mensch zu sein.

Der Eingriff in die Keimbahn - die Veränderung jener Gene, die wir an unsere Kinder weitergeben - beschwört die stärksten Ängste herauf: Der Mensch beginnt, sich nach eigenen Vorstellungen selbst zu gestalten.

Aber wir haben all die Milliarden an Forschungsgeldern zur Enträtselung unserer Biologie nicht zur Befriedigung schöngeistiger Neugierde ausgegeben, sondern in der Hoffnung, unser Leben zu verbessern.

Eine Umfrage für das Bioethik-Programm der International Union of Biological Sciences (IUBS) aus dem Jahr 1993 bestätigt: Überall waren die Menschen zu einem großen Teil bereit, die Gentechnik einzusetzen, um die Fähigkeiten ihrer Kinder zu verbessern. Der Anteil der Befürworter reichte von 26 Prozent in Japan und 43 Prozent in den USA bis zu 60 Prozent in Indien und 80 in Thailand.

Natürlich, nur weil etwas machbar ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch getan werden muss. Aber jede Technologie, die eines Tages in tausenden von Labors in aller Welt einsatzbereit ist und die von einer großen Anzahl wohlhabender Menschen verlangt wird, ist unaufhaltbar. Die Frage ist nicht, ob Eltern diese fortgeschrittene Fortpflanzungstechnik benutzen werden, sondern wann, wo und wie offen sie das tun.

Wenn ein Ehepaar aus Berlin eine romantische Hochzeitsreise in die Karibik unternimmt und neun Monate später eine ungewöhnlich aufgeweckte Tochter zur Welt bringt, was sollte eine Regierung dann tun? Wird sie die Familie zu einem Gentest zwingen und die Eltern ins Gefängnis werfen, wenn sie beim Kind Anzeichen für genetische Manipulationen entdeckt? Wird sie den Eltern das Kind wegnehmen?

Der einzige Effekt, den eine strikte gesetzliche Kontrolle haben könnte, wäre die Beschränkung auf die wohlhabende Klasse. Ich halte es für denkbar, dass es viel weniger öffentlichen Druck für ein Verbot solcher Fortpflanzungstechnik geben wird als das Verlangen nach Zugang für alle - Gentechnik auf Krankenschein.

Technisch könnte das viel früher möglich werden, als wir glauben. Es gibt bereits einige Firmen, die künstliche Chromosomen in menschliche Zellen eingebracht haben. Deren Interesse liegt einstweilen in der Gentherapie und bei Medikamenten. Aber wenn die Technologie einmal verfeinert ist, wird es leicht fallen, auch menschliche Embryos genetisch zu manipulieren.

Noch gibt es keine künstlichen Gene, die Eltern in Versuchung führen können. Aber die vollständige Kartierung des menschlichen Genoms ist erst der Anfang dieser Bemühungen. Die stürmische Entwicklung von Genomik, Bioinformatik und Genchip-Technologie wird schon bald die Zusammenhänge zwischen unseren Genen, unseren Körperfunktionen und unserem Verhalten aufdecken. Die meisten dieser Zusammenhänge werden zu komplex sein, um sie zu manipulieren, aber einige werden sich als überraschend einfach entpuppen.

Werden die Genetiker Möglichkeiten entdecken, das Altern zu verzögern oder die menschliche Intelligenz zu steigern? Noch vor einem Jahrzehnt konnte sich niemand vorstellen, dass eine einzige Genmutation die Lebenszeit eines Fadenwurms verdoppelt. Umso schwerer ist es, vorherzusagen, wann sich ganze Gruppen von Genen wirksam beherrschen lassen werden.

Die Verbesserung des Menschen wird die ethisch umstrittenste Manipulation der menschlichen Biologie sein. Das Klonen - die verspätete Geburt eines eineiigen Zwillings - erscheint bizarr, aber es stellt nicht unsere grundsätzliche Vorstellung in Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein. Wenn wir jedoch beginnen, bewusst die Gene unserer Kinder auszusuchen und zu verändern, begeben wir uns in unbekannte Gewässer.

Keimbahn-Manipulationen werden nicht aus der Hand von klischeehaft durchgeknallten Wissenschaftlern in die Welt kommen, die eine neue Herrenrasse erschaffen wollen. Sie werden vielmehr ein Abfallprodukt der allgemein akzeptierten biomedizinischen Forschung sein. Man muss schon den wissenschaftlichen Fortschritt an sich stoppen, um die Verfügbarkeit fortgeschrittener Reproduktionstechniken zu verhindern.

Einige Länder werden sich vorübergehend aus der Forschung zurückziehen. Die Schweiz erwog im vergangenen Jahr, ganze Bereiche der Genforschung zu unterbinden, zuckte aber zurück, als klar wurde, dass man damit womöglich die Pharmafirmen aus dem Land vertrieben hätte.

Als Folge solcher Restriktionen würde man die Forschung schlichtweg jenen Ländern überlassen, die in ethischen Fragen weniger zimperlich sind. Und was den späteren Gebrauch von Verbesserungstechnologien anbelangt, braucht man sich keinen Illusionen hinzugeben: Wir leben in einer vom Wettbewerb geprägten Welt, und wenn Sicherheit und Wert der Methoden erst einmal bewiesen sind, wird es starke Verlockungen geben, jegliche Verbote zu unterlaufen.

Falls sich der Eingriff in die Keimbahn als zu gefährlich erweisen sollte, wird sich die Frage nach Menschenverbesserungen langsam in Wohlgefallen auflösen. Aber einer Gentechnik, die zuverlässig und sicher Verbesserungen ermöglicht, können wir nicht widerstehen. Sie erlaubt uns, die genetische Blaupause unserer Kinder zu korrigieren und ihnen einen schärferen Intellekt, einen robusteren Körper, erhöhte Widerstandskraft gegen Krankheiten oder ein längeres Leben mit auf den Weg zu geben.

Eingriffe in die menschliche Keimbahn lassen das Gespenst der Eugenik wieder auferstehen, aber es ist kaum zu rechtfertigen, die Fortpflanzung zu etwas Heiligem zu erklären, das unberührt zu bleiben habe. Vor 21 Jahren nannte man Louise Brown, das erste Kind, das aus einer In-vitro-Befruchtung hervorging, ein "Reagenzglas-Baby", und prominente Kritiker wie Jeremy Rifkin regten sich damals über "psychologische Monstrositäten" auf, die wir da angeblich erschufen. Heute nutzen jedes Jahr zehntausende von Paaren, die sonst nie ein Kind hätten, die Methode.

Je mehr Kontrolle wir jedoch über die menschliche Fortpflanzung erlangen, desto eher werden wir eines Tages vor Entscheidungen stehen, vor denen sich manch einer lieber drücken würde. Gerichtsverfahren wegen "widerrechtlicher Geburt" oder "genetischer Unterlassung", die erwachsene Kinder gegen ihre Eltern anstrengen, werden keine juristischen Ausnahmen bleiben.

Ironischerweise könnte es sogar sinnlos sein, aus Angst vor juristischen Komplikationen die Gentechnik zu vermeiden. Denn während manche Kinder später die Genmanipulationen verabscheuen werden, die ihre Eltern vornehmen ließen, könnten sich andere um ihre Chancen betrogen sehen, weil die Eltern ihnen einfache Eingriffe vorenthielten, die ihnen viele zusätzliche Lebensjahre geschenkt oder ihnen die Demütigung erspart hätten, im Wettstreit mit den genmanipulierten Überfliegern nicht bestehen zu können.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir heute aus einer Position der Ignoranz über solche Möglichkeiten diskutieren. Wir haben schlichtweg keine Ahnung, was in Zukunft möglich sein wird und wohin es führt. Angesichts solcher Unsicherheit plädieren manche dafür, die Forschung zu stoppen und erst einmal darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll.

Das ist aber gefährlich, denn je einfacher die Technik zu handhaben sein wird, desto wahrscheinlicher ist ihr breiter Einsatz. Wir schulden es den kommenden Generationen, die Methoden heute vorsichtig zu erproben, solange sie unfertig und ungeeignet für den breiten Einsatz sind. Auf diese Weise bleiben Fehler, die wir machen - wie die Todesfälle bei der Gentherapie in Pennsylvania -, auf relativ wenige Betroffene beschränkt, und wir gewinnen die Erfahrung, die wir brauchen, um die Technik verantwortungsvoll zu beherrschen.

Kategorische Feststellungen zur "Unantastbarkeit des menschlichen Genoms" oder zum "Recht auf eine unveränderte genetische Ausstattung" klingen angesichts unserer heutigen Ignoranz hohl. Es ist sinnvoller, das Urteil aufzuschieben und sowohl Chancen als auch Risiken zu bewerten, die daraus entstehen.

Derzeit haben wir wenig zu fürchten. Es ist ein weiter Weg von den ersten Laborexperimenten zur klinischen Anwendung. Unsere Gesellschaft wird reichlich Zeit haben, einen Kodex für den Umgang mit den neuen Möglichkeiten zu erarbeiten und zu lernen, mit Problemen, die aus dem Klonen oder dem Keimbahn-Eingriff resultieren, umzugehen. Diese Methoden werden für viele Jahre kompliziert und teuer bleiben, aber es gibt keinen Weg, den Geist wieder in die Flasche zurückzubefördern, und das Beste, was wir tun können, ist, die Entwicklung unter den wachsamen Augen der Öffentlichkeit weiterzuführen.

Anders als die Atomwaffen birgt die Reproduktionsbiologie keine nennenswerte Bedrohung für Unbeteiligte. Die Einzigen, die in absehbarer Zeit betroffen sein könnten, sind die wenigen gut informierten, engagierten, in materiellem Überfluss lebenden Paare, die sich drängen werden, diese Technologie auszuprobieren.

Denen, die sagen, wir dürfen nicht Gott spielen, halte ich entgegen: Wir tun es schon längst - jedes Mal, wenn wir ein Verhütungsmittel benutzen oder eine Niere verpflanzen.

In demselben Maße, in dem wir Kontrolle über das erlangen, was einst außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten lag, lässt die Menschheit ihre Kindheit hinter sich. Wir müssen die Verantwortung übernehmen für unsere wachsende Macht über die Umwelt, über unsere Mitmenschen und über uns selbst.

So zu tun, als könnten wir irgendwie den Status quo aufrechterhalten, ist nicht in unserem Interesse und nicht im Interesse künftiger Generationen. Ich vermute, dass die Menschen in ferner Zukunft - wer oder was sie auch sein mögen - auf unsere Ära zurückblicken werden als auf jene Zeit voller Herausforderungen, Kontroversen und Probleme, in denen die Fundamente für ihre Gesellschaft gelegt wurden.

Und vielleicht werden sie unsere Gegenwart als jene merkwürdige primitive Epoche sehen, in der Menschen nur 70 oder 80 Jahre lebten, an grauenvollen Krankheiten zu Grunde gingen und ihre Kinder außerhalb der Labors zeugten - durch das zufällige und ungeplante Aufeinandertreffen von Spermium und Ei.


PASSENDER HANDSCHUH

Warum schlagen Pillen so unterschiedlich an? Die Pharmaforscher werden neue Arzneien entwickeln - maßgeschneidert nach dem Erbgut dessen, der sie nimmt.

Reglos liegt der Mann am Boden. Eine junge Frau im weißen Kittel durchsucht hektisch seine Brusttasche. Nur ein Portemonnaie mit Bargeld. Endlich, in der rechten Gesäßtasche, wird sie fündig. Zwischen Scheck- und Kreditkarten, Bibliotheksausweis und Führerschein, leuchtet sie rot hervor: die Genkarte. Die Ärztin fingert das Stück Hartplastik aus seiner Hülle und schiebt es in das zugehörige Lesegerät im Notarztwagen. Sekunden später erhält sie Auskunft, welches lebensrettende Herzmedikament sie dem Patienten in welcher Dosierung geben darf, ohne dass auch noch seine Leber Schaden nimmt. Schon in fünf bis zehn Jahren, glauben die meisten Genetiker und Pharmakologen, werde eine solche Genkarte in jede Brieftasche gehören. Damit würde eine Verheißung der Genforschung wahr: individuelle Behandlungsstrategien gegen individuelles Leid. "Das Schubladendenken in der Medizin wird mehr und mehr verschwinden", so umschreibt es Claus Bartram, Humangenetiker an der Universität Heidelberg. "Herzinfarkt ist dann nicht mehr gleich Herzinfarkt."

Lange Zeit schien es den Pharmakologen ein Rätsel, warum Menschen auf ein und dieselbe Arznei derart unterschiedlich reagieren. "Die meisten Medikamente wirken nur bei 30 bis 40 Prozent der Patienten so, wie sie sollen", sagt Daniel Cohen von der Pariser Biotech-Firma Genset. Das liegt vor allem an winzigen, punktuellen Änderungen der Erbsubstanz DNS, die bei jedem Menschen in großer Zahl auftreten.

Die kleinen Unterschiede im Erbgut, SNPs (sprich: "Snips")** genannt, offenbaren sich bisweilen dramatisch: Insgesamt sterben jedes Jahr tausende Menschen an den Nebenwirkungen von Medikamenten, die sie schlucken. Das Mittel Procainamid zum Beispiel, das Infarktpatienten gegen Herzrhythmusstörungen feien soll, schädigt bei zahlreichen Behandelten die Leber schwer, weil die Kranken diese Arznei von Natur aus langsamer abbauen als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Nicht immer geht es so schlecht aus, wenn die genetische Ausstattung eines Menschen von der Norm abweicht, nach der sich die Pharmakologen ausrichten. Manche Medikamente bleiben dann einfach nur wirkungslos.

"Bis heute handeln Pharmafirmen wie Hersteller von Handschuhen, die Handschuhe nur in einer Größe produzieren", spottet Chris Moyses von der britischen Biotech-Firma Oxford GlycoSciences. "Von Patienten erwartet man, dass sie sich da hineinquetschen."

Wie zahlreiche junge Pharmaunternehmen versucht auch die Firma Oxford Glyco-Sciences, auf der Basis der Genomforschung für jeden Patienten eine persönliche Pille zu schaffen, die seiner genetischen Ausstattung exakt angepasst ist. Der Ausspruch "meine Medizin" wäre dann wörtlich zu nehmen.

"Eine Revolution im Denken" der Pharmahersteller entstehe durch diesen neuen Forschungszweig der Pharmakogenomik, meint Jonathan Knowles, Chef der Arzneimittelforschung beim schweizerischen Konzern Roche. An dieser Revolution beteiligen sich inzwischen auch Pharmariesen wie Novartis, Bayer und Aventis. Vor einem Jahr haben sie gemeinsam mit sieben weiteren weltweit operierenden Konzernen ein Konsortium gegründet, das die Erkundung des menschlichen Genoms fördern soll.

45 Millionen US-Dollar stellen die Firmen bereit, um gemeinschaftlich das Erbgut des Homo sapiens nach SNPs abzusuchen. "Im Unterschied zum Humangenomprojekt, bei dem die menschliche Erbsequenz als Ganzes entschlüsselt wird, zielen wir auf die Bestimmung der typischen Unterschiede in den Erbsequenzen einzelner Individuen", erklärt Bayer-Sprecherin Gisela Lenz. Die Firmen möchten am Ende eine Karte des menschlichen Erbguts zusammenstellen, auf der alle kleinen Unregelmäßigkeiten verzeichnet sind.

Geschätzt wird, dass etwa jeder tausendste der mehr als drei Milliarden Bausteine der menschlichen DNS ein SNP ist. "Das Wissen, das wir in den nächsten Jahren mit der neuen Genomkarte erlangen werden, hat das Potenzial, die Praktiken der Medizin fundamental zu ändern", erklärt der Chef des Konsortiums, Arthur Holden aus Chicago.

ACHILLESFERSE IM VISIER

Gegen Viren jemals Arzneimittel zu entwickeln sei unmöglich, prophezeite einmal der Pharmaforscher und spätere Medizin-Nobelpreisträger George Hitchings. Viren sind die Herrscher der Welt. Weil sie sich mit dem Körper ihres Opfers auf heimtückische Art verbinden, gibt es bis heute kaum Medikamente gegen sie.

Hitchings hat bei seiner Prognose nicht mit der Gentechnik gerechnet, die eine neue Ära in der Arzneimittelforschung einleitet. "Jetzt ist die Zeit für antivirale Medikamente gekommen", sagt Helga Rübsamen-Waigmann, Leiterin der internationalen Virusforschung beim Bayer-Konzern. Gentechnisch lassen sich diejenigen Proteine, die für die Vermehrung der Viren nötig sind und an denen Medikamente ansetzen müssten, in großen Mengen im Labor herstellen.

Das eröffnet zwei Wege: Zum einen lassen sich die Virusproteine dreidimensional am Computer darstellen und offenbaren dort möglicherweise ihre Achillesferse. Zum anderen können Forscher mehrere Millionen Substanzen auf einmal an einem Virusprotein erproben, um die eine zu finden, die den Krankheitserreger am ehesten unschädlich macht. "Auf diese Weise kann man schnell erste Treffer landen", sagt Rübsamen-Waigmann. "Und die lassen sich dann optimieren." Sind selbst HIV und Ebola für zukünftige Generationen kein Schrecken mehr?


Erkrankungen werden sich immer schärfer voneinander trennen lassen, so dass es für jede Unterart einer Krankheit auch ein spezielles Arzneimittel geben wird. Je exakter die genetischen Defekte bekannt würden, die zu einer Erkrankung führen, meint Humangenetiker Bartram, desto genauer ließen sich Substanzen herstellen, die diese Defekte wieder wettmachen.

"Schließlich hat jede Krankheit eine genetische Komponente - selbst wenn sie durch die Umwelt ausgelöst wird", betont der Baseler Bioforscher Urs Meyer. Aus diesem Grund belasten Umweltgifte immer nur einen Teil der Bevölkerung - mancher Kettenraucher erreicht trotz Übergewicht und Abscheu gegen Salat ein Alter von 100 Jahren.

Nur William Haseltine will bei der Pharmakogenomik nicht mitspielen. Der Chef der - ebenfalls auf Genforschung ausgerichteten - Firma Human Genome Sciences in Rockville (Maryland) geriert sich als Ketzer unter den ansonsten einmütig dem neuen Forschungszweig verfallenen Pharmabossen.

"Die Arzneimittelindustrie rechtfertigt mit der Pharmakogenomik nur ihr Versagen, weil sie keine nebenwirkungsarmen Medikamente hinkriegt", sagt Haseltine. Es sei der falsche Weg, wenn unzählig viele, individualisierte Arzneien entwickelt würden.

"Wenn Menschen zu ihrer Medizin passen sollen, wird es immer Menschen geben, die zu gar nichts passen", warnt der Firmenchef aus Rockville. Schon heute gebe es genügend seltene Krankheiten, gegen die nur deshalb kein Mittel existiere, weil es sich für die Unternehmen nicht lohnt, entsprechende Pillen zu entwickeln. "Wir wollen weiterhin Arzneien", unterstreicht Haseltine, "die so vielen Menschen wie möglich helfen."

Eines jedenfalls ist bereits jetzt gewiss: Die maßgeschneiderten Arzneimittel werden nicht billig zu haben sein. Plausibel also, dass die zukünftigen Träger der Genkarten diese vermutlich in der Nähe ihrer Kreditkarten aufbewahren werden.

* Ein Biologe saugt aus einem Plastikröhrchen DNS ab. Im UV-Licht leuchtet das genetische Material als helles Band in der zentrifugierten Zellsubstanz auf.

** SNPs: Abkürzung für Single Nucleotide Polymorphisms.

(10.04.2000)

Happy End:

Medizin von Morgen

 
10.02.02 00:48
Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571479

Folge 2:: Rettung durch Robodocs - Fortschritte der Medizintechnik

RETTUNG DURCH ROBODOCS

Automaten führen das Skalpell an Herz und Hüfte. Nanotechniker entwickeln Mini-U-Boote, nicht größer als ein paar Moleküle, die durch Adern und Zellen sausen. Wohin steuert die Hightech-Medizin? Wie wird sich das Verhältnis zwischen Arzt und Patient durch sie verändern?

Sind chipgesteuerte Skalpelle den einfühlsamen Händen eines Chirurgen überlegen? Noch mehr Hightech am OP-Tisch, meinen Experten, könnte die Ergebnisse verbessern - und die Patienten würden dabei weniger gepiesackt.

Genauigkeit, eiserne Ruhe, eine Stahlhand, die nicht zittert, und verlässliche Topform zu jeder Zeit des Tages: Das sind nach Meinung vieler Mediziner die wichtigsten Eigenschaften, die sie an ihren chipgesteuerten metallenen Gehilfen schätzen. Auch die Patienten finden an dem Vormarsch der Roboter in deutsche OP-Säle zunehmend Gefallen. Schon jetzt sind die Wartelisten an den Kliniken, die bereits seit ein paar Jahren auf Automatenhilfe setzen, länger als anderswo.

Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571479

Auch wenn noch mehr der metallenen Ungetüme in die Krankenhäuser Einzug halten, soll es dennoch nicht kälter werden für die Kranken. "Im Gegenteil, für eine liebevollere Medizin, bei der der Patient im Mittelpunkt steht, sind die neuen Techniken sogar nötig", betont Dietrich Grönemeyer. Der Professor für Mikrotherapie an der für eine menschliche Medizin werbenden Universität Witten/Herdecke setzt auf mikroinvasive Verfahren, die sich ohne Hightech kaum denken lassen. "Wenn Roboter sich durch winzige Öffnungen ihren Weg in den Körper bahnen, werden die Patienten erheblich weniger gepiesackt als bei einer klassischen Operation."

So zum Beispiel im Herzzentrum der Universität Leipzig: Dort verlegt der Chirurg Anno Diegeler Bypässe, ohne seinen Patienten - wie bei der Operation am offenen Herzen - den Brustkorb aufzusägen und die Rippen auseinander zu spreizen.

Der Herzchirurg operiert mit Händen und Füßen. Ohne Schuhe sitzt er im Cockpit seines stählernen Assistenten und steuert den einige Meter entfernt im Nebenraum stehenden Riesenapparat der kalifornischen Firma Intuitive Surgical. Bestückt mit einer Stereokamera, einem elektrischen Skalpell und einer Pinzette, gelangen die zierlichen Metallhände des Roboters durch drei nicht einmal markstückgroße Löcher in der Brust des Herzpatienten an ihr Ziel.

Ein dreidimensionales Bild aus dem Inneren des Brustraums erscheint dabei in bester digitaler Qualität vor den Augen des Operateurs; zitterfrei kann er die Instrumente in der Roboterhand an die feinen Strukturen der Herzgegend heranführen.

Seit der Weltpremiere im Mai 1998 melden sich täglich mehrere Menschen in Leipzig, die nur noch den Roboter an ihr krankes Herz lassen wollen. Etwa 130 Patienten haben Diegeler und sein Kollege Volkmar Falk inzwischen mit Hilfe des mehr als eine Million Mark teuren Geräts operiert.

Ein Routineverfahren ist es gleichwohl immer noch nicht. In den meisten Fällen muss der Chirurg nach einem Teil der Arbeit sein Cockpit verlassen, in Schuhe und Handschuhe schlüpfen und die Operation von Hand zu Ende bringen. Schwierigkeiten macht der neuen Technik vor allem die ungenormte menschliche Anatomie, die individuelle Art also, mit der sich jede Herzarterie um den Pumpmuskel schlängelt. Überdies bewegen sich die Weichteile des Menschen häufig während der Operation. "Weil diese Veränderungen schlecht vorherzusehen sind, lassen sich solche Eingriffe nur schwer automatisieren", erläutert Diegeler. Das wird sich vermutlich in einigen Jahren ändern, wenn Verfahren wie Computertomografie (CT) oder Kernspintomografie (MRT) während der Operation hochauflösende Bilder aus dem Innern des Patienten liefern. Dann können sich auch selbständig arbeitende Roboter über die Veränderungen im Körper auf dem Laufenden halten.

Zur Zeit sind die stählernen Gesellen vor allem an Knochen erfolgreich. Fest eingespannt auf einem wackelfreien Tisch, haben schon mehr als 2700 Patienten ihre Schenkel dem Robodoc genannten Urvater aller medizinischen Roboter ausgeliefert. Seit sechs Jahren lässt Martin Börner von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt am Main die millionenschwere Maschine auf Patienten los, die eine Hüftprothese brauchen.

Mit Daten aus CT und MRT gefüttert, fräst Robodoc ein Loch in den Oberschenkelknochen, in den das Kunstgelenk eingebettet werden soll. Wird das Loch mit der Hand gemeißelt, müssen entstehende Lücken zwischen Hüftknochen und künstlichem Gelenk mit Zement gefüllt werden; jede zehnte Prothese sackt mit der Zeit ins Knocheninnere ab. Mit Robodocs, die inzwischen 60 deutsche Kliniken einsetzen, gelingt die Bohrung, wenn nichts wackelt, auf fünf hundertstel Millimeter genau.

Das Vertrauen der Patienten in die Robot-Fräse ist groß. In Frankfurt muss man auf eine Robodoc-Operation mehr als ein Jahr warten. Dass die Stahlriesen ihre Patienten wie rohe Eier behandeln, hat "Caspar", eine deutsche Ausgabe des Robodoc, kürzlich demonstriert: Er fräste ein Stück Schale aus einem Hühnerei, ohne die darunter liegende zarte Haut zu beschädigen.

Vom Arzt losgelöste Automaten werden indes in der Klinik eher die Ausnahme bleiben. "Ich glaube, dass die Zukunft den interaktiven Robotern gehört, bei denen der Chirurg weiterhin die Instrumente führt", sagt Tim Lüth vom Berliner Virchow-Klinikum, der Welt erster Professor für medizinische Robotik. Dabei werde der Operateur auch künftig in der Nähe des Patienten sitzen und nicht am anderen Ende der Welt - wie es durch die moderne Telemedizin möglich wurde.

Mit den Mitteln der Telemedizin, bei der medizinische Daten aller Art, aber auch chirurgische Eingriffe per Satellit oder Kabel übertragen werden, arbeiten heute vor allem Pathologen. Sie sind als Gewebe-Inspekteure häufig bei Operationen gefragt, etwa um zu entscheiden, ob und wie weit eine Geschwulst herausgeschnitten werden soll. Aber es gibt Pathologen nur an größeren Kliniken, und häufig werden die Entfernungen zu ihnen gleichsam noch mit der Postkutsche überwunden.

Ein Vorzeigeprojekt für die neue Technik wird das International Neuroscience Institute (INI) in Hannover sein, das im Juli eingeweiht wird und dessen Äußeres einem Gehirn nachempfunden ist. Noch im Operationssaal werden die kritischen Gewebeschnitte unter ein Objektiv gelegt, der Pathologe sieht sie, gleichgültig, wo er sich aufhält, digital am Bildschirm. Das INI soll überdies mit neurochirurgischen und radiologischen Zentren in aller Welt verknüpft sein, vornehmlich, damit sich die Ärzte in kniffligen Fällen bei fernen Experten Rat holen können.

Auf dem Weg in diese Zukunft sind noch Widerstände zu überwinden: Viele Mediziner fragen nicht gern um Rat und mögen sich nicht von Robotern helfen lassen. "Vor allem die Älteren sehen die technische Entwicklung quasi als persönlichen Angriff", beobachtete der Wiesbadener Neurochirurg Volker Urban. Er hofft auf die zukünftige Generation der "Nintendo-Chirurgen", die den Joystick ihres Computerspiels während des Studiums wie selbstverständlich gegen den Steuerknüppel eines OP-Roboters eintauschen.

"Zur Zeit sind viele Kranke fortschrittlicher als die meisten Kollegen", meint Urban. "Wenn sie aus ihren Autos mit ESP, GPS und Airbag aussteigen, wollen sie nicht mehr mit Messer und Gabel operiert werden."


PUNKTGENAUE LANDUNG

Bei der Behandlung von Unfallopfern vollbringt die hoch technisierte Heilkunst wahre Wunder. SPIEGEL-Reporter HANS HALTER beschreibt die modernste deutsche Unfallklinik in Berlin. Dort weht auch unter Ärzten und Pflegepersonal ein neuer Wind.

Wenn es irgendwo gekracht hat und ein Mensch schwer zu Schaden kam, hat der Helikopter einen vielleicht lebensentscheidenden Vorteil: Er fliegt Luftlinie, für ihn gibt's keinen Stau, kein Warten, nirgendwo - so weit die Theorie.
Im wirklichen Leben kommt es vor, dass der Rettungshubschrauber sein Ziel auf Umwegen anfliegt, dass er in Sichtweite eines Klinikums reglos in der Luft steht, Viertelstunde um Viertelstunde, dann abdreht und anderswo sein Glück versucht. Dann hat die Klinik mit dem prestigeträchtigen roten Kreuz auf dem Dach der Funkleitstelle signalisiert: Kein Intensivbett für die Notaufnahme frei, alle OPs belegt, keine OP-Teams mehr verfügbar.

Besonders am späten Vormittag, meist gegen 11 Uhr, melden sich viele Krankenhäuser von der Maximalversorgung ab: Hubschrauber-Landeplatz gesperrt.

Für die Rettungscrew ist das jedes Mal ein Desaster. Mit einer Nase, die weiß wird und immer spitzer, reagiert der Schwerverletzte, auch dann, wenn er ohne Bewusstsein ist. Alle spüren: Es ist noch ein Gevatter an Bord gekommen - der Tod fliegt mit.

Auf dem Dach des Unfallkrankenhauses Berlin (UKB) darf zu jeder Zeit des Tages jeder Rettungshubschrauber sofort landen. UKB meldet sich "nie bei der Leitstelle ab, nie", sagt der Ärztliche Direktor, "das ist unsere Philosophie". Axel Ekkernkamp, 43, macht eine kleine Pause: "Es ist doch ein Menschenrecht, sofort versorgt zu werden als Schwerverletzter. Da kann man doch nicht 'ne Stunde in der Luft darauf warten."

Offiziell hat das Berliner Krankenhaus nur einen Landeplatz auf seinem Dach. Zwei Helikopter haben aber lässig Platz. Notfalls auch drei, denn ein Heli-Pilot kann auf engstem Raum landen, wenn es nötig ist und wenn man es ihm erlaubt.

Der Zeitgewinn einer punktgenauen Landung ist ein kostbares Gut, man darf es nicht vertändeln. Wenn mehrere Wirbelknochen zerbrochen sind (weil das Mädchen vom Pferd gefallen ist), wenn 70 Prozent der Haut verbrannt sind (weil erst das Grillgut, dann die Kleidung Feuer fing), wenn die Kreissäge den Arm des Arbeiters sauber vom Körper abgetrennt hat, dann geht es wirklich um jede Minute.

Vom windigen Dach des Berliner Unfallkrankenhauses fahren deshalb zwei Fahrstühle in das Herzstück des Gebäudes - in den Schockraum für Schwerverletzte und, separat davon, in den für die Verbrennungsopfer. Tag und Nacht ist der auf 40 Grad Celsius temperiert. Ein nackter Mensch, dem die Haut in Fetzen am Körper hängt, friert leicht.

Für die Verbrennungsopfer hält die neue Klinik am östlichen Rand der Großstadt Berlin einen eigenen Trakt bereit. Es ist eine keimfreie Welt. Wer sie betritt, muss sterile OP-Kleidung anziehen. Mit den Mikroben, zumal denen, die sich im Krankenhaus besonders wohl fühlen, soll der Verbrannte nicht in Kontakt kommen. Das würde seine Überlebenschancen deutlich mindern.

Deshalb hat jeder Verbrennungspatient hier seinen eigenen Raum, ausgestattet mit allen Pretiosen der Medizintechnik. Selbst die Betten sind elektronische Wunderwerke, dreidimensional verstellbar und so konstruiert, dass die verbrannte Haut möglichst keinem Druck ausgesetzt wird. Zwölf Ärzte und 32 Krankenschwestern kümmern sich um zwölf Patienten. Kosten pro Tag und Patient: rund 4000 Mark.

Das separate Reich der Schwerstverbrannten hat noch eine Besonderheit, die das Berliner Unfallkrankenhaus als zukunftweisende Hightech-Klinik ausweist: Die Station kann sich auf die benachbarten Räumlichkeiten ausdehnen, im Katastrophenfall auf zwei Intensivstationen, in denen sich bis zu 20 Verbrannte verarzten lassen, alles ohne Abstriche vom höchstmöglichen Standard.

Alle hier sind auf die äußerste Notlage vorbereitet. Jeder Mitarbeiter hat einen Pieper in der Tasche, der meist nur die üblichen Signale sendet, im großen Ernstfall aber einen Ton, der Beine macht. Im OP-Trakt und davor sammeln sich dann in Minutenschnelle 150 Ärzte und Schwestern, genug Personal für alle Eventualitäten und die sofort einsatzbereiten 13 Operationssäle. Hinter solcher jederzeit abrufbaren ärztlichen Höchstspannung steht eine zentrale Überlegung: Die modernen Zeiten und der Unfall marschieren Hand in Hand. Je mehr Kräfte - PS oder Kilowatt - der Mensch kommandiert, je höher er baut, je schneller er fährt, je riskanter er Sport treibt, taucht oder fliegt, desto näher rückt ihm der Unfall auf den Leib.

Früher war es vor allem die harte Arbeit in Kohlengruben oder Stahlkochereien, die Unfälle nach sich zog. Der ärztliche Direktor der Unfallklinik Berlin kommt noch aus dieser Tradition. Axel Ekkernkamp hat die Unfallchirurgie im berühmten Bochumer Krankenhaus "Bergmannsheil" gelernt, als 37-jähriger Direktor wurde er 1994 nach Berlin geholt.

Am Rande des Ost-Berliner Stadtteils Marzahn, einer Plattenbau-Retortenstadt, in der PDS-Star Gregor Gysi stets mit großen Mehrheiten gewählt wird (nein, er selber wohnt dort nicht), fanden sich der Bauplatz und ein 120 Jahre altes Krankenhaus aus Ziegelsteinen, das den Architekten als Anregung diente. 500 Millionen Mark für 468 neue Betten wurden ausgegeben. Das ist viel Geld pro Bett, anderswo braucht man dafür oft nur ein Drittel.

In drei Jahren Bauzeit wurde die Unfallklinik - derzeit die modernste Deutschlands - aus hellbraunen Ziegelsteinen hochgezogen, vier Stockwerke, ein heller Bau, ebenmäßig und schön. Moderne Krankenhäuser müssen nicht nur aus Beton und so monströs sein wie das Klinikum in Aachen.

Könnte es sein, dass die zivile Form, der Verzicht auf Bombastisches, das Tun und Lassen der insgesamt 180 Ärzte und ihrer 750 Helfer günstig beeinflusst?

Gewöhnlich herrscht in Unfallkliniken ein rauer Ton. Führen und folgen, befehlen und gehorchen gelten als der richtige Stil. Den meisten Ärzten erscheint die Hierarchie ebenso unentbehrlich wie die Verteidigung des eigenen Reviers - meine Betten, mein Oberarzt, unsere Röntgen-Visite.

Im Unfallkrankenhaus am östlichen Stadtrand von Berlin weht ein anderer Wind. Die Leitenden Ärzte sind allesamt jung, manche nicht einmal 40 Jahre alt. Sie sind fast alle zur gleichen Zeit berufen worden, und keiner hat "eigene" Betten oder "eigene" OPs. Es gibt eine "flache Hierarchie", die traditionellen Oberschwestern mit ihrem Herrschaftswissen wurden wegrationalisiert.

Erfolgreich bestanden wurde auch der Kampf gegen die Papierflut, die in fast allen größeren Kliniken wütet: Die Zahl der Formulare, mit denen dort hantiert wird, geht immer in die tausende. In der Klinik in Marzahn stehen überall PC. Weil das Personal im Durchschnitt nur 33 Jahre alt ist, handhabt das Team die elektronischen Helfer ohne Friktionen. Zusätzlich zum Internet wird derzeit ein hauseigenes Intranet installiert. Verstaubte Ablagen soll es hier bald nicht mehr geben.

Die Röntgenbilder sind schon abgeschafft, vollständig. "Nasschemie" nennt der Ärztliche Direktor leicht angewidert die herkömmliche Art, ein schwarzgraues Schattenbild zu fabrizieren und es dann mit dem Verletzten auf Reisen zu schicken, bis es sich irgendwo unauffindbar zwischen anderen Röntgenbildern zur Ruhe legt.

In Marzahn sind alle bildgebenden Verfahren digitalisiert. Wer die richtigen Tasten drückt, der holt Ultraschallaufnahmen oder Computertomogramme sekundenschnell in den Raum, wo sie gerade gebraucht werden, neuerdings auch auf einen tragbaren Flachbildschirm direkt ans Krankenbett. Die digitale Röntgendiagnostik macht es möglich, die Bilder zu vergrößern und zu verkleinern, ihre zeitliche Abfolge auf einen Blick zu erfassen, sie elektronisch hin- und herzuwenden. Der Kranke wird durchsichtig. Das ist der Fortschritt.

Das "Spiral-CT" - technischer Höhepunkt in Marzahn - steht im Unfalltrakt parterre gleich neben dem Fahrstuhl, der die Schwerstverletzten vom Dach holt. Das Gerät zerlegt schmerzlos und schnell jeden Notfallpatienten innerhalb von einer Minute gleichsam in Scheiben: Auf dem Monitor wird der Mensch von Kopf bis Fuß durchsichtig. Zu erkennen ist jeder Knochen, jedes Blutgefäß, die Bandscheiben so klar wie der Kehlkopf, das Gehirn, die Kniegelenke.

Nach einem Verkehrs- oder Arbeitsunfall, dem Sturz vom Dach oder Baugerüst, auch nach einer Schlägerei oder einem Schusswechsel ist meist nicht nur ein Organ in Mitleidenschaft gezogen. Die ärztliche Kunst besteht darin, alle verletzten Körperteile rechtzeitig und vollständig zu orten, das Ausmaß und die Gefahr der Verletzungen richtig einzuschätzen und dann die Rangfolge der Reparaturen festzulegen.

Die Basis des ärztlichen Erfolgs ist die möglichst zuverlässige Diagnostik. In der Unfallchirurgie ist das leichter zu bewerkstelligen als bei Stoffwechsel-, Alters- oder Krebsleiden. In diesen Fächern verschwimmen die Diagnosen leicht, sie überlagern sich, und sie sind nicht so häufig Urteile über Leben und Tod. 80 Prozent der Patienten in Marzahn sind jünger als 65 Jahre - in vielen Berliner Krankenhäusern ist es genau umgekehrt.

Und wie wird das in Zukunft sein? Die Wende zur vollständigen Wiederherstellung der Gesundheit - und damit der Arbeitsfähigkeit - gelingt naturgemäß besser in jungen Jahren. Einem 70-jährigen Hobbybastler, der sich die Finger abgesägt hat, kann die tüchtigste Abteilung für Hand-, Replantations- und Mikrochirurgie die Hand meist nicht mehr rekonstruieren; bei einem 17-Jährigen ist das inzwischen Routine.

Die Natur und das Alter setzen der ärztlichen Kunst Grenzen. Aber die werden immer weiter hinausgeschoben. Qualitätssprünge sind vor allem dort zu beobachten, wo modernste Technik, engagiertes Personal und möglichst vitale Patienten aufeinander treffen.

60 Betten hat in Marzahn die Abteilung für Rückenmarkverletzte. Die meisten sitzen, wenn sie nach durchschnittlich 73 Tagen die Klinik verlassen, für immer querschnittgelähmt im Rollstuhl. Noch gibt es keine seriöse Methode, ein durch Unfall zerstörtes Rückenmark wieder zusammenzufügen. Doch das muss nicht so bleiben.

Dass Nervenbahnen funktionsgerecht wieder zusammenwachsen, gilt als das große Ziel der Neurochirurgen. Lokal wirksame Wachstumsfaktoren sollen die biologische Reparatur stimulieren. Auf längere Sicht traut man in der Unfallheilkunde auch den Mikrochips Großes zu, schließlich ist die Weiterleitung nervaler Impulse ein elektrochemischer Vorgang.

Chips werden, hoffen die Experimentatoren, auch die lädierten Sinnesorgane wieder funktionstüchtig machen. Bei Auge und Ohr sind die Entwicklungen weit fortgeschritten. Es wird versucht, die zerstörte Netzhaut durch mikroelektronische Bausteine zu ersetzen. Das gleiche Prinzip hilft Patienten mit einem zerstörten Innenohr. Ihre Taubheit ist kein unabänderliches Schicksal mehr.

Weil aber ein Produkt aus der Natur noch immer das Beste ist, gelten die Langzeithoffnungen der Mediziner den "nachwachsenden Organen". Wenn es gelänge, aus dem Amputationsstumpf ein gesundes Bein wachsen zu lassen, wenn der Verlust von Nervenzellen nicht unabänderlich, sondern vorübergehend wäre, wenn gar zerstörte Sinnesorgane aus den körpereigenen Erbinformationen als Doubletten hergestellt - "geklont" - werden könnten, würde die ärztliche Kunst die Folgen von Krankheit und Unfall nicht mehr nur lindern, sondern aufheben können.


TAUCHEN IM NANOKOSMOS

Die Medizinforschung stößt vor in die Welt des Allerkleinsten: Nanotechniker lassen winzige Fähren auf die Größe von wenigen Molekülen schrumpfen. So transportieren sie Arzneimittel in die Zellen und DNS-Bausteine ins Erbgut.

Für Siegmar Roth beginnt "die nächste technische Revolution" mit einem kurzen Dreh an der Gasflasche. Der Physiker lässt Acetylengas in ein Glasrohr strömen und erhitzt es mit einem Bunsenbrenner.
Danach rauschen die Abgase in eine mattsilberne Trommel, einen Katalysator, wo "die Gasmoleküle gecrackt werden", erklärt Roth. Das Resultat ist ein feiner schwarzer Ruß, den der Forscher in einem Wasserglas auflöst. "Eigentlich nichts anderes als Tusche", sagt Roth. "Aber das ist der Werkstoff, aus dem die großen Erfindungen der nächsten 50 Jahre sind."

Ihr Geheimnis gibt die pechschwarze Brühe erst unter dem Rasterkraftmikroskop preis: Die Kohlenstoffpartikel entpuppen sich als winzige Röhrchen, deren Durchmesser kleiner ist als die Wellenlänge des Lichts: ein Nanometer. Das ist der milliardste Teil eines Meters, der millionste Teil eines Millimeters. Kürzlich gelang es dem Wissenschaftler, diese Nanoröhrchen zu einer Faser zu verspinnen und elektrische Spannung anzulegen. Wie ein Muskel wippten die Nanoröhrchen auf und ab.

"Schon in drei bis fünf Jahren könnte mit diesem künstlichen Muskel der Kopf einer neuen, noch viel kleineren Generation von Endoskopen bewegt werden", glaubt Roth. Später sollen Pumpen folgen und winzige Greifarme - Tentakel eines Nanoroboters, der so klein ist, dass er durch die Blutbahnen des Menschen passt.

Erfindungen wie die am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart schaffen die Grundlagen für eine neue Art von Medizin. Heute noch gleichen viele Heilmethoden in ihrer Grobheit dem Versuch, mit dem Presslufthammer eine kaputte Uhr zu reparieren. Künftig sollen die Werkzeuge des Arztes auf molekulares Format zusammenschrumpfen. Deutsche Forschungsinstitute liegen an der Spitze des Nanofortschritts. Die phantasievollsten Visionen trauen sich ihre amerikanischen Kollegen zu. Der amerikanische Chemie-Nobelpreisträger Richard Smalley ist davon überzeugt: "Wir werden Apparate in der Größenordnung lebender Zellen bauen. Sie könnten uns als Implantate dienen, oder wir lernen, wie wir den genetischen Code verändern können."

Smalleys Forscherkollege Robert Freitas vom kalifornischen Foresight-Institut sieht damit einen Ziel- und Endpunkt des Fortschritts herannahen: "Die Nanotechnik wird praktisch alle Krankheiten des 20. Jahrhunderts besiegen, alle körperlichen Schmerzen und das Leiden."

Noch vor wenigen Jahren wurden Smalley und Freitas für ihre Visionen belächelt - und ihre Kritiker haben nach wie vor gute Gründe. Denn viele nanotechnologische Probleme warten auf Erfindungen von nobelpreiswürdigem Format.

So ähneln heutige Computerchips im Verhältnis zu den Erfordernissen des Nanokosmos etwa den mannshohen Rechenapparaten Konrad Zuses aus den vierziger Jahren. Noch zu klären ist auch die Frage der Antriebsenergie für die im Organismus umhersausenden Heilsbringer.

Die bekannten Stromspeicher scheiden jedenfalls aus: Eine heutzutage handelsübliche Hörgeräte-Batterie von zwei bis drei Millimeter Länge müsste um das Zehntausendfache schrumpfen.

Andererseits eignet sich die Nanomedizin auch nicht mehr als Stoff für bloße Utopien - die Wirklichkeit ist dabei, die Science-Fiction-Romane einzuholen. In mehreren Forschungslaboren schwimmen bereits künstliche Blutzellen und Muskeln in der Nährlösung. Auf so genannten Nanofähren schmuggeln Wissenschaftler DNS-Stücke in menschliche Zellen - so könnten später einmal Gendefekte repariert werden. Auch das Mikro-U-Boot, mit dem 1966 Raquel Welch in dem Film "Die phantastische Reise" durch die Blutbahnen eines alternden Professors rauschte, ist als Prototyp bereits vom Stapel gelaufen - in Duisburg.

Reiner Götzen, Mini-U-Boot-Erfinder und Gründer der Firma Microtec in der Ruhrgebietsstadt, hat über sein Entwicklungslabor die höchste Sicherheitsstufe verhängt: Zutritt verboten für Besucher - aber auch verschnupfte Mitarbeiter. Der Durchmesser des U-Boot-Rumpfes von gut einem halben Millimeter duldet keinen falschen Atemzug. Nur vage spricht Götzen über die Fertigungstechniken in seiner Liliputwelt. Am liebsten würde er es bei einem orakelhaften Spruch belassen: "Unsere Strukturen wachsen durch das Licht, fast wie die Ähren auf dem Kornfeld."

Nur fast. In der Realität brennt ein computergesteuerter Laser die Umrisse des Unterwassergefährtes in eine dünne Lage Acrylpolymer. Der hauchfeine Lichtstrahl härtet die Kohlenstoffstruktur des Kunststoffes aus. Schicht für Schicht entsteht so die dreidimensionale U-Boot-Form. Das Vehikel selbst zählt noch zur Klasse der Mikrosysteme - um einen Faktor 1000 größer als die Nanowelt.

Die Technik im Rumpf aber müsste Nanoformat besitzen. Durch winzige Ventile soll Körperflüssigkeit in einen Biochip fließen und gleich vor Ort analysiert werden. "Im Inneren der U-Boote könnten dann aus nur wenigen Molekülen Arzneimittel synthetisiert und über Pumpen direkt an die erkrankten Zellgewebe abgegeben werden", prophezeit Götzen.

Auf der Blutbahn-Patrouille lauern viele Gefahren. Das zeigt ein Versuch im Wasserglas. Beim Auftauchen wird das Mikro-U-Boot in Folge der Oberflächenspannung des Wassers wie mit der Wucht eines Tsunami gegen die Glaswand geschleudert.

Zu Grunde liegt ein physikalisch triviales Phänomen: Die Ausmaße des U-Bootes sind ultrawinzig, die Außenhaut bietet aber im Verhältnis zum Volumen eine gigantische Angriffsfläche. "Der Antrieb muss entsprechend kräftig sein", folgert Götzen. Versuche mit zwei Magneten an der Schiffsschraube stimmen ihn optimistisch: Ein von außen angelegtes elektrisches Spannungsfeld lässt den Propeller ordentlich drehen.

Damit ist allerdings noch keine brauchbare Antriebsart für die Nanoroboter der Zukunft gefunden. Die sollen noch tausendfach kleiner sein, weswegen Nanoforscher wie Carlo Montemagno Anschauungsunterricht in der Natur nehmen.

"Bakterien, die meisten von ihnen knapp einen Mikrometer klein, gleiten schnell und elegant durch den menschlichen Körper", sagt der Professor an der Cornell University im US-Bundesstaat New York. Viele Mikroben erzeugen ihre Energie mit Hilfe des Enzyms ATP-ase. Dieses Enzym besitzt eine Art Rotor, der sich im umgekehrten Uhrzeigersinn dreht.

Carlo Montemagno ist es gelungen, einige dieser natürlichen Propeller abzutrennen und auf eine hauchdünne, nickelbeschichtete Nanoplatte zu verpflanzen. "Der Rotor kreiste 40 Minuten lang mit bis zu vier Umdrehungen in der Sekunde. So erhielten wir den Prototyp eines Nanomotorbootes."

Schritt für Schritt tasten sich Wissenschaftler in die Nanowelt vor. Ihre unbemannten Expeditionsgefährte müssen letztlich aus einzelnen Molekülen zusammengebaut werden. Denkbar wurde dieser Vorstoß in eine der letzten, dem Menschen lange unbekannten Welten erst Mitte der achtziger Jahre durch die Erfindung des Rasterkraftmikroskopes. Damit lassen sich einzelne Atome beobachten.

Mittlerweile verfügen amerikanische Forscher der University of North Carolina über ein Werkzeug, um die elementaren Bausteine aufeinander zu schichten. Das Herzstück des Nanomanipulators ist ein Rasterkraftmikroskop, dessen Bilder vom Computer räumlich aufgelöst und auf eine tischgroße Fläche projiziert werden. Die atomaren Teilchen können durch präzise Stöße mit der atomar spitzen Nadel umhergeschoben werden. Mit einer gezielten Bewegung an einem Joystick können die Wissenschaftler Kohlenstoffatome von dem Nanoröhrchen abtrennen.

Die Wissenschaftler aus North Carolina muten zwar futuristisch an, wenn sie sich mit Cyberbrillen über den Projektionstisch beugen. "Verglichen mit dem Selbstorganisationsprinzip der Natur ist dieses Hin- und Hergeschiebe allerdings primitiv", gibt Martin Guthold, einer der Atom-Manipulateure, gern zu.

Die wohl raffiniertesten chemischen Fabriken in der Natur, die sich aus atomaren Bausteinen selber zusammensetzen, sind Viren. Die meisten von ihnen messen zwischen 20 und 200 Nanometern und bestehen nur aus einigen hundert Molekülen.

Der Biopharmazie-Professor Claus-Michael Lehr an der Universität Saarbrücken will sich die überlegenen Eigenschaften dieser Krankheitserreger zu Nutze machen: "Viren reproduzieren sich millionenfach. Und das innerhalb kurzer Zeit. Außerdem haben sie einen trickreichen Mechanismus, um in die Zelle einzudringen", erklärt Lehr.

Nach diesem Muster experimentiert der Mikroforscher mit seinen Nanofähren: "Ziel ist es, pharmazeutische Wirkstoffe oder Genomteile über die Zellmembran direkt in den Zellkern zu schmuggeln."

Grundträger der Fähren sind Siliziumdioxid-Partikel, etwa 25 Nanometer groß. Diese Kügelchen werden mit einer positiven Ladung versehen, weswegen sich eine negativ geladene DNS ganz von selbst an das Nanoteilchen anschmiegt. "Moleküle dieser Größe können leicht von den Zellen verschluckt werden", erläutert der Professor; der Vorgang heißt Endozytose.

Jetzt muss nur noch die körpereigene Immunabwehr ausgeschaltet werden. Nach dem Schlüssel-Schlüsselloch-Prinzip legt sich als weitere Schicht ein Molekülkordon rund um das Nanoteilchen. Er besteht aus bioaktiven Lektin-Proteinen, die der Zelle signalisieren: Hier kommt kein bösartiger Fremdling, sondern ein Nährstoff.

Die Trojanischen Pferde aus Saarbrücken können aber auch nanoformatige Eisensplitter in die Zelle schmuggeln. Mit diesem Zelltrick beschäftigt sich Krebsforscher Andreas Jordan von der Charité in Berlin. Er spritzt die Nanospäne ins Tumorgewebe, lässt sie in die Killerzelle einsickern und legt dann ein starkes Hochfrequenz-Magnetfeld an. "Dadurch geraten die Teilchen in Schwingung, produzieren Wärme und zerstören die Krebszelle." Im Gegensatz zu vielen anderen nanomedizinischen Anwendungen ist dieses hyperthermische Verfahren schon in einem konkreten Stadium: Gegenwärtig laufen Tierversuche, Ende des Jahres soll die Methode bei Patienten mit Gehirntumor erprobt werden.

Derweil tüfteln die Forscher an weiteren Transportsystemen, mit denen sich die Arznei oder die DNA noch viel diskreter und geschützter verpacken lässt. Im Reagenzglas bereits getestet wurde eine Kapsel mit komprimiertem Sauerstoff. Sie könnten einem Herzinfarkt-Patienten gespritzt werden, damit der Körper weiterhin mit Sauerstoff versorgt wird.

Am Ende dieser Entwicklung könnten künstliche Körperzellen stehen, die für eine bestimmte Aufgabe entworfen wurden. "Schon heute lässt sich die Außenhaut der Kapsel so porös synthetisieren, dass bestimmte Proteine durch die Öffnungen

hinein in die Zelle strömen könnten und wieder heraus", beschreibt der Chemiker Hermann Schirra vom Saarbrücker Institut für Neue Materialien das Konzept eines Biogenerators.

Bei Diabetikern könnte er als Schutz für implantierte Inselzellen dienen. Glucosemoleküle strömen in die Nanokapsel. Drinnen beginnt der aus gesundem Gewebe der Bauchspeicheldrüse gewonnene Zellreaktor mit der Produktion von Insulin. Der Biowissenschaftler Mauro Ferrari von der Ohio-State-University hat die Methode bereits an Kleintieren erprobt.

"Die Nanopharmazie verspricht völlig neue Therapiestrategien", glaubt Arzneimittelforscher Lehr. Im Visier der Nanomediziner sind aber nicht nur die molekularen Produktionsstätten des Körpers, sondern auch die Schaltzentralen im Hirn und in den Nervenbahnen.

So züchten Wissenschaftler am Münchner "Center for Nanoscience" Epithelzellen von Rattenhirnen auf einem winzigen Chip; Ziel ist es, Hirnimplantate und Biosensoren zu entwickeln - eine Art Diagnosesystem im Molekülformat.

Die atomaren Assistenzärzte könnten den Patienten dereinst das qualvollen Blutabnehmen ersparen. Und statt des Spritzen-Kommandos "Machen Sie Ihren Arm frei" würde es künftig heißen: "Tief einatmen, bitte!"

Nanoroboter sind so klein, dass sie sogar durch die Lungenkapillaren passen.

* Der Monitor zeigt zwei Nanopartikel unter dem Transmissionselektronenmikroskop; die erkennbaren Punkte stellen Atome dar.

** Mit dem Modell eines Nanoröhrchens aus Kohlenstoff.


"DIE LIEBE VERKÜMMERT"

Wohin steuert die Hightech-Medizin? Internist und Bioethiker LINUS GEISLER befürchtet Fehlentwicklungen. Sein Fazit: Die Tante-Emma-Praxis ist tot, der Mensch bleibt sterblich und das Medizinsystem unersättlich.

SPIEGEL: Herr Professor Geisler, "die Zukunft ist das Land der Phantasten", hat der Philosoph Immanuel Kant gesagt. Mögen Sie ein wenig über die Zukunft des Gesundheitswesens phantasieren?
Geisler: Sicherlich ist alles spekulativ, was wir hier sagen. Eines aber, denke ich, kann man mit großer Sicherheit vorhersagen: Wir Menschen werden sterblich bleiben. Die Summe des Leidens wird sich nicht verringern, nur das Spektrum wird sich wandeln. Es werden andere Todesursachen Nummer eins kommen - aber eine Todesursache Nummer eins wird es immer geben.

SPIEGEL: Gehört es nicht zu den Verheißungen der modernen Medizin, sie werde das Leiden mindern?

Geisler: Ich möchte sogar so weit gehen zu sagen: Die Summe des Leidens wird zunehmen. Denn in dem Maße, wie die Menschen älter werden, nimmt auch die Zahl derer zu, die chronisch krank werden oder mit irgendeiner Form der Behinderung weiterleben. Die große Menge der Pflegebedürftigen ist ein Produkt der modernen Medizin, und nichts deutet darauf hin, dass dieses Produkt in Zukunft kleiner wird.

SPIEGEL: Wird sich diese Entwicklung auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient auswirken?

Geisler: Unvermeidbar. Es gibt mehrere Faktoren, die das Arzt-Patienten-Verhältnis bestimmen werden. Zum einen: Die Tante-Emma-Praxis ist tot. Die Bezugsperson Arzt, von der ich alles weiß und die von mir alles weiß, existiert nicht mehr. In Zukunft wird die Behandlung immer anonymer und sprachloser werden.

SPIEGEL: Der Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner hat über die ärztliche Profession gesagt, sie sei ein Gemisch aus Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft. Welcher dieser Aspekte wird in Zukunft im Vordergrund stehen?

Geisler: Die Liebestätigkeit wird verkümmern und der Geschäftssinn zwangsläufig florieren. Der Arzt steht in einem nahezu unlösbaren Dilemma: Individuell ist er dem Wohlergehen seines Patienten verpflichtet. Auf der anderen Seite steht er unter einem enormen gesellschaftlichen Druck zu sparen. Diese Zerrissenheit werden die Patienten immer stärker zu spüren bekommen. Zuwendung wird zur Mangelware werden. Der Doktor als "père maternel", als mütterlicher Vater, der zwar sagt, wo es langgeht, aber auch das große Herz der Mutter in sich hat, wird bald eine Figur von gestern sein. Es wird einen sehr rationalen, in jedem Sinne auch berechnenden Umgang zwischen Arzt und Patient geben.

SPIEGEL: Welchen Einfluss werden Informationstechnologien wie das Internet auf die Arzt-Patienten-Beziehung haben?

Geisler: Der Einfluss wird enorm sein, und die Folgen sind noch gar nicht abzusehen. In den USA gibt es jetzt schon über 20 Millionen Gesundheitssurfer, die ihren Doktor mit einem Computerausdruck bedrängen und sagen: Da steht das und das, was meinen Sie denn dazu? Die Ärzte, deren Wissen ja oft sehr veraltet ist, wird das zwingen, sich besser fortzubilden. Aber es birgt auch große Gefahren. In der Anonymität des Web gibt es zum Beispiel schon jetzt einen grauen Medikamentenmarkt, ich glaube, allein 90 Web-Seiten, auf denen Viagra angeboten wird, ohne rechte Aufklärung über die Risiken.

SPIEGEL: Auf jeden Fall fördert das Internet die Autonomie des Patienten. Werden Ärzte eines Tages weitgehend überflüssig?

Geisler: Bestimmt nicht. Das Schlagwort von der Autonomie des Patienten ist für mich Augenwischerei. Denn Autonomie kann nur funktionieren, wenn man das System auch durchschaut, in dem man sich befindet. Dieses System ist aber heute so chaotisch, und Gut und Böse sind so schwer zu unterscheiden, dass es für einen Laien fast unmöglich ist, noch durchzublicken. Ein Beispiel: Schutzimpfung gegen Polio, das konnte jeder noch als "gut" einstufen. Aber wie ist Klonen zu bewerten? Es werden immer mehr solcher ethisch changierenden Techniken angeboten werden. Die Autonomie des Patienten gerät in diesem System leicht zur Abwälzung von Verantwortung. Der "mündige Patient" ist für mich eine Illusion.

SPIEGEL: Schon jetzt können nicht mehr alle medizinischen Leistungen allen Menschen in gleicher Weise zur Verfügung gestellt werden. Wird diese Rationierung in Zukunft noch rigider werden?

Geisler: Wenn in der Entwicklung von neuen Technologien keine ethische Bremse ge- zogen wird und auf der anderen Seite die Budgets begrenzt sind, gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: dass ein Teil der Leistungen privatisiert wird, dass also nur diejenigen die Leistung erhalten, die sie auch bezahlen können, und dass für den großen Rest rigoros rationiert wird. Ein Denkmodell ist die "Basisversorgung auf niedrigem Niveau". Sie fängt ja schon an, und zwar wie immer bei den Schwächsten. Die Altenpflege zum Beispiel hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Letztendlich läuft das auf eine so genannte gelenkte Sterblichkeit hinaus: Weil die Kosten in den letzten zwei Lebensjahren am höchsten sind, wird eine Verkürzung der Lebenserwartung in Kauf genommen.

SPIEGEL: Wie hat unser ehemaliger Ärztepräsident das genannt: "sozialverträgliches Frühableben".

Geisler: Hier sehe ich die ganz große Schizophrenie unserer Medizin - auf der einen Seite macht sie eine zunehmende Lebensverlängerung möglich und zeigt Szenarios von ewigem Leben, von Nichtmehr-Altern, von Unsterblichkeit. Auf der anderen Seite steuert sie aus ökonomischen Gründen unausgesprochen auf eine gewisse Verkürzung der Lebenserwartung hin. Genau das ist die große Sinn- und Identitätskrise der heutigen Medizin. Solange diese nicht wirklich einem Klärungsprozess unterworfen wird, werden noch dramatische Probleme auf uns zukommen.

SPIEGEL: Wie könnte ein solcher Klärungsprozess denn aussehen?

Geisler: Ein Ansatz, über den man nachdenken könnte, wäre eine breite gesellschaftliche Diskussion, basierend auf einer möglichst großen Transparenz. Und zwar sehr früh, nicht erst wenn die neuen Techniken schon auf dem Markt sind. Man müsste, lange bevor eine Innovation klinik- oder praxisreif wird, prüfen: Können wir sie wirklich allen, die sie brauchen, anbieten? Wenn nicht, sollte diese Technik nicht weiter entwickelt werden. Der französische Reproduktionsmediziner Jacques Testart nannte das eine Ethik der Nichtforschung, eine "Logik der Nichterfindung" ...

SPIEGEL: ... die aber im Kapitalismus nicht funktioniert. Auch könnte jemand, der Geld hat, in ein medizinisches Zentrum nach Kalkutta oder Schanghai fliegen und sich dort applizieren lassen, was er hier nicht bekommt.

Geisler: Ja, diese Schieflage wird es immer geben.

SPIEGEL: Manche setzen aber auch große Hoffnungen in die neuen Technologien, zum Beispiel die Gentechnologie, die die nächsten Jahrzehnte prägen wird.


Geisler: Es wird sicherlich neue, gut wirksame Arzneimittel geben. Ich bezweifle allerdings, dass sie billiger und auch Menschen in Entwicklungsländern zugänglich sein werden. Meine größte Skepsis gilt der genetischen Diagnose von Krankheiten und dem manipulativen Zugriff auf die Keimbahn.

SPIEGEL: Der Genchip, auf dem man 5000 Erbkrankheiten ablesen kann ...

Geisler: Das ist der erste Schritt zu einer Selektion. Außerdem wirft es die Frage auf: Was ist eigentlich "Krankheit"? Dass es schwere Erbkrankheiten gibt, die man verhüten möchte, ist klar. Aber was ist mit den Linkshändern? Oder mit den Legasthenikern? Sind das dann noch Gesunde? Oder rücken die schon in eine Grauzone, wo man sie nicht mehr haben will?

SPIEGEL: Darüber hinaus wird es immer mehr Krankheiten geben, die wir zwar diagnostizieren, aber nicht heilen können.

Geisler: Es werden "unpatients" kommen, die es nicht abwarten können, weil sie die Prophezeiung schon in der Tasche haben, dass sie mit 40 Jahren eine tödliche Krankheit bekommen werden und darauf nur noch warten.


SPIEGEL: Es bleibt aber dabei: Alles, was machbar ist, wird irgendwann gemacht. Man wird keine der Entwicklungen durch Gesetze auf Dauer verhindern können.

Geisler: Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Wenn man sich diese "rocket scientists", die Extremwissenschaftler von heute, ansieht, die sich als eine Elite auffassen und sich demokratischer Kontrolle zu entziehen versuchen, dann weiß man: Alles das wird kommen. Sie gehen fast blind für die sozialen und ethischen Folgen ihren Forschungszielen nach.

SPIEGEL: Der Aufwand für die Gesundheit liegt in Deutschland gegenwärtig bei 550 Milliarden Mark pro Jahr. Angenommen, die Summe wird verdoppelt, hätten wir dann ein Niveau erreicht, auf dem wir sagen können: Nun ist es genug, für alle Menschen wird alles Menschenmögliche getan? Oder ist das medizinische System prinzipiell unersättlich?

Geisler: Das Letztere kann ich nur bejahen. Es wird deshalb früher oder später zu ganz dramatischen gesellschaftlichen Spaltungen kommen. Der amerikanische Wissenschaftler Lee Silver zum Beispiel sagt: Es wird eines Tages eine Spaltung in die Gen-Reichen und die Gen-Armen geben. Die einen können sich eine genetische Top-Ausstattung leisten, und die werden dann mit ihren armen, alten Verwandten, die noch alle Erbkrankheiten bekommen, nicht mehr verkehren wollen. Wie das im Einzelnen sein wird, wissen wir heute nicht, aber die gesellschaftliche Spaltung in Reiche und Bedürftige, was die Früchte der Medizin betrifft, ist vorprogrammiert.

SPIEGEL: Herr Professor Geisler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Veronika Hackenbroch und Hans Halter.

* Der amerikanische Alternativmediziner Sam Benjamin vom Arizona Center for Health and Medicine in Phoenix. Benjamin behauptet: "Ein Gebet kann die Heilung ebenso befördern wie ein Medikament."

** Mit ihrem ersten, durch natürliche Befruchtung entstandenen Nachwuchs.
Happy End:

Medizin von Morgen III

 
10.02.02 00:56
Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571492

Der (fast) unsterbliche Mensch - lässt sich das Altern hinausschieben

DER (FAST) UNSTERBLICHE MENSCH

Hormoncocktails sollen Greise jugendfrisch halten, Biologen hoffen auf die Entwicklung einer Gedächtnispille und auf nachwachsende Gliedmaßen aus der Retorte. Gelingt es dem Menschen wirklich, die Natur auszutricksen?

Lässt sich die Lebenszeit des Menschen verlängern - oder gar der Tod abschaffen? Optimistische Wissenschaftler erwarten eine Verdreifachung der Lebenserwartung und versprechen jahrzehntelangen Stillstand im Prozess des Alterns.

Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571492

Als er zum Sterben kam, bat Benedikt von Nursia seine Klosterbrüder um einen letzten Gefallen. Der Vater des abendländischen Mönchtums wollte stehend sterben, das Gesicht der Morgensonne zugewandt.

So geschah es. Bis zum letzten Atemzug, mit dem er seine Seele aushauchte (am 27. März 547), hielt man ihn aufrecht - Ausdruck des Respekts vor Gottvater und seinen himmlischen Heerscharen, die den frommen Mann zu sich holten.

Benedikt und die Seinen waren sicher, dass Sterben nicht das Ende, sondern der Anfang des Eigentlichen - der Unsterblichkeit - sei. Beginn einer niemals endenden Glückseligkeit im Paradies, ohne Schmerzen oder Atemnot, ohne Hunger und Durst, in Gemeinschaft mit Jesus und den Engeln.

Der Tod galt nicht nur dem heiligen Benedikt als Episode auf dem Weg zum ewigen Leben. Alle großen Religionen dieser Erde verheißen dem Gläubigen Unsterblichkeit, denn der Mensch trägt schwer an seinem Wissen von der Endlichkeit alles Irdischen.

Doch die Versprechungen - Auferstehung, Wiedergeburt, ewiges Leben - schenken immer weniger Menschen Trost. Sie fürchten den Tod als Ende, nicht als Verwandlung. Selbst den Heiligen Vätern in Rom wird die eigene Krebsdiagnose verheimlicht.

Unsterblichkeit, wenn möglich eine garantierte, gehört zu den Ur-Wünschen des Menschen. Sie würde ja nicht nur das Sterben abschaffen - selbst Jesus von Nazareth starb nicht heiter und gelassen, vielmehr mit "lautem Schreien und Tränen", wie es im Hebräerbrief heißt -, sondern den Homo sapiens endlich seinen Göttern gleichstellen. Götter sterben nicht.

Ist es bald so weit? "Der bedeutendste Wandel in der Geschichte der Menschheit hat begonnen", verkündet Michael Fossel, Professor für klinische Medizin an der Michigan State University, "in 20 Jahren können wir das Altern aufhalten und unsere biologische Uhr zurückstellen lassen."

Der Amerikaner ist ein Giga-Optimist, aber er ist nicht allein. Immer mehr Naturwissenschaftler - Ärzte, Biologen, Physiker - erwarten einen evolutionären Sprung nach vorn: ganz langes, womöglich ewiges Leben auf Erden.

"In wenigen Jahren", prophezeit Philipp Lee Miller vom Longevity Institute in Los Gatos, USA, "werden sich 80-Jährige wie 20 fühlen und Sport treiben wie junge Leute."

Wem das als Lebensperspektive zu strapaziös ist, der sollte sich den Vorhersagen des New Yorker Professors Michio Kaku anvertrauen. Der erwartet eine Verdreifachung der Lebenserwartung und, schöner noch, einen Stillstand des Alterns. Wer will, der kann "viele Jahrzehnte als 30-Jähriger herumschweben".

Möglich werde das alles, so orakeln die Prognostiker, durch die epochalen Fortschritte der Gentechnik und der Reproduktionsmedizin, durch Keimbahnchirurgie, Jungbrunnen-Cocktails, Heilkunst in und aus der Retorte.

Unbestritten boomt dieser Zweig der Medizin. Die Beschäftigung mit den ersten und letzten Fragen des Mensch-Seins ist keine blutleere akademische Diskussionswissenschaft mehr - schon gar nicht Theologie -, sondern profitables Business. Es wird viel Geld hineingesteckt, und noch mehr soll (und wird) herauskommen.

"Gentechnik eröffnet uns die tiefreichende Macht, unsere Kinder und die Zukunft unserer Art zu formen", verkündet Gregory Stock, einer der Großen der Zunft, Direktor des Programms Science, Technology and Society an der University of California in Los Angeles.

In den Vereinigten Staaten seien, sagt Stock, Manipulationen der menschlichen Keimbahn "unaufhaltbar". Der Biophysiker weiß, was das bedeutet: "In vielen Bereichen beginnen wir Gott zu spielen ..." - Gedankenpause - "... und wir können nicht zurück."

Alles dreht sich um die Gene. Diese mikroskopisch kleinen Erbeinheiten in den Zellkernen sind der Schlüssel zu Gesundheit und Krankheit, kurzem oder langem Leben, Altern und Tod. Logischerweise sind sie auch das biologische Substrat der Unsterblichkeit.

Der Mensch besteht aus gut 100 Billionen Zellen, das Pantoffeltierchen nur aus einer einzigen, die fehlerlos reproduziert wird. Deshalb ist das Pantoffeltierchen potenziell unsterblich. Warum die menschlichen Zellen altern, ist strittig. Kann sein, dass die "Verschleißtheorie" zutrifft - dann sterben die Zellen am Ende durch Abfallprodukte der biochemischen Reaktionen. Gut möglich auch, dass die Lebensspanne genetisch vorbestimmt ist - nach dieser "Programmtheorie" läuft im Erbgut eine Uhr, die die Zahl der Zellteilungen begrenzt.

Ob nun Verschleiß- oder Programmtheorie: Beide Mechanismen lassen sich manipulieren. Die Evolution tut nichts anderes. Sie schenkt der Eintagsfliege nur einen Morgen, der Riesenschildkröte 150 Jahre, dem Elefanten sechsmal Backenzähne. Wenn deren letzte Garnitur, vier Stück à 40 Zentimeter, abgeschliffen ist, ist der große Pflanzenfresser am Ende. Unfähig, seine normale Nahrung zu kauen, verendet er oder versinkt auf der Suche nach weichen Wasserpflanzen klagend im Morast.

Wenn es gelingt, beim Menschen die Gene zu orten und zu verändern, die das Altern steuern, wenn es möglich wird, die Reproduktionsfehler bei der Zellteilung zu korrigieren, dann ist die visionäre schöne neue Welt nicht fern: Wer die Zellalterung beherrscht, der realisiert den Jungbrunnen; wer die Kopierfehler ausmerzt, der nähert sich der Perfektion des Pantoffeltierchens.

Und das alles noch in diesem Jahrhundert? Sicher ist, dass nichts sicher ist, selbst das nicht. Dieses melancholische Fazit wird dem unsterblichen Humoristen Karl Valentin zugeschrieben. Die Leser der "Technology Review" werden heutzutage anders eingestimmt: auf das "Schatzhaus der Möglichkeiten". In ihm, so heißt es, laufe das "spannendste, umstrittenste und verschwiegenste aller wissenschaftlichen Unterfangen", die Jagd nach den embryonalen menschlichen Stammzellen.

Wer sie in der Retorte zu kultivieren lernt, der kann neue Organe nachwachsen lassen - Herzen, Nieren, Knochen, ganz nach Belieben. Auf dem Weg zum ewigen Leben sind das womöglich die Bausteine, nach denen sich nicht nur Transplantationschirurgen sehnen.


Wer die Stammzellen des ungeborenen Menschen in seine kundigen, notwendigerweise skrupellosen Finger bekommt, der ist auch dem Klon nicht fern. Warum soll, was beim Schaf Dolly und beim Schwein Dotcom geklappt hat, beim Menschen nicht funktionieren? Weil es verboten ist?

Der menschliche Klon, die Dublette des Individuums auf Bestellung, ist das Substrat der Unsterblichkeit - er besiegt den Tod, so wie früher der Glaube.


ÖLWECHSEL FÜR DEN KÖRPER

Mit Anti-Aging-Programmen wollen Mediziner das Alter hinauszögern. Versprochen werden Wohlbefinden und beste Gesundheit. Doch wohin entwickelt sich eine Gesellschaft, in der topfitte Greise das Sagen haben?

Das Alter ist, als ob man mit dem Flugzeug in einen Sturm gerät. Einmal an Bord, kann man nichts mehr daran ändern, erklärte die Politikerin Golda Meïr.
Altern ist lästig, unattraktiv wie ein muffiger Turnschuh, tückisch obendrein, eine einzige Kränkung. Geburtstage sind nichts weiter als nummerierte Vergänglichkeit, irgendwann, so wird einem jeden schmerzhaft klar, besteht das Leben nur noch aus Zahnarztterminen, Krückstöcken und orthopädischem Schuhwerk.

Der Tod des Menschen ist sein - einstweilen - unvermeidliches Schicksal. Osteoporose und andere Zipperlein sind es nicht, so lautet eine Verheißung der modernen Medizin. Unter dem Zauberwort "Anti-Aging" werden eine Reihe von Therapien und Methoden angeboten, die Leistungsfähigkeit und Gesundheit bis ins hohe Alter sichern sollen.

Ein Hamburger Geschäftsmann, 56 Jahre alt, sieht sich als lebenden Beweis für den Nutzen solcher Anti-Aging-Kuren. Vor einigen Jahre fühlte er sich plötzlich schlapp, er kränkelte häufig, dümpelte depressiv und lustlos durch sein Dasein. Der Gedanke an Sex ließ ihn nur noch müder werden. Sein Hausarzt hatte lediglich mit der Schulter gezuckt und gesagt: "Das ist halt so. Sie werden älter."

Schließlich geriet der Leidende an den Hamburger Allgemeinarzt Gerald Müller, der gemeinsam mit einem Urologen und einem Gynäkologen ein einschlägiges Behandlungsprogramm anbietet. Zentraler Bestandteil der Therapie ist eine Hormonsubstitution, individuell abgestimmt auf den jeweiligen altersbedingten Schwund der körpereigenen Steuersubstanzen.

Knapper werden beispielsweise das Wachstumshormon HGH, die Sexualhormone Testosteron, Östrogen und Progesteron, deren Vorstufe DHEA, das Zirbeldrüsenhormon Melatonin sowie Schilddrüsen- und Thymusdrüsenhormone. Verabreicht werden die hormonellen Ersatzgaben in Form von Tabletten, Spritzen, Cremes, Vaginalzäpfchen oder als Implantate.

Seit einem Jahr nimmt Müllers Patient 250 Milligramm Testosteron alle 14 Tage, seine Hormonspiegel stiegen seither um 50 Prozent. Er fühlt sich "wieder wie ein Mann mit 35, fit und energiegeladen, die Depressionen sind verschwunden, und mit dem Sex klappt es auch wieder". Seinen Namen will der erfolgreich Behandelte nicht nennen, er spricht auch im Bekanntenkreis nicht über seine Therapie, "denn Hormonbehandlungen für den Mann sind hier zu Lande noch verpönt".

Das wird vermutlich nicht so bleiben. Im Februar fand in Genf der zweite Weltkongress über den alternden Mann statt. Anti-Aging-Bücher, die in den USA schon mehrere Buchregale füllen, kommen auch in Deutschland zunehmend auf den Markt, unter reißerischen Titeln wie "Zurück in die Jugend" (so die deutsche Übersetzung eines US-Bestsellers) oder "Forever young - das Alter besiegen".

Mediziner Müller setzt darauf, dass die Diskrepanz zwischen wachsender Lebenserwartung und schwindender Gesundheit die Menschen für Anti-Aging-Programme bereitmacht. Müller wagt keine Prognose, ob seine Therapie die Lebenszeit verlängert, "das werden wir erst in 30, 40 Jahren wissen". Doch er ist überzeugt: "Durch Anti-Aging leben die Menschen besser."

Seine Ausbildung als Alternsbekämpfer hat der Hamburger Müller bei dem Hormonspezialisten Johannes Huber absolviert, Leiter der Gynäkologischen Endokrinologie der Universitätsklinik Wien und zugleich Mitbetreiber einer Anti-Aging- Klinik in Laufen am bayerischen Abtsdorfer See. Eine Ambulanz als Ableger des Laufener Instituts wurde gerade in Berlin eröffnet, eine weitere in Wiesbaden soll folgen.

Das Behandlungsprinzip wurde teilweise von Vorbildern in Kalifornien übernommen (SPIEGEL 38/1999). Dem Wiener Hormonexperten Huber erscheint die Sache logisch: Fällt ein Stoff im Körper aus und verursacht dieses Defizit Beschwerden, füllt man den Stoff wieder auf, damit die Beschwerden verschwinden. "Ich sehe nichts Negatives darin, jemandem Hilfestellungen zu geben, damit er mit 70 nicht im Rollstuhl sitzt."

In der Huberschen Klinik werden die Patienten nicht nur hormonell eingestellt, sondern auch mit täglichen Vorlesungen geschult. Sie erfahren, dass sie 20 Minuten am Tag schwitzen und zweimal in der Woche aufs Abendessen verzichten sollen - sonst wird das mit dem Anti-Aging nichts.

3200 Mark kostet eine Woche in der Klinik. "Das ist mir die Sache wert", erklärt die Patientin und Marathonläuferin Carmen Gerber, 51, die regelmäßig anreist; sie fühlt sich heute fit und unternehmungslustig und freut sich, wenn man sie jünger schätzt, als sie ist.

Männer, meinen manche Experten, könnten sogar noch stärker profitieren, weil sie hormonell schlichter gestrickt seien als Frauen. Der Unterschied sei etwa so groß wie zwischen einer Swatch und einer Schweizer Präzisionsuhr. Deshalb seien Männer, so die Hamburger Gynäkologin Barbara Doll, meistens leicht und unkompliziert zu behandeln. Anti-Aging, meint sie, das sei "eine Art Ölwechsel für den Körper und, richtig angewandt, sehr sinnvoll".

Dass Hormongaben sich positiv auf Körper, Libido und Laune auswirken können, gilt mittlerweile als erwiesen. Wachstumshormone beispielsweise können hautstraffend wirken und das Verhältnis von Muskelmasse zu Fett verbessern. Andererseits ist die Hormonbehandlung nicht unumstritten, ihre Gefahren sind nicht zu leugnen. Werden etwa Wachstumshormone überdosiert, können sie Knochenwachstum, aber auch Blutkrebs auslösen.

Schlossklinik-Betreiber Huber interessiert sich für die gesellschaftlichen Auswirkungen erfolgreicher Lebensverlängerung. Schon in den nächsten paar Jahren, so seine Prophezeiung, werde sich die Lebenserwartung der Menschen um durchschnittlich acht Jahre verlängern; die Vision, dass Menschen in naher Zukunft 120 oder 160 Jahre alt werden, hält der Mediziner für durchaus realistisch.

Allerdings birgt eine fortschreitend überalterte Gesellschaft auch sozialen Sprengstoff. Wird das Rentensystem zusammenbrechen? Wer soll die Behandlungskosten und Sozialleistungen der immer länger Lebenden bezahlen? Eine höhere Lebenserwartung werden sich nur jene leisten können, die gut informiert sind und Geld haben. "Einen Klassenkampf der neuen Art" sieht Huber kommen, wenn sich nicht ein gewisser Altruismus anstelle des heute grassierenden Egoismus einstelle.

Weltweit arbeiten Wissenschaftler mit grimmiger Entschlossenheit daran, die menschliche Lebenszeit - bei guter Gesundheit - zu verlängern. Von Lifestyle-Drogen über "Functional Food" bis hin zu nachwachsenden Organen und Muskeldoping durch genetische Manipulation reichen die Hoffnungen und Verheißungen von Medizinern und Pharmaunternehmen - der künstlich optimierte Mensch wäre auch als Konsument im Gesundheitsbusiness nicht zu verachten (siehe Grafik).

Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571492

Rund 7000 100-Jährige leben derzeit in Deutschland, ihre Zahl wächst Jahr für Jahr um acht Prozent. Mittlerweile kann in den Industrieländern jeder, der jetzt geboren wird, damit rechnen, mindestens 80 Jahre alt zu werden. Die Zahl der über 100-Jährigen wird sich in den nächsten 50 Jahren in Deutschland fast verdreißigfachen, ein großer Club von freien Radikalen, die alle Möglichkeiten nutzen werden, ihr Erscheinungsbild und ihr Befinden zu optimieren.

Im Jahre 2025 wird die Mehrheit der Deutschen über 50 Jahre alt sein - eine Heerschar von fitten Senioren, die dem Jugendwahn vermutlich trotzen und sich nicht abschieben lassen werden. Die Alten werden wenig Lust verspüren, früh in Rente zu gehen, wenn ihre Lebenserwartung bei 120 liegt - und sie können es sich auch nicht leisten. Wenn der Generationenvertrag nicht mehr funktioniert, braucht das Land völlig neue Arbeitsmodelle.

Weltweit liegt die Zahl der über 100-Jährigen derzeit bei rund 135 000. Innerhalb von nur 50 Jahren, so eine Prognose der "World Future Society" in Bethesda (US-Staat Maryland), wird diese Zahl um das 16fache steigen - dann gibt es 2,2 Millionen 100-Jährige. Schätzungsweise 370 Millionen Menschen in der Welt werden dann über 80 Jahre alt sein.

Altwerden als Massenphänomen wird vor allem die Industriegesellschaften verändern. In einer jungen Gesellschaft, schreibt die Frankfurter Autorin Cora Stephan, gehe es schneller, beweglicher, lauter und sicherlich auch aggressiver zu als in einer Gemeinschaft, in der die Alten überwiegen: "Jenseits der 40 und mit der ersten Lesebrille ist die letzte Kippe meist geraucht und der Vertrag mit dem FitnessStudio unterschrieben."

Wird dann alles ruhiger und friedlicher? Ein erstes Beispiel spricht dafür: In Sun City, einer Stadt in Arizona mit überwiegend älteren Menschen - Zuzugswillige müssen mindestens 55 Jahre alt sein -, leben die Einwohner vergleichsweise harmonisch miteinander. Es gibt keine harten Drogen, keine laute Musik, konsequente Nachbarschaftshilfe ist Pflicht, die Zeit vergeht mit Golf- und Theaterspielen, Tanzfesten, Malen, Miss-Senior-Wahlen - und jeder Menge Beerdigungen.

Die Werbung wird sich reißen um die "Jungen Alten", die "Woopies" oder "Best Ager", wie sie in den USA genannt werden. Fernsehspots werden um sie buhlen, kaufkräftig, wie sie sind, möglicherweise sind sie schon bald begehrter als die jetzt favorisierte Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen.

Unternehmen und Firmen werden Maschinen, Computer, Autos speziell für ältere Herrschaften erfinden, es wird Sport- und Fitnessclubs für Senioren geben, was sicher in kürzester Zeit den Druck schaffen wird, gefälligst "erfolgreich zu altern". Senioren werden, Zugvögeln gleich, mobil und fröhlich durch die Gegend zuckeln, bevorzugt gen Süden. Seniorenreisen erreichten in den letzten Jahren bereits einen Marktanteil von 40 Prozent beim Gesamttourismusgeschäft.

Technische Neuerungen werden den Senioren das Leben erleichtern. Jetzt schon kommunizieren die Fortgeschrittenen per Bildschirm mit Familie, Freunden, sozialen Unterstützungs- oder medizinischen Betreuungsdiensten. Zukunftsforscher prognostizieren, dass sich virtuelle Besucher bald in vielen Seniorenwohnungen tummeln werden, "Globale Virtualität" mit Internet, interaktivem Fernsehen und "intelligenten" Haushaltsgeräten wird für die jung gebliebenen Greise zum Alltag werden.

Kommende Generationen der "Jungen Alten" werden gesünder, besser ausgebildet, selbstbewusster und leistungsfähiger sein als die Rentner von heute - Mediziner und Soziologen sind da gleichermaßen zuversichtlich. Wie allerdings Hirnzellen und Psyche eine Lebensspanne von 120 oder mehr Jahren verkraften werden, bleibt einstweilen ein großes Rätsel.

Der amerikanische Schriftsteller John Updike, 68, hat sich mit dem höchst beunruhigenden Prozess seines eigenen Älterwerdens beschäftigt. Er beschreibt das Gefühl, lauter Löcher im Kopf zu haben, wo früher Spannkraft und Substanz waren, "und ich frage mich, ob ich dann, wenn mein Kopf nur noch ein Loch ist, ein schmerzlicheres Verlustgefühl haben werde als jetzt".

Die Antwort auf diese Frage, sinniert der Schriftsteller, könne niemand wissen - und das findet er tröstlich. Updike: "Nichtwissen ist eine Art Segen, und mit der Senilität ist es wie mit dem Alkoholrausch: Sie belästigt die anderen mehr als den, der von ihr betroffen ist."


SCHLAUE SCHNECKEN

Wie erinnert sich der Mensch, und warum vergisst er allmählich, was er abgespeichert hat? Diese Rätselfragen lassen sich vermutlich biochemisch klären. Die Pille fürs Schnelldenken und für gutes Gedächtnis ist in Sicht.

Der Seehase ist eigentlich eine Schnecke und sieht aus wie eine gebackene Kartoffel mit zwei Ohren. Dass die fetten, purpurbraunen Weichtiere sich an irgendetwas erinnern könnten, kommt dem Betrachter beim Blick in die schneckengefüllten Wassertanks nicht in den Sinn.
Doch auf den Meeresschnecken der Gattung Aplysia ruht die Hoffnung, einen uralten Menschheitstraum zu verwirklichen - die Entwicklung eines Stoffes, der das Lernen erleichtert und dem Gedächtnis, wenn es nachlässt, wieder neuen Schwung verleiht.

"Die kleine rote Pille wird kommen, vielleicht in fünf, sicherlich in zehn Jahren", sagt Eric Kandel, 70. Der gebürtige Wiener, Professor für Biochemie, Molekulare Biophysik und Psychiatrie am Neurobiologischen Zentrum der New Yorker Columbia University und seit 1939 in den USA ansässig, hilft seinen Mitarbeitern im Labortrakt des sechsten Stockwerks im College of Physicians and Surgeons beim Auspacken einer frisch eingetroffenen Aplysia-Sendung. Absender ist eine Schneckenzuchtfarm in Florida.

Seit vier Jahrzehnten nutzt Kandel die Aplysia-Schnecken, die bis zu einem drei viertel Meter lang und knapp 16 Kilogramm schwer werden können, für die Erforschung des "verzwicktesten Problems der gesamten Biologie", wie er es nennt: Was ist Gedächtnis, wie funktioniert es, wie wird es gebildet, wo wird Erinnerung gespeichert, wie kann sie abgerufen werden, und was steckt dahinter, wenn das Sich-Erinnern nicht mehr richtig funktioniert?

Um das alles herauszufinden, haben sich in den letzten Jahrzehnten Allianzen verschiedener Wissenschaftszweige gebildet: Genforscher und Molekularbiologen arbeiten zusammen mit Biochemikern und Neurobiologen, die ihr Wissen um die biologischen Abläufe im Gehirn mitbrachten. Hinzu traten Vertreter der kognitiven Psychologie, die ihre Kenntnisse über die grundlegenden Lern- und Denkprozesse beisteuerten.

Die beiden wichtigsten Wissenschaftsgebiete stehen jeweils an den Außenseiten des biologischen Spektrums, die eine an der Schnittstelle zwischen der Biologie und der Chemie, die andere im Grenzbereich zwischen Biologie und Psychologie.

Als "eine der Kernfragen des 21. Jahrhunderts" bezeichnet Kandel die Herausforderungen an die Vertreter der beiden Fachgebiete: Gelänge ihnen eine umfassende Synthese, die das Bewusstsein auf eine molekularbiologische Ebene zurückführt, so wäre die uralte und oft verklärte Sonderstellung von Lernen und Erinnerung gegenstandslos.

Jede Abspeicherung von Wissen und Erfahrungen, jedes Erinnern an angenehme und leidvolle Vorkommnisse, jede Vorfreude und jede Trauer ließe sich dann auf biochemische Vorgänge reduzieren. Daraus ergäbe sich wohl zwingend, dass der Mensch auch in diese Abläufe einzugreifen wünschte, mit dem Skalpell, mit Tricks aus der genetischen Wunderküche oder mit Tabletten. Das Gehirn wäre auf seine Weise nichts anderes als die Leber - ein hoch komplexes biologisches System, beeinflussbar durch Medikamente.

Etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) finden sich in jedem Gehirn der Art Homo sapiens. Jede einzelne dieser Nervenzellen kann mehrere tausend Verbindungen (Synapsen) zwischen den Neuronen aufbauen. Sie bilden ein Labyrinth von neuronalen Netzen, das "wir wahrscheinlich auch in 100 Jahren noch nicht aufgeschlüsselt haben werden", sagt Kandel. "Doch wir haben im letzten Jahrzehnt enorme Fortschritte gemacht."

Eine Schlüsselrolle bei dieser Forschung spielte der glitschige Seehase, so benannt nach seinen flachen, hasenohrähnlichen Tentakeln. Das klumpige, sich genügsam von Seetang ernährende Weichtier, das in Gefahrensituationen sepiafarbene Tarntinte verströmen kann, ist für die Neurophysiologen ein ideales Versuchstier.

Zwar ist das zentrale Nervensystem der Schnecke mit nur 20 000 Nervenzellen auch für tierische Maßstäbe nachgerade dürftig ausgestattet - eine Biene verfügt über eine Million, der Löwe über zehn Milliarden Neuronen. Doch nur wenige Kreaturen haben so dick ausgebildete Nervenzellen wie Aplysia; mit bis zu einem Millimeter Durchmesser sind sie 1000-mal größer als eine menschliche Hirnzelle. Zudem sind die Zellen in Zehnergruppen gebündelt.

Die anatomische Ausstattung der Schnecken ermöglichte es den Forschern, gleichsam Verdrahtungspläne zu erstellen, in denen die Abläufe in den einzelnen Zellen bei unterschiedlichen Verhaltensweisen des Tieres festgehalten sind.

Wohl beschränkt sich das Verhaltensrepertoire der Aplysia hauptsächlich auf drei Essentials: Essen, Ausruhen, Kopulieren. "Doch diese wunderbaren gottverdammten Tiere können einfach alles lernen", sagt Kandel. "Natürlich", wie er einschränkt, "keine französischen Vokabeln", aber sonst "alles, was Pawlow und andere Verhaltenspsychologen in Tierexperimenten vorgemacht haben".

So wie der russische Mediziner Iwan Pawlow seine Hunde mit dem Läuten einer Klingel zum Sabbern bringen konnte, weil das Geräusch zuvor mit der Futtergabe zeitlich gekoppelt war, können auch Aplysia-Forscher ihren Versuchstieren reflexartige Verhaltensweisen antrainieren, die auf das Vorhandensein einer Gedächtnisleistung hinweisen.

Mittels schwacher Elektroschocks als Trainingshilfe lernten die hoch sensiblen Schnecken, ihre Kiemen mitsamt der Atemröhre ("Sipho") bei Berührung unterschiedlich stark zurückzuziehen und zwischen dem taktilen und dem elektrischen Reiz zu unterscheiden. Schließlich gelang es sogar, die Versuchsanordnung so zu gestalten, dass im Ergebnis die Schnecken eine Art Kurz- und ein Langzeitgedächtnis entwickelten.

Unter dem Mikroskop und mit Hilfe von elektrophysiologischen und molekularbiologischen Messgeräten haben Kandel und seine Kollegen sich mittlerweile auch Einsichten über die biochemischen Vorgänge verschaffen können, die bei diesen Reaktionen in einzelnen Nervenzellen ablaufen.

Der Staffellauf der Erregung, die in einem sensorischen Neuron, beispielsweise im Gehirn, beginnt und mit der Aktivierung einer motorischen Nervenzelle, etwa im Muskel, endet, erfolgt als Kaskade physikalischer, biologischer und chemischer Prozesse. Sie finden in der gesamten Zelle statt, im Zellkern wie im umgebenden Plasma, vor allem aber an den Synapsen, den feinen Schaltstellen an der Zelloberfläche, über welche die Nachrichtenübermittlung zwischen den Zellen erfolgt.

So werden Botenstoffe, so genannte Neurotransmitter wie Serotonin oder Glutamat, ausgeschüttet, die an ihren spezifischen Andockstellen Kanäle für den Durchfluss von Ionen öffnen. Angeschoben wird dadurch die Bildung von Eiweißmolekülen und Katalysatoren unter Beteiligung von Genen im Zellkern.

Ziel der hektischen Aktivitäten ist die kurzzeitige oder länger anhaltende Verstärkung einzelner Synapsen oder Synapsengruppen. Für die Dauer der Verstärkung können Signale die Schaltstellen zwischen den Zellen besser passieren, was nach Ansicht vieler Forscher direkte Auswirkungen auf das Erinnerungsvermögen hat.

Eine Schlüsselrolle spielt dabei offenbar ein besonders komplizierter Genschalter namens Creb. Er fungiert, so Kandel, "auf den biochemischen Großbaustellen im Organismus als eine Art Oberaufseher, der die Umbauarbeiten an den Synapsen kontrolliert". Creb erscheint in zwei unterschiedlichen Varianten, von denen die eine die Abläufe vorantreibt, die andere als Bremser tätig ist.

Die normalerweise zwischen den beiden auf andere Gene einwirkenden Proteine Creb1 und Creb2 herrschende Balance wird gestört, wenn durch wiederholte Reizung der sensorischen Zelle das Antreiber-Protein Creb1 über den Bremser Creb2 die Oberhand gewinnt. Dann, so die vermutete Folge, werden dutzende von anderen Genen aktiviert, die dafür sorgen, dass die gelernte Reiz-Erfahrung im Langzeitgedächtnis eingraviert wird.

In Tierversuchen mit Fruchtfliegen, Mäusen und Ratten haben mehrere Wissenschaftler die dominierende Rolle des Creb-Faktors bei der Gedächtnisbildung inzwischen nachgewiesen.

Die amerikanischen Fliegenforscher Tim Tully und Jerry Yin vom Cold Spring Harbor Laboratory auf Long Island (New York) verhalfen ihren Versuchstieren zum Beispiel durch eine gezielte genetische Manipulation zu einem Überangebot von Creb1. Folge: Statt zehn Übungseinheiten, die sonst zur Bildung eines einwöchigen Erinnerungsvermögens nötig waren, kamen die smarten Fliegen mit nur einer Trainingsrunde aus.

"Überheblich gesprochen", so Tully, sei die Entdeckung des Creb-Schalters mit all ihren Folgen für das Verständnis des Gedächtnisses, "so etwas wie das e=mc2 des Bewusstseins".

Kandel hingegen dämpft, angesichts der Tatsache, dass die Creb-Wirkung bislang nur im Tiermodell nachgewiesen wurde, allzu hochgesteckte Erwartungen: "Wir wissen überhaupt nicht, ob auch im menschlichen Gehirn ein Creb-System existiert."

Immerhin verdingte sich Kandel, der sich zu den "grundoptimistischen" Wissenschaftlern zählt, bei "Memory Pharmaceuticals" als Berater. Das Unternehmen ist eine Gründung des Nobelpreisträgers Walter Gilbert, der schon die Biotech-Firmen Biogen und Myriad Genetics mit ins Leben rief. Kandels Kollege Tully half zeitweise dem Schweizer Multi Hoffmann-LaRoche, die erfolgreichen Tierexperimente auf den Menschen zu übertragen.

Aber auch andere große Pharmafirmen arbeiten und erforschen Substanzen, die in der einen oder anderen Form auf das Gedächtnis einwirken. Rund 200 Wirkstoffe, in der Fachsprache "cognitive enhancers" genannt, sind bislang als Kandidaten bekannt.

Offiziell werden die meisten von ihnen im Hinblick auf das extreme Gedächtnis- und Bewusstseinsleiden, die Alzheimerkrankheit, entwickelt. Der Bedarf ist riesig, der künftige Markt entsprechend lukrativ. Allein in den USA sind derzeit rund vier Millionen Menschen von der verheerenden Krankheit betroffen, in Deutschland sind es mehr als 700 000 Patienten; bis 2020 dürften sich diese Zahlen etwa verdoppelt haben.

Kritiker sehen in dem Hinweis auf Alzheimer häufig jedoch nur ein Feigenblatt, hinter dem sich Biotech-Firmen und Pharmakonzerne verstecken, die in Wahrheit einen weit größeren Markt anvisieren - jene Millionen, die mit Organtransplantationen, Internet und Gen-Food aufwachsen und demnächst in die Jahre kommen, in denen sie durch die Wohnung irren und fragen werden: "Liebling, hast du meinen Autoschlüssel gesehen?" Da käme die kleine rote Pille gerade recht.

Dass ein solcher "kognitiver Beschleuniger" womöglich auch das Schulfrühstück ergänzen könnte oder noch fix vor der Klavierstunde eingeworfen würde, will Kandel "nicht ganz ausschließen". Es wäre, meint der Forscher, zwar "eine schlimme Sache und eine sehr schlimme Praxis" - aber wohl dennoch nicht zu vermeiden.

Die Komplexität moderner Gesellschaften, fürchtet Kandel, werde "künftig noch stärker als heute durch Technik und Materialismus beherrscht, die dutzendfach zum Nachteil von Menschen" verwendet werden könnten.


"IST ER NICHT HÜBSCH?"

Eine kalifornische Forscherin experimentiert mit den Genen von Fadenwürmern. Ergebnis: Manche ihrer mikroskopisch kleinen Lieblingstierchen leben doppelt so lange, wie es die Natur programmiert hat.

Das helle Morgenlicht wirft scharfe Linien in ihr Gesicht und modelliert die grauen Strähnen in ihrem Blondhaar: Cynthia Kenyon schneidet Rosen im Vorgarten. Sie zupft ein welkes Blatt vom Häkeljäckchen, ruft den Hund und geht ins Haus, Tee kochen.
"Manchmal, wenn ich in den Spiegel gucke", sagt sie, "denke ich, wir kommen viel zu langsam voran."

Kenyon ist erst 45, aber sie spürt, wie das Alter ihr langsam in Haut und Knochen kriecht. Genau das aber will sie verhindern. Nicht etwa im Fitnesscenter und mit teuren Lotionen - die Biologin ist die derzeit erfolgreichste Lebensverlängerungsforscherin der Welt, ein Star mit Ausbildung an Eliteuniversitäten wie der im britischen Cambridge.

Kenyon, heute Professorin an der University of California in San Francisco, hat das Jungbrunnen-Gen gefunden - in einem kleinen Wurm. Jetzt kann sie dessen Lebensspanne von normalerweise 13 Tagen auf fast vier Wochen verdoppeln. Inzwischen hat sie sogar Exemplare herangezogen, die bis zu viermal länger leben, als die Biologie es ihnen bisher erlaubte. Die Genetikerin glaubt, dass dies in nicht allzu ferner Zeit auch beim Menschen gelingen könnte.

Nichts könnte Kenyons Sieg über die Natur besser belegen als ihr selbst hergestelltes Lieblingsvideo. Der Film zeigt zwei Würmer im Alter von zwölf Tagen: ein normales Exemplar und die in den Jungbrunnen getauchte Variante.

"Der links gehört ins Altersheim", sagt die Forscherin und deutet auf die zerfaserte Kontur eines länglichen Körpers. Gerade fährt ein letzter Lebensfunke als Zucken durch die sonst mumienartige Starre. "Schlaffe Muskeln, faltige Haut, sterbende Zellen", sagt sie abfällig.

Der Mutant hingegen - Cynthia nennt ihn den "jungen Kerl" oder den "Superwurm" - schlängelt sich höchst vital über den Bakterienrasen, sein Lieblingsfutter. Er ist mit zwölf noch in seinen besten Tagen.

Kenyons Zeigefinger umfährt auf dem Bildschirm fast zärtlich die Umrisse des agilen Geschöpfs. "Sehen Sie nur, wie glatt seine Haut ist, wie kräftig die Muskeln spielen!", ruft sie. "Ist er nicht hübsch?" Die Forscherin himmelt das durchsichtige Würmchen an, als handele es sich um Leonardo DiCaprio und nicht um die Nematode "Caenorhabditis elegans": einen kaum staubkorngroßen Bewohner der oberen Bodenschichten, dessen Körper aus genau 959 Zellen besteht.

Aber für Kenyon ist der Wurm eben mehr als nur ein Forschungsobjekt; er ist ihr ein Gleichnis geworden, Chiffre für die großartigste Umwälzung in der Geschichte der Menschheit. Fernziel: die Abschaffung des Todes. "Wenn man die verlängerte Lebensdauer des Wurms auf den Menschen überträgt", sagt sie, "würden wir 180 oder sogar 360 Jahre alt werden - wäre das nicht großartig?"

Die Forscherin lehnt sich ein klein wenig nach vorn und guckt genau, damit ihr die Reaktion nicht entgeht, das Augen-Aufreißen, der Schock, wenn die Leute sich das vorstellen: 360 Jahre!

"Warum hat eine Maus nur 2 Jahre, eine Fledermaus aber bis zu 50, warum stirbt ein Opossum nach 3, ein Papagei aber nach 90 Jahren?", fragt Kenyon.

Die Tiere seien ungefähr gleich groß, damit habe es also offenkundig nichts zu tun. Und die Lebensuhr laufe auch nicht etwa, wie man lange geglaubt hat, mit der Anzahl der Herzschläge ab. Sie hebt die Schultern. "Ich sehe einfach keinen Sinn in diesen unterschiedlichen Lebensspannen."

Mehr noch als den Tod verachtet die Genetikerin den langsamen Zerfall, der ihm vorausgeht. "Altern ist der deprimie-rendste biologische Prozess überhaupt", sagt sie. Alles, was sich einmal kunstvoll zu einem staunenswert komplexen Organismus aufgebaut habe, gehe einfach kaputt, grässlich.

"Und jeder würde gern länger leben, oder?", fragt Kenyon. Erst recht, wenn man sich sicher sein könne, dabei so fit zu bleiben wie ihre Würmer! "Gucken Sie mich an", fordert Cynthia. "Und jetzt stellen Sie sich vor, ich wäre 90 Jahre alt - ich würde aussehen wie jetzt!" Sie kichert, grinst, redet ohne Pause und wirkt plötzlich, als sei sie erst Anfang 20.

"Natürlich, es ist nur eine Nematode", gibt Kenyon zu. "Aber für mich ist jeder Wurm wie eine kleine Person." Er besitze, erklärt sie, wie der Mensch eine Haut, besitze Muskelzellen, einen Verdauungstrakt und sogar so etwas wie ein Gehirn. "Und so gesehen sind wir auch nichts anderes als eine Ansammlung von Geweben."

Der Wurm als Mini-Mensch - die Forscherin hat auf dem Weg, einen Urtraum der Menschheit zu erfüllen, die übliche Scheu des Wissenschaftlers vor der Vereinfachung verloren. Es ist gerade die in ihren Augen offenkundige Schlichtheit des Alterungsprozesses, der die Biologin verfallen ist: "Nur ein einziges Gen muss man verändern, und schon wird der Wurm doppelt so alt. Das ist doch phantastisch!"

Was der Biologin den Mut verleiht, ihre Ergebnisse auf die ungleich komplexere Spezies Homo sapiens hochzurechnen, ist die Tatsache, dass genau jenes Gen, leicht abgewandelt, auch im Menschen existiert.

"Und warum sollten es bei uns nicht eine ähnliche Rolle spielen?", fragt Kenyon, so wie sie immer in rhetorische Fragen ausweicht, wenn sie nicht einfach behaupten will, es sei so.

Die wissenschaftliche Bezeichnung für eines der beiden Gene, mit denen sie experimentiert, ist daf-2. Sie nennt es das "Sensenmann-Gen". Es trägt den Bauplan für einen Rezeptor, der auf der Zelle sitzt. An ihm docken insulinähnliche Hormone an, und das wiederum setzt weitere Stoffwechselprozesse in Gang.

Schränkt Kenyon das Gen in seiner Funktion ein, indem sie seinen Bauplan verändert, wird dieser Rezeptor nicht richtig hergestellt. Weil dann das Hormon nicht anlegen kann, wird der Regelkreis des Alterns unterbrochen - so lebt der Wurm zwei Wochen länger.

Das zweite Gen, das Kenyon fand, heißt daf-16. Wie wichtig es ist, entdeckte sie, indem sie mit den Keimzellen und den Fortpflanzungsorganen der Nematode herumexperimentierte. Sie zerstörte mit einem Mikrolaser im heranwachsenden Wurm die Vorläufer der späteren Keimzellen. Aus einem so kastrierten Würmchen entwickelt sich ebenfalls ein Methusalem.

Die Ursache: Die Keimzellen senden offenbar im normalen Wurm ein Signal an ein "Jungbrunnen-Gen" aus und unterdrücken damit dessen Funktion. In den keimzellenlosen Nematoden unterbleibt dieses Signal, und das Gen kann ungestört seine lebensverlängernde Wirkung entfalten.

Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571492

Ein Gen verdoppelt die Lebenszeit des Wurms in der Petrischale, zwei Gene vervierfachen sie - in Kenyons vollgestopftem Uni-Labor erscheint die ewige Jugend wie eine einfache Addition.

Was genau in den Zellen von "Caenorhabditis" geschieht, ist nicht ganz klar; klar ist nur, dass der Alternsprozess von Hormonen gesteuert wird. "Also kann man theoretisch eine Medizin dagegen finden", sagt Cynthia Kenyon. "Auch für den Menschen."

So, wie die Anti-Baby-Pille würde es eine Anti-Todes-Pille geben - entwickelt von Kenyon, versteht sich: Die Genforscherin ist gerade dabei, eine kleine Pharmafirma zu gründen. "Die Gesellschaft muss entscheiden, wie so was dann eingesetzt wird."

Ein paar Leute, die länger als gewöhnlich auf dem Planeten Erde herumlaufen, meint sie, veränderten schließlich nicht viel an dem Problem der Überbevölkerung. Und schließlich könne man deren Fruchtbarkeit im Zweifel ja auch hormonell kontrollieren.

Ein anderes Problem beschäftigt die Biotech-Frau mehr: "Ich kann so nur den Tod hinauszögern. Aber nicht das Altern abschaffen." Ihre Mutantenwürmchen treten auch irgendwann ins Greisentum über. Und diese Phase dauert, so wie die Jugend auch, bei ihnen doppelt so lange. Aus jeder Stunde werden zwei - das künstliche Leben ist gleichmäßig gedehnt, so wie ein Gummiband.


Aber wer von den Leuten, die gern 360 Jahre leben möchten, will davon 80 mit Demenz, mit Geschwüren und in Zerbrechlichkeit dahinsiechen? Wer leidet, dem müsste eine schleichend langsam tickende Lebensuhr zum Horror ohne Ende werden. "Solche Probleme", sagt Kenyon und zögert, "tja, die kann man heute noch gar nicht abschätzen."

Selbst einem Gesunden mag die Dauerjugend irgendwann nicht mehr als Paradies erscheinen; das glauben jedenfalls die Dichter.

Virginia Woolfs Orlando etwa machten ein paar hundert Lebensjahre auch nicht zu einem wesentlich glücklicheren Menschen. Und Fosca, Held in Simone de Beauvoirs Roman "Alle Menschen sind sterblich", lag immer nur da und starrte in den Himmel, tagelang - endlose Öde der Ewigkeit. Selbst makellose Schönheit bis ins hohe Alter stürzt einen irgendwann in Qualen, musste Oscar Wildes eitler Dorian Gray erkennen.

Aber schließlich haben nicht Poesie oder Philosophie Kenyon zur Suche nach dem Jungbrunnen inspiriert.

"Ich liebe es einfach, Rätselfragen zu knacken", sagt sie: "Sachen rauskriegen!" Schon als kleines Mädchen hat sie lieber die Knobelaufgaben in der Sonntagszeitung gelöst, als Charlie-Brown-Comics zu lesen.

Die Lust auf Logeleien hat sie einfach mit ins Erwachsenendasein genommen wie ihre immergleiche Mädchenfrisur, den rosa Teddy und das niedliche Fohlenbild in ihrem Schlafzimmer. Vielleicht altert an Cynthia Kenyon auch nichts als nur die Ansammlung von Geweben, wie beim Wurm.


DRITTE ZÄHNE - BALD VON GESTERN?

Gewachsenen Ersatz an die Stelle von verschlissenen oder beschädigten Körperorganen zu setzen ist einer der Zukunftsträume der Biowissenschaftler. Bald, so ihre Verheißung, könnten auch die lästigen dritten Zähne der Vergangenheit angehören. Forscher der Universität Kiel haben Eiweiße, so genannte osteogenetische Proteine, ausfindig gemacht. Sie animieren Zellen dazu, Zahnbein (Dentin) zu produzieren, die Kernsubstanz jeden Zahns. Bei Schweinen konnte das Kieler Team mit Hilfe dieser gentechnisch hergestellten Wachstumsfaktoren bereits zwei Millimeter große Löcher wieder zuwachsen lassen. Noch dieses Jahr sollen Versuche am Menschen beginnen.
Wissenschaftler am Londoner Guy's Hospital haben unterdessen etliche Gene isoliert, die an der Zahnbildung beteiligt sind. So ließ sich zum Beispiel an Mäuse-Embryonen, denen anstelle eines Schneidezahns ein Backenzahn wuchs, die Zuordnung bestimmter Gene zu bestimmten Zahntypen belegen. Die Erbanlagen fürs Gebiss sind allerdings insgesamt noch zu wenig geklärt, als dass sich auf diesem Wege bereits neue Zähne züchten ließen.

22.04.2000
Happy End:

Medizin von Morgen IV

 
10.02.02 01:04
Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571493

Zwischen Tai Chi und Hightech - die Globalisierung der Heilkunst

HEIL AUS DEM OSTEN

Trotz großer Erfolge der modernen Medizin strömen Einwohner der Industrieländer zuhauf in die Praxen von Anhängern traditioneller Heilkünste aus aller Welt. Können "sanfte" Methoden aus dem Osten die westliche Medizin wirkungsvoll ergänzen?

Es mutet an wie die sprichwörtlich verkehrte Welt: In den reichen Industrienationen der westlichen Welt, den Hochburgen der Apparatemedizin, drängen die Menschen in die Praxen von Akupunkteuren, trinken, dem Rat indischer Gurus und deren deutschen Adepten folgend, den eigenen oder auch fremden Urin oder vertrauen auf die Heilkraft von Kristallen und von exotischen Kräutermischungen.
Derweil träumen Milliarden von Erdbewohnern in den Ländern der Dritten Welt von den für sie meist unerreichbaren und erst recht unbezahlbaren Segnungen der westlichen Medizin.

Seit den Zeiten der Gründerväter moderner Medizin, in den knapp eineinhalb Jahrhunderten seit Louis Pasteur, Robert Koch, Rudolf Virchow und Ignaz Semmelweiß, hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung in Ländern wie Deutschland oder den USA nahezu verdreifacht. Eine Zunahme, die fast ausschließlich den Erfolgen der wissenschaftlichen Medizin und der damit verbundenen verbesserten Hygiene zuzuschreiben ist.

In den Industrieländern sind Cholera, Pest, Polio und Pocken praktisch ausgerottet. Die Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Grippe und sogar Aids ist weithin beherrschbar geworden; Herz-, Leber-, oder Nierentransplantationen sind Routine.

Dennoch vertrauen nicht nur in Umfragen fast zwei Drittel der erwachsenen Bundesbürger ebenso wie die Mehrheit der Amerikaner einer "sanften", "alternativen" Medizin - wobei unter dem schimmernden Begriff so ziemlich alles subsumiert wird, von esoterischen Heilweisen, indischen, chinesischen, tibetischen und keltischen Ursprungs, bis hin zu Homöopathie, Chiropraktik, anthroposophischer und Phytotherapie.

Besonders starken Anklang unter den Multikulti-Heilweisen findet die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM). Geradezu von einer "Globalisierung der chinesischen Medizin" spricht der Medizin-Anthropologe Volker Scheid in einer Studie für das Fachblatt "Lancet" im Dezember letzten Jahres.

TCM wird demnach derzeit von rund 300 000 Ärzten und Heilern in über 140 Ländern praktiziert. Deutsche Krankenkassen erstatten teilweise die Kosten einer Akupunkturbehandlung. TCM-Kurse gibt es an einigen britischen Universitäten, und Tong Ren Tang, Pekings älteste, im 17. Jahrhundert gegründete Apotheke, eröffnete 1995 eine Niederlassung im Herzen Londons.

In Bad Pyrmont entsteht Europas "größtes Fachzentrum" für TCM mit einer "Privat-Uni für alternative chinesische Heilmethoden", wie die künftigen Betreiber verkünden. TCM-Fachärzte gibt es an vielen Krankenhäusern und Universitätskliniken Deutschlands wie etwa an der Klinik Bergmannsheil in Bochum. Und mehr als 20 000 niedergelassene westdeutsche Ärzte nutzen ihr oft nur in flüchtigen Wochenendkursen erworbenes Wissen, um Patienten Akupunkturnadeln zu setzen.

Geradezu boomartige Steigerungsraten hat die alternative Medizin von Reiki-Meistern und Ayurveda-Anhängern bis zu TCM-praktizierenden Doktores in den USA zu verzeichnen. "Besonders die Reichen und Berühmten" unter den Einwohnern New Yorks strömten in die Praxen von Schamanen, Geistheilern, chinesischen Meistern und Alternativ-Ärzten, "so schnell ihre Autos sie nur dorthin tragen konnten", wie das Stadtmagazin "New York" bemerkte.

Im Zuge dieser Entwicklung - vom angesehenen "New England Journal of Medicine" als "Rückkehr zu irrationalen Ansätzen" in der medizinischen Praxis gegeißelt - haben sich auch zahlreiche Medical Schools, Ausbildungsstätten für Ärzte in den USA, der TCM geöffnet. Im pragmatischen Umgang amerikanischer Konsumenten und Mediziner mit paramedizinischen Methoden sieht der amerikanische Autor David B. Morris ("Die Geschichte des Schmerzes") schon das Heraufdämmern einer "postmodernen Gesundheitsvorsorge".

Der amerikanische Herzchirurg Mehmet Oz beschrieb im Magazin "Newsweek" jüngst, wie solch "globalisierte" postmoderne Medizin aussehen könnte: "Ich hoffe, dass ich in 20 Jahren, wenn ich 60 bin, meine Gesundheitskarte in eine elektronische Analysebox stecken kann. Nach einer kurzen automatisierten Untersuchung meines Körpers und meines Elektrolythaushalts würden mir, gemäß den unterschiedlichen medizinischen Traditionen, die verschiedenen Diagnosen gestellt."

Sodann liefert der Automat, in jeder gewünschten Sprache, einen Ausdruck, auf dem, so Mediziner Oz, "zur Reduzierung meines Blutcholesterins ein neues Pharmakon sowie ein Heilkraut gegen eine vergrößerte Prostata und neben einer fettarmen Diät schließlich noch ein Trainingsprogramm mit Tai-Chi-Übungen empfohlen werden".

Noch sind solche west-östlichen Synergieeffekte Hoffnung, aber nicht Realität. Bislang gelten nur wenige ethnomedizinische Heilmethoden im Sinne westlicher Wissenschaft als "gesichert". Die Wirksamkeit der Akupunktur bei der Bekämpfung von chronischen Schmerzzuständen, Migräne oder Übelkeit als Folge von Chemotherapien ist mittlerweile erwiesen.

Als Bereicherung, nicht Ersatz der westlichen Biomedizin gilt dementsprechend auch den meisten TCM-praktizierenden Ärzten die 3000 Jahre alte Nadelkunst.

Ähnlich wird TCM in ihrem Ursprungsland gesehen, wo sie im Jahre 1929 durch die damalige republikanische Regierung schon zur Illegalität verdammt worden war; erst die Kommunisten in den fünfziger Jahren stellten sie der modernen Wissenschaft gleich.

Wissenschaftliche Biomedizin westlicher Prägung bestimmt über 60 Prozent des chinesischen Gesundheitsdienstes. Aber es gibt auch 3000 reine TCM-Krankenhäuser, und nahezu 95 Prozent der westlich ausgerichteten Kliniken in China verfügen über eigene TCM-Stationen und Ambulanzen.

"Die meisten Chinesen", so China-Kenner Scheid, seien "von den überlegenen diagnostischen Fähigkeiten der westlichen Biomedizin überzeugt". Viele bevorzugten dennoch TCM-Therapien bei chronischen Leiden, weil sie oft befürchteten, "die Nebenwirkungen einer biomedizinischen Behandlung könnten deren Heilwirkung übertreffen".

Mit moderner westlicher Medizin haben einige chinesische Ärzte aber offenbar auch westliche Geschäftstüchtigkeit importiert. So pflanzen Ärzte im Krankenhaus Sun-Yat-Sen im südlichen Guangzhou zahlungskräftigen ausländischen Patienten die Organe hingerichteter Häftlinge ein, wie die "Hongkong Sunday" im Februar dieses Jahres berichtete.

Da die Häftlinge meist jung seien, eigneten sich ihre Organe "ausgezeichnet", sagen die Ärzte. Derzeitiger Tagespreis für die Leber eines Exekutierten: umgerechnet 50 000 Mark.


FLUG AUF DEM TIGER

"Weder Hokuspokus noch Allheilmittel" ist die Traditionelle Chinesische Medizin in den Augen einheimischer Ärzte. SPIEGEL-Autor ERICH FOLLATH berichtet über eine Klinik in Peking, in der östliche und westliche Heilkunst erfolgreich kombiniert werden.

Professor Tang Youzhi hat sein Ärzteleben lang illustre Patienten behandelt, aber zwei ragen doch noch hervor aus der Liste der Berühmtheiten: Mao Tse-tung, Chinas Großer Vorsitzender, und Abdurrahman Wahid, Indonesiens derzeitiger Präsident. Beider Augenlicht hatte die westliche Schulmedizin fast schon aufgegeben, beiden konnte Pekings berühmtester Ophtalmologe helfen - mit Mitteln der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM).
Maos Grauen Star operierte Tang 1975 nach einer von ihm entwickelten TCM-Methode und behandelte ihn anschließend mit Akupunktur; der Vorsitzende, der weniger erfolgreiche Ärzte in seiner Entourage schon mal zornbebend ins Umerziehungslager verbannte, zeigte ihm nach dem geglückten Eingriff das Victory-Zeichen und widmete ihm mit elegantem Pinselstrich ein Gedicht.

Wahids Fast-Blindheit linderte Tang nach eigenen Angaben Ende 1999 mit einer Mischung aus Kräutern und Nadelstichen. "Phantastisch, ich kann jetzt bis zum Abstand von einem Meter alles sehen", rief Indonesiens Präsident begeistert aus und will seinen Peking-Doktor nun alle paar Monate nach Jakarta einfliegen.

Geschichten wie diese sind es, die im Westen den Eindruck entstehen lassen, die chinesischen Ärzte könnten mit ihrer jahrtausendealten Naturheilkunde wahre Wunder wirken. Gläubige und Skeptiker, Laien und Fachleute aus dem Abendland pilgern ins Reich der Mitte, um zu lernen - oder um sich ihre fest gefügten Abneigungen bestätigen zu lassen.

Da muss es doch noch etwas geben jenseits unserer westlichen Gerätemedizin, die immer aufwendiger und objektiv besser wird, die aber mit jedem neuen Computertest auch vielen ein Stück kälter und "unmenschlicher" vorkommt. Da müssen doch "Alternativen" existieren, "sanfte" Medizin. Sagen die einen. Deren Guru ist der Münchner Internist und Akupunkturfreak Doktor Carl-Hermann Hempen. Er meint selbstsicher: "Durch Chinas Traditionsmedizin ist prinzipiell jede Krankheit therapierbar."

Von wegen, sagen die anderen. "Nicht einmal jede hundertste Studie zur Wirksamkeit der Akupunktur erfüllt alle wissenschaftlichen Standards", urteilt der Münchner Medizinhistoriker Paul Unschuld. Muss man also an die Traditionelle Chinesische Medizin einfach nur glauben? Gehört dazu ein philosophisches Gedankengebäude, das sich dem Menschen aus dem Westen sowieso nicht erschließt - und somit Heilerfolge bei ihm unwahrscheinlich macht?

Im Pekinger Krankenhaus Guang An Men zieht Professor Tang, 74, seine dicken Brillengläser von der Nase und putzt sie umständlich. Unter dem Häkeldeckchen auf dem kleinen Resopaltisch steht ein Spucknapf. Tang räuspert sich, ein trockener Husten. Er lässt das Fenster schließen, denn von draußen kommt keine gute Luft herein, sondern nur Smog. Die Hauptstadt der Volksrepublik gehört zu den zehn am stärksten umweltverschmutzten Orten der Welt.

Dann sagt er: "Auch wir in China wissen nicht viel darüber, warum etwas funktioniert, und wir können die positive Wirkung auch nicht immer garantieren. In einigen Bereichen sind wir skeptischer als unsere Bewunderer im Westen. TCM ist für uns weder Hokuspokus noch ein Allheilmittel - deshalb versuchen wir in unserem Hospital die Stärken westlicher und östlicher Medizin zu kombinieren."

Das Guang An Men, dessen Ehrenvorsitzender Tang ist, gilt als eines der besten Krankenhäuser in Peking. 47 Professoren, 111 Ärzte und mehr als 600 Pflegekräfte und technisches Personal kümmern sich um die 505 stationären Patienten; jeden Tag werden über 2000 ambulant behandelt. Aber das Besondere besteht in seiner Doppelfunktion: Guang An Men ist Teil der staatlichen TCM-Akademie, das Hospital forscht in Sachen Heilkräuter und Akupunktur und bildet in- und ausländische TCM-Fachkräfte aus. Es ist mit seinen weit gereisten Spitzenkräften Treffpunkt der medizinischen Avantgarde und ein ideales Umfeld für Experimente.

Von außen sieht das Krankenhaus im rückständigen Südwesten Pekings so grau aus wie die umliegenden Fabrikblocks. Im Hof stellt ein Schaukasten mit vergilbten Bildern "Errungenschaften des Sozialismus" vor; weder Patienten noch Personal nehmen die Propaganda zur Kenntnis.


Über einem Nebengebäude des Hospitals verstauben rote Laternen, eine davon hat sich aus ihrer Verankerung gelöst und hängt jetzt, abgeknickt wie ein verlorener Luftballon, an einem Draht.

In dem nur ausgesuchten Funktionärspatienten vorbehaltenen Flügel verkünden gelbe Schriftzeichen gestrige Polit-Parolen: "Rühmt die Tugend der vaterländischen Medizin und dient dem sozialistischen Ideal!" In der Krankenhauskantine und am gerade verputzten Neubau klingt die Schrift an der Wand schon eher nach dem Alltag der Pekinger im Jahr 2000 - Manchesterkapitalistisch: "Tu alles für deinen Job, sonst hast du morgen keinen mehr."

An einer blütenweiß geputzten Statue des TCM-Pioniers und Pharmakologen Li Shizhen (1518 bis 1598), umrahmt von Grünpflanzen und einem Poster mit Südseepalmen, erläutert der Krebsprofessor des Guang-An-Men-Krankenhauses die Vorteile der Traditionellen Chinesischen Medizin - und ihre Grenzen.

Zhang Peitong, 37, spricht von den Steinnadeln und den zugespitzten Tierknochen, die wohl schon vor mehr als 6000 Jahren zum Einstich an bestimmten Körperstellen genutzt wurden. Er erzählt von dem "Kanon der inneren Medizin des Gelben Kaisers", dem Klassiker aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, der schon 160 Akupunkturpunkte kannte, verbunden mit der bis heute angewendeten Wärmetherapie, der Moxibustion.

Zhang berichtet von dem allseits verehrten Heilkräuter-Li, dem die Krankenhausgründer 1955 die Statue widmeten. Der schrieb das bis heute gültige Grundsatzwerk über die Wirkungsmöglichkeiten der über 2000 TCM-Substanzen und entwickelte das System der Hauptleitbahnen, die sich durch den Körper ziehen.

"Der wichtigste Unterschied zwischen westlicher und chinesischer Medizin war zu allen Zeiten das unterschiedliche Menschenbild", sagt Professor Zhang.

Der Arzt im Westen geht in der Regel bei der Diagnose seines Patienten strikt naturwissenschaftlich vor. Messwerte stehen für seinen Befund im Mittelpunkt, sein Ziel ist die kausale Analyse. Mit "harten" Fakten - EKG, Röntgen, Blutbild - lassen sich organische Veränderungen erkennen und behandeln. Bei Patienten, die keine pathologischen Blutbefunde oder auffälligen Röntgenbilder aufweisen, aber trotzdem über Schmerzen, Reizbarkeit und Infektanfälligkeit klagen, stößt dieser Weg an Grenzen. Wie will man sie heilen, wenn sich nicht nachweisen lässt, dass sie erkrankt sind?

Die Traditionelle Chinesische Medizin hat einen anderen, eher philosophischen Ansatz: Der Mensch ist das Abbild natürlicher Harmonie zwischen Himmel und Erde, die beiden Urkräfte Yin (weiblich, dunkel, kalt) und Yang (männlich, hell, warm) sind im Gleichgewicht - so lange er gesund ist. Bei einer Erkrankung ist die notwendige Balance zwischen den beiden lebenserhaltenden Kräften durcheinander geraten. Die Lebensenergie Qi kann nicht mehr ungestört durch die Körperbahnen fließen. Entlang dieses Netzwerks von 14 Meridianen, die den einzelnen Organen wie Herz, Leber, Galle oder Magen und ihren Funktionskreisen zugeteilt sind, liegen 361 genau festgelegte Punkte.

Durch Einführung von Nadeln an diesen Punkten, so die Lehre, lassen sich Störungen beseitigen und das Gleichgewicht wiederherstellen. Allerdings muss der chinesische Arzt wissen, wo er ansetzen muss, um das gestaute Qi wieder in Fluss zu bringen. Er versucht zu begreifen, wie es zu der energetischen Entgleisung im Körper gekommen ist, er lernt die krankheitsauslösenden Faktoren seines Patienten kennen - sein soziales und emotionales Umfeld, seine Ernährungsgewohnheiten.

Die Diagnose erfolgt häufig durch genaue Inspektion der Zunge und über das Ertasten von so genannten Pulsbildern; 31 verschiedene werden in der TCM detailliert registriert. Westliche Messwerte werden nur im Bedarfsfall herangezogen - sie sind nicht primär entscheidend.

"Das Feuer, das den Gebirgswald abbrennt", "Der fliegende Tiger", "Das Tor zur Schatzkammer" heißen einige der über Jahrhunderte erprobten Behandlungsmethoden an den Reizpunkten: Es ist dieses Mystisch-Geheimnisvolle, das die auf nüchterne Fakten geeichten Menschen aus dem Westen an der Traditionsmedizin so anzieht oder abstößt. Wo liegen die Möglichkeiten, fernöstliche Diagnose und Behandlung mit westlicher zu verbinden - beispielsweise für einen Krebsarzt, der eine bösartige Geschwulst behandeln muss?

Zhang seufzt. "Bei einem Tumor operieren wir, anschließend ist meist die Chemotherapie erste Wahl. Und die Zukunft der Krebsbehandlung sehen wir genau wie die Kollegen im Westen in der Genmanipulation der Zellen." Traditionelle Kräutertherapien und Akupunktur können aber nach den Erfahrungen im Guang An Men die Nebenwirkungen der Chemotherapie erheblich lindern.

Der Onkologe führt durch seine Abteilung mit 40 Betten, meist besetzt mit Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium. Fast alle Kranken haben Besuch, der hier durchgehend erlaubt ist. Familienmitglieder bringen Essen mit, Teetöpfe klappern, die Atmosphäre ist entspannt, fast heiter.

Bei den von der Schulmedizin aufgegebenen Fällen erzielen TCM-Methoden beachtliche, wenngleich statistisch gesehen nicht bahnbrechende Erfolge. Etwa zehn Prozent der Tumoren bilden sich zurück, berichtet der Professor. Und öfter ließe sich die Ausbreitung der tödlichen Zellen durch experimentelle Kräuterkuren wenigstens verlangsamen. "Wenn Ärzte anderer Krankenhäuser einem Krebspatienten bei der Einlieferung drei Monate geben, lebt er hier bei uns durchschnittlich noch ein bis zwei Jahre", sagt Zhang.

Ein Stockwerk höher werden weit mehr Patienten "gespickt", manche liegen mit einem Dutzend Nadeln, die aus Ohren und Wangen herausragen. Zur Verstärkung der Wirkung trägt Professor Liu Zhishun, 47, eine Ginseng-Schicht auf die Haut auf oder brennt in der Nähe des Akupunkturpunkts eine "Moxa-Zigarre" ab; Glut und Rauch des aus Beifußkraut gedrehten Kegels sollen die Stichwirkung verstärken. Die im TCM-Krankenhaus verwendeten Akupunkturnadeln gibt es in neun verschiedenen Längen von 15 bis 150 Millimetern.

Professor Liu hat, wie fast alle Ärzte an der Guang-An-Men-Klinik, westliche wie östliche Medizin studiert. Er tauscht seine Erfahrungen mit amerikanischen und europäischen Kollegen aus, hat ein Jahr lang in Australien gelehrt. Besonders erfolgreich ist die TCM seiner Meinung nach bei Folgen von Schlaganfällen wie Halbseiten- und Gesichtsparalyse. Auch die Parkinsonkrankheit behandelt der Arzt aus Peking erfolgreich, "mit einer Kombination aus westlichen Pharmaka und Akupunktur".

Liu sagt: "Wir haben längst keine Berührungsängste mehr mit den ausländischen Kollegen und haben einige hanebüchene Behauptungen über TCM längst zurückgedreht. Wir Ärzte in China können so viel, wir müssen nicht diesen Blödsinn aufrechterhalten, mit Akupunktur ließe sich schmerzlos Anästhesie betreiben."

Der Doktor schüttelt sich. "Erinnern Sie sich an diese Bilder beim Nixon-Besuch 1972, als ein Patient während der Akupunkturnarkose glücklich Mao-Sprüche aufsagte und Orangensaft trank? Möchte nicht wissen, wie's dem während der Operation wirklich ging, und vor allem danach."

An einer halbmeterhohen Puppe mit aufgezeichneten Punkten erläutert der Professor die Akupunkturstellen, die er gerade gestochen hat.

Das Modell ist jener Demonstrationsfigur nachempfunden, die der große Gelehrte Wang Weiyi im Jahr 1027 in Kupfer gießen ließ. Schon auf dieser klassischen Figur waren die Akupunkturpunkte als Löcher markiert. Das sollte der Nachwelt als Vermächtnis dienen, aber auch ganz pragmatisch Schulungsprobleme lösen. Das Modell wurde mit Wachs beschichtet und mit Wasser oder Quecksilber gefüllt. Wenn der Medizin-Prüfling den korrekten Akupunkturpunkt getroffen hatte, spritzte es zum Beweis der Richtigkeit aus den durchstochenen Öffnungen. Bestanden.

"Generell gilt: TCM eignet sich eher bei leichteren Erkrankungen, meint Professor Zou Jinpan, 36. "Wir behandeln etwa 80 Prozent unserer stationären Fälle überwiegend mit westlicher Medizin. Fast 90 Prozent seiner Tagespatienten könne er aber mit Kräutern und Akupunktur helfen. "Besonders gut ist TCM bei der Behandlung in meinem Fachbereich", sagt stolz der Fachmann für Innere Medizin am Guang An Men. Doktor Zou verzeichnet beim Kampf gegen Bronchitis und vor allem gegen chronisches Asthma erstaunliche Erfolge. Er erreichte durch Akupunkturbehandlung bei über 70 Prozent seiner Patienten deutliche Verbesserungen, 20 Prozent der Asthmatiker wurden angeblich ganz geheilt.

Gegen leichtere Gebrechen wie das gemeine Rückenleiden setzt der Internist aufs traditionelle Schröpfen. Die glockenförmigen Glaskuppeln werden feuerheiß erhitzt und die Wirbelsäule entlang mittels Vakuum auf den Rücken geklebt, wo der Doktor sie hin- und herschraubt und tief in die Haut hineindrückt.

"Ein Stück Volksgesundheit. Hilft für eine Woche, dann wiederholen", strahlt er, und sein Gesicht wird dabei fast so rund und glänzend wie das Schröpfglas in seiner Hand. "Sollte jeder machen, der einen Schreibtischjob hat oder so gestresst ist wie wir Ärzte - mich schröpft meine Frau."

Westliche Wissenschaftler suchen immer wieder nach schlüssigen Beweisen für die Wirksamkeit der TCM, nach einem neurophysiologischen Konzept, in das sich die alte östliche Lehre eingliedern ließe. Der deutsche Mediziner Hartmut Heine machte schon 1988 darauf aufmerksam, dass etwa 80 Prozent aller klassischen Akupunkturpunkte ein anatomisches Korrelat besitzen. Diese Befunde sind jedoch von anderen Wissenschaftlern nie bestätigt worden. Professoren von der Universität Graz wiesen mittels elektronischer Sensoren einen Zusammenhang zwischen Akupunktur und der Blutflussgeschwindigkeit im Gehirn nach, doch tritt dieser Effekt auch bei Suggestivtherapien auf, etwa bei der Hypnose oder der Gabe von Placebos.

Der Anästhesist Konrad Streitberger von der Universität Heidelberg versuchte es empirisch. Er erfand 1998 eine "Placebo-Nadel", die nach einem oberflächlichen Kontakt mit der Haut in ihre Halterung zurückspringt; der Patient fühlt einen Stich, aber eine wirkliche Akupunktur findet nicht statt. Diese Placebo-Technik testete der Mediziner an einer Gruppe von 25 Kranken, die an schweren Schulterschmerzen litten. Ihr Zustand veränderte sich kaum. Wohl aber verbesserte sich das Befinden der zweiten Testgruppe mit demselben Leiden erheblich, die tatsächlich akupunktiert worden waren.

Die Suche nach Beweisen für die TCM amüsiert die chinesischen Ärzte im Guang-An-Men-Hospital. Sie halten schon die Frage für ein west-östliches Missverständnis. "Wir kennen die Effekte der Nadeln seit einigen tausend Jahren und haben unsere eigenen Erklärungen dafür", sagt der Ehrenpräsident und Mao-Doktor Tang.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO bestätigt die TCM-Mediziner: Sie empfiehlt ganz offiziell bei eine Reihe von Krankheiten eine Akupunkturtherapie. Etwa bei Störungen der Atemwege wie akuter Sinusitis oder Bronchitis. Bei Augen- und Rachenerkrankungen, bei Magen- und Darmproblemen wie Gastritis oder Diarrhö. Bei neurologischen Erkrankungen wie Migräne und der seltenen Menière-Krankheit (die mit Drehschwindel einhergeht), aber auch beim Tennisellenbogen.

Einigen Ärzten im TCM-Hospital ist diese Liste zu konservativ. Sie experimentieren mit der Traditionsmedizin - und glauben ihre Therapien ausweiten zu können, etwa auf die Behandlung psychischer Krankheiten wie Depressionen und auf sexuelle Störungen.

Professor Wang Weidong, 43, ist ein eher unscheinbares, dünnes Männchen. Doch im Behandlungszimmer verändert sich der Schüchterne, seine Bewegungen wirken plötzlich, als sei eine Kraft aus einer anderen Welt in ihn gefahren.

Der Arzt lässt seine Hände über das Gesicht einer jungen Patientin gleiten. Immer wieder, knapp über Augenhöhe, wie die Schwingen eines Adlers. Die 25-Jährige auf der Couch leidet seit dem Tod ihres Vaters unter schweren Depressionen und wurde bis jetzt nur mit Psychopharmaka behandelt. Doktor Wang glaubt, sie durch eine Qigong-Hypnose heilen zu können, eine jahrtausendealte Therapie, welche die Kraft des Arztes auf die Kranke überträgt. Tatsächlich versinkt sie nach kurzer Zeit in einen Hypnoseschlaf, und der Arzt flüstert ihr ins Unterbewusstsein. Es sei unklar, wie viele solcher Sitzungen sie brauche, sagt Wang, anschließend so erschöpft wie seine Patientin.

Unten an der Krankenhaus-Apotheke hat sich wie jeden Tag eine lange Warteschlange gebildet. Die ambulanten Patienten holen sich die Kräutermischungen ab, die ein halbes Dutzend robuster Damen hinter der Theke für sie aus über 300 Pflanzenextrakten zurechtrühren. Nichts Erotisches wie die berühmten Potenzmittel aus Hirschpenis, sondern meist Substanzen mit Grundbestandteilen wie der Isatis-Indigotica-Wurzel, die gegen Erkältungen hilft - und getrocknete Skorpione zum Entgiften des Körpers. In einem Nebengebäude hängen zwei Dutzend Pensionäre am Tropf, durch den verflüssigte Heilkräuter laufen.

"Viel billiger als das westliche Chemiezeug", sagen die Apothekerinnen. "Und vor allem ohne Nebenwirkungen."

Im Guang An Men, versichert die Leitung der Klink, würde allen Notfällen geholfen. Aber auch dieses Hospital muss sich auf tumultuöse soziale Umwälzungen einstellen. Die Zeiten des Krankenscheins, der zur kostenlosen Behandlung berechtigte, sind vorbei. Die Patienten müssen mindestens 20 Prozent der Arzneien bezahlen.

Wer bettlägerig wird oder eine Operation braucht, ist besser sehr gut bei Kasse: 2000 Yuan (500 Mark) muss der Kranke vorstrecken. Ein Klacks für die in westlichem Luxus lebende neue Unternehmerklasse, aber praktisch unerschwinglich für die Pensionäre. Die Partei verspricht eine neue Form der Versicherung mit geringer Selbstbeteiligung, aber bis jetzt ist noch nicht einmal jeder Zehnte von diesem System erfasst.

"Die hier in Guang An Men sind gute Menschen, aber sonst sind die meisten chinesischen Ärzte Halsabschneider", sagt ein Patient, dessen chronisches Hautleiden permanenter Behandlung bedarf. Eine Meinungsumfrage in der Jugendzeitung "Qingnian bao" zeigte, wie rapide das traditionelle hohe Ansehen der Mediziner im modernen China verfällt: Kaum ein Berufsstand sei so "unmoralisch", fanden die Leser und setzten die Ärzteschaft auf den drittletzten Platz aller Berufsgruppen.

Ein zerlumpter Mann bringt seine schniefende Tochter auf einem Schubkarren zur Aufnahme. Daneben hält mit knirschenden Reifen ein nagelneuer BMW der Fünferreihe. Heraus springt ein Herr im Armani-Anzug, an seiner Seite zwei Bodyguards: Das offiziell immer noch kommunistische China ist längst eine Klassengesellschaft und hat dementsprechend auch eine Klassenmedizin. In manchen Pekinger Kliniken werden selbst Schwerkranke abgewiesen, wenn sie die Behandlung nicht bar bezahlen können.

Fast schon amerikanische Verhältnisse, sagt Professor Tang und lächelt dabei nur ein bisschen.


GANZ OHR - NADELN GEGEN NEURALGIE

Schon vor 2500 Jahren versuchten chinesische Ärzte, den menschlichen Körper durch Ohr-Akupunktur zu heilen. Als Reflexzonentherapie wurde die Methode 1956 von dem französischen Arzt Paul Nogier weiterentwickelt. Die Experten unterteilen die Hörmuschel auf einer "topografischen Karte" in neun Felder, die jeweils einem Körperbereich zugeordnet sind, zum Beispiel der Zunge, dem Bauchraum oder den Augen. Da die Projektionspunkte nur selten mehr als ein Zehntel Millimeter groß sind, erfordert das Auffinden viel Wissen und Geschick. Die Therapie erfolgt mit kürzeren und dickeren Nadeln als in der klassischen Akupunktur. Bei chronischen Erkrankungen arbeiten die Ärzte oft mit "Dauernadeln", die bis zu sieben Tage am Einstichort bleiben. Behandelt werden vor allem Schmerzen des Bewegungsapparats und Neuralgien. Mit unterschiedlichem Erfolg haben Mediziner auch versucht, mit der Ohr-Akupunktur Suchtkrankheiten zu heilen.


"ALLE IN EINEM BOOT"

Die Länder der Dritten Welt können sich Hightech-Medizin nicht leisten. Wie lässt sich trotzdem eine medizinische Grundversorgung sicherstellen? WHO-Generaldirektorin GRO HARLEM BRUNDTLAND über mögliche Wege aus der Misere.

SPIEGEL: Frau Brundtland, drei Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Tuberkulose, mehr als eine Million an Malaria. Aids galoppiert in Afrika und Asien - hat die moderne Medizin, global gesehen, versagt?
Brundtland: Millionen Menschen in diesen Ländern könnten gerettet werden. Die Menschen der Dritten Welt müssen sich wirtschaftlich so weit entwickeln, dass sie sich die verfügbaren medizinischen Technologien leisten können.

SPIEGEL: Von Ihnen stammt das Zitat "Die Medikamente sind im Norden, die Krankheiten im Süden", wie kann diesem Ungleichgewicht begegnet werden?

Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571493

Brundtland: Das ist kein medizinisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Wie ernst nehmen wir die miserablen Lebensbedingungen von Menschen, die weit entfernt von unseren Grenzen leben? Wenn wir das nicht tun, wenn wir beispielsweise die Kinder in der Dritten Welt nicht schutzimpfen wie die Kinder des Nordens, dann bleiben die Menschen des Südens weiterhin im Kreislauf von Armut, Hunger und Krankheiten gefangen.

SPIEGEL: Bisher geben die meisten der betroffenen Länder pro Kopf und Jahr nur wenige Dollar für die Gesundheitsfürsorge aus. Wie lässt sich das ändern?

Brundtland: Tatsächlich gerät ein armes Land, das neben dem Gesundheitswesen auch Missstände in der Bildung, bei der Trinkwasserversorgung und im Wohnungsbau bewältigen muss, in eine nahezu unerträgliche Zwickmühle, die jede Fortentwicklung aussichtslos erscheinen lässt. Vielen südafrikanischen Ländern geht es heute schlechter als vor 25 Jahren. Als Hauptursachen gelten die hohen Schuldenlasten sowie die Zunahme von Aids- und Malaria-Erkrankungen, welche die bereits bestehende Last an körperlichen Leiden weiter erhöht haben.

SPIEGEL: Warum steigt die Zahl der Malaria-Fälle so rapide an?

Brundtland: Klima- und Umweltveränderungen wirken zusammen mit einer Zunahme der Resistenz gegen AntimalariaMedikamente, die noch vor 25 Jahren weltweit wirksam waren. Das Fehlen geeigneter Medikamente schlägt bei Malaria besonders durch, weil diese Krankheit schnell und effizient behandelt werden muss, um Spätfolgen oder Tod zu vermeiden.

SPIEGEL: Die WHO hat das Ziel, eine Reihe von Infektionskrankheiten auszurotten. Was kostet das, und wer soll es bezahlen?

Brundtland: Die Pocken sind ausgerottet, und die Chancen stehen gut, dass uns das in Kürze mit der Polio gelingt. Dann nehmen wir die Masern ins Visier und andere Kinderkrankheiten, deren Beherrschung einfach und nicht teuer ist. Mit zehn Milliarden Dollar pro Jahr ist das zu schaffen, ein geradezu lächerlicher Betrag angesichts der 1,6 Billionen Dollar, die weltweit jedes Jahr ins globale Gesundheitssystem fließen.

SPIEGEL: Nur ein Zehntel dieser Summe wird in den Ländern ausgegeben, die 90 Prozent der weltweiten Krankheitslast zu tragen haben.

Brundtland: Das genau ist der Kern des Problems. Ein Großteil der 1,6 Billionen wird auch nicht kosteneffektiv ausgegeben. So weit es die langfristige Gesundheitssicherung, zum Beispiel eine Verringerung von Kinder- und Müttersterblichkeit, betrifft, kommt das Geld gerade denen nicht zugute, die es am dringendsten benötigen. Für eine entsprechende Umverteilung wäre es schon hilfreich, wenn die reichen Länder sich an ihre Zusage hielten, jährlich 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für diesen Zweck zu zahlen, und nicht nur wie derzeit 0,2 bis 0,3 Prozent oder teilweise noch weniger. Andererseits sind die jüngsten Spenden von Ted Turner und Bill Gates ein Zeichen dafür, dass Stiftungen und Privatpersonen auch auf dem Gesundheitssektor global umzudenken beginnen.


SPIEGEL: Welche Rolle kann die WHO dabei spielen, in den Ländern der Dritten Welt ein System der medizinischen Grundversorgung für alle einzurichten?

Brundtland: Wir müssen armen und reichen Ländern die Einsicht vermitteln, dass eine globale Gesundheitsversorgung ein erreichbares und für jedermann lohnendes Ziel ist, das mit der Würde des Menschen direkt zusammenhängt. Zudem wirkt die Schaffung einer gesunden, produktiven Bevölkerung in der Dritten Welt politisch stabilisierend und schafft neue Märkte. Bei langfristigen Investitionen in den Gesundheitssektor gibt es nur Gewinner.

SPIEGEL: Werden die Drittweltländer auch von den medizinischen Fortschritten beispielsweise in der Genetik, Robotchirurgie oder Organzüchtung profitieren?

Brundtland: Wohl kaum. Der Graben zwischen Armen und Reichen wird immer breiter. Das ist ein zentrales Thema für die ersten zehn Jahre dieses Jahrhunderts. Um die Unterschiede im Lebensstandard erträglich zu gestalten, muss bis zum Jahre 2015 die Armutsrate in den Drittweltländern wenigstens um die Hälfte verringert werden. Eine Schlüsselrolle bei der Lösung dieses Problems spielt die Pharmaindustrie.

SPIEGEL: Können Sie sich einen internationalen Medikamentenfonds vorstellen, über den arme Länder wichtige Medikamente zu erträglichen Preisen beziehen können?

Brundtland: Die Idee ist überhaupt nicht abwegig. Wir haben seit kurzem das Instrument der Runden Tische eingerichtet unter Beteiligung von Pharmafirmen, Stiftungen, Regierungsvertretern und Uno-Mitarbeitern. Anfang dieses Jahres, bei der Weltwirtschaftstagung in Davos, wurde die Global Alliance for Vaccine and Immunization gegründet. Ihr Ziel ist es, nicht nur jedes Menschenkind gegen Kinderkrankheiten zu impfen, sondern auch dafür zu sorgen, dass neue Impfstoffe für jedermann erschwinglich sind.

SPIEGEL: Wie haben Sie denn die Pharmaindustrie ins Boot gezogen, die doch sonst in der Dritten Welt nur einen beschränkten und wenig lukrativen Markt für ihre Produkte sieht?

Brundtland: Sie muss ja nicht die gesamten Kosten übernehmen, die Forschungsaufwendungen für bestimmte neue Medikamente wollen wir mitfinanzieren. Dieses Modell kann sich für die Industrie durchaus lohnen, wie am Beispiel der Malaria deutlich wird: Die einstige Tropenkrankheit breitet sich immer weiter nach Norden aus. Wirksame Impfstoffe werden also auch für die Industrienationen wichtig.

SPIEGEL: Wie sieht es mit dem Aufbau einer eigenen Pharmaindustrie in Drittweltländern aus?

Brundtland: Nicht schlecht, Indien etwa macht große Fortschritte, indische Medikamente werden in die Dritte Welt exportiert.

SPIEGEL: Vor 50 Jahren starben die meisten Menschen vor Erreichen des 50. Lebensjahres; mittlerweile beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in der Dritten Welt etwa 64 Jahre. Wird dieser positive Trend anhalten?

Brundtland: Ich denke schon, es sei denn, Aids verhagelt uns die Statistik oder eine neue Epidemie taucht auf. Selbst die derzeit verringerte Lebenserwartung in Russland wird wieder ansteigen, wenn die Armutsrate in der Bevölkerung dort verringert werden kann.

Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571493
"Wenn wir uns der Bedürfnisse der Menschen in den armen Ländern annehmen, wird es keine großen Trecks geben. Menschen wollen zumeist dort leben, wo sie geboren sind."
Die norwegische Politikerin und Ärztin Gro Harlem Brundtland ist seit 1998 Generaldirektorin der WHO.  


SPIEGEL: In 50 Jahren dürften drei Milliarden Menschen zusätzlich auf der Erde leben, werden die meisten von ihnen satt werden, oder werden sie Hunger leiden wie jetzt schon jeder fünfte Erdenbürger?

Brundtland: Ich bin da ganz zuversichtlich, die neuen Kommunikationstechniken werden Lösungsansätze beschleunigen.


SPIEGEL: Bevölkerungsexperten befürchten gigantische Flüchtlingsströme von Süd nach Nord und vom Land in die Städte. Bedeutet das neue Risiken für die Weltgesundheit?

Brundtland: Wenn wir uns der Bedürfnisse der Menschen in den armen Ländern ernsthaft annehmen und ihre Last erleichtern, wird es keine großen Trecks geben. Menschen wollen zumeist dort leben, wo sie geboren sind. Andererseits sitzen wir alle im selben Boot, voll von Bakterien und Viren. Krankheitskeime kennen keine Grenzen. Letztlich profitiert die gesamte Weltbevölkerung davon, wenn wir die Last der Krankheiten in der Dritten Welt mindern.

SPIEGEL: Frau Brundtland, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


JUWEL DER ARMEN

In einer abgeschiedenen Ecke von Uganda haben sich die Bewohner eine Art Krankenversicherungssystem geschaffen. Als Vorbild dienten traditionsreiche dörfliche Beerdigungskassen.

Der Kranke liegt auf einer schmalen Trage aus geflochtenen Palmenblättern, die zwischen zwei Holzstangen gespannt und mit einer zentimeterdicken Schicht aus Baumrinde gepolstert sind. Schaukelnd hieven die Träger das Notbett über den holprigen Bergpfad. Zwei Dutzend Verwandte und Nachbarn des Kranken wechseln sich mit dem Schleppen ab.
Die fiebrig glänzenden Augen des ugandischen Kleinbauern Matsiko, 28, künden von seiner Krankheit. Das Weiß der Augäpfel ist gelblich getrübt. Beim nächsten Trägerwechsel sinkt der apathisch wirkende Kranke wieder in Bewusstlosigkeit: Malaria im fortgeschrittenen Stadium.

Acht Kilometer hat die Krankenprozession noch vor sich. Der Weg führt, zwischen sanft gewellten Hügeln, durch Bananenhaine, Kohl- und Tabakfelder, vorbei an Beeten mit süßen Kartoffeln.

Kurz vor dem 2000-Seelen-Dorf Kisizi in der südwestlichen Ecke des ostafrikanischen Staates Uganda mündet der schmale Trampelpfad in einen befestigten Fahrweg. Danach sind es noch zwei Kilometer, und wenn Peter Matsiko dann noch lebt, hat er gute Chancen, dem frühen Tod zu entgehen.

Hilfe erwartet ihn in einem Krankenhaus, das in Uganda, der "Perle Afrikas" (so der Afrika-Reisende Winston Churchill), "selbst ein Juwel ist". So beschreibt Moses Mugume, Verwaltungsdirektor des Kisizi Hospital, den Krankenhauskomplex.

In den drei u-förmig angelegten Flachbauten einer leer stehenden Flachsfabrik hatte der britische Missionsarzt John Sharp 1958 die Kisizi-Krankenstation eingerichtet. Sharp starb schon im Gründerjahr, die anglikanische Kirche übernahm das Spital und baute es zu einem Zentrum der medizinischen Basisversorgung aus.

Eine zweistöckige Isolierstation zur stationären Behandlung von Tuberkulose und anderen ansteckenden Krankheiten wurde errichtet, ein Gebäude mit drei OP-Räumen sowie ein Verwaltungstrakt mit Untersuchungszimmern und Apotheke; im Bau ist eine Reha-Abteilung, in der Behinderte, die in ländlichen afrikanischen Kommunen ein Kümmerdasein fristen, betreut und unterwiesen werden können.

Vier einheimische und zwei britische Ärzte, eine Physiotherapeutin aus Irland, 40 Krankenschwestern und 38 Lernschwestern sind in dem 220-Betten-Krankenhaus derzeit beschäftigt. Auf 650 Millionen ugandische Shilling (umgerechnet knapp eine Million Mark) beziffert Klinikchef Mugume den Jahresetat, der zu zehn Prozent vom ugandischen Gesundheitsministerium bestritten wird. "Den Rest", so Mugume, "müssen wir selbst eintreiben", als Spenden von den Patienten und neuerdings auch von der Kisizi Health Society.

Seit drei Jahren betreibt diese Gesundheitsgesellschaft den ehrgeizigen Versuch, in Uganda eine Art privates Krankenversicherungssystem aufzubauen. Es ist maßgeschneidert für die Bedürfnisse und die Armut der rund 50 000 Menschen, die in einem Umkreis von 14 Kilometern um das Krankenhaus leben.

Fast alle von ihnen sind Kleinbauern. Ihre Höfe und Felder liegen weit verstreut an den Hügelhängen. Als Zentren der Kommunikation und des Handels dienen kleine Ansiedlungen in den Tälern.

"Wer in dieser abgelegenen Gegend krank wird", sagt Mugume, überlege es sich lange, bevor er zum Arzt geht - aus drei Gründen: Der "Wunderheiler" oder die "Kräuterhexe" wohnen in der Nähe; sie verlangen für die Behandlung nur ein paar Shilling oder geben sich sogar mit Naturalien zufrieden. Der Besuch bei einem Arzt im Krankenhaus hingegen bedeutet wegen der langen Wegstrecke und der Wartezeit, dass die Arbeit auf dem Feld liegen bleibt. Vor allem aber: Jede Untersuchung und jede Behandlung, von der Tablette über die Mullbinde bis zur Operation, muss - von den kärglichen Erlösen aus dem Verkauf von Feldfrüchten - bar bezahlt werden.

Besonders prekär wird die Situation eines Kranken, der stationärer Behandlung bedarf. Dann muss wenigstens ein erwachsenes Familienmitglied dabei sein, um den Patienten für die Dauer seines Aufenthalts im Spital zu verpflegen. Die Arbeit auf dem Acker gerät weiter in Rückstand.

"Vor vier Jahren hatten wir hier eine merkwürdige Situation", berichtet Mugume-Vorgänger Masiko Kagonyera: "Um uns herum stieg die Anzahl der Malaria-Fälle, die Tuberkulose galoppierte, Aids war nicht zu stoppen. Doch unsere Betten standen leer, und wir saßen auf einem gewaltigen Stapel unbezahlter Rechnungen." Die Kranken konnten sich die Behandlung schlicht nicht leisten.

Dass die Kisizi-Klinik der drohenden Schließung dennoch knapp entging, schreibt Kagonyera einer Gesundheitskonferenz zu, die er gemeinsam mit seinem späteren Nachfolger Mugume in der kenianischen Hauptstadt Nairobi besuchte: "Dort hörten wir zum ersten Mal das Wort von der 'Gemeindegetragenen Krankenversicherung'."


Um ein solches System in der ländlichen Einöde Ugandas aufzubauen, dessen staatlicher Gesundheitsetat durch die Aidsepidemie schon extrem beansprucht ist, bedienten sich die Kisizi-Betreiber einer traditionsreichen Einrichtung - der "Engozi". In diesen Vereinigungen haben sich jeweils einige dutzend bis mehrere hundert Familien zusammengeschlossen, um für ihre Mitglieder die Kosten einer Beerdigung erträglicher zu machen.

Der Tod eines Menschen wird in Uganda wie ein trauriges Volksfest zelebriert. Die Familienangehörigen versammeln sich mit den Nachbarn zu einwöchiger Trauer - jede Arbeit ruht, die Trauergemeinde wird von der Familie verköstigt. Ist der Tote dann auf dem Grundstück bestattet, sind die Hinterbliebenen oft pleite, es sei denn die Familie ist Mitglied einer Engozi. Der Beitritt kostet pro Familie umgerechnet vier Mark, der Monatsbeitrag 25 Pfennig.

Die Leistungen der Beerdigungsgesellschaft umfassen das Holz für den Sarg, der von Engozi-Mitgliedern gezimmert wird, den Transport des Toten in sein Heimatdorf sowie die Kosten für die Speisung der Trauergemeinde.

"Nach dem Motto: Was für Tote funktioniert, kann auch für Lebende von Nutzen sein", sagt Kagonyera, "wollten wir unser System mit dem der Engozis verbinden." Binnen weniger Monate konnten die Chefs und die Kassierer von zunächst jeder vierten der etwa 300 Beerdigungsgesellschaften für den Plan gewonnen werden.

Rund 10 000 Menschen waren letztes Jahr dem Versicherungssystem beigetreten. Eine vierköpfige Familie zahlt einen Monatsbeitrag in Höhe von rund drei Mark; dazu kommt eine Eigenbeteiligung im Krankheitsfall. Sie beträgt für ambulante Patienten knapp 1,50 Mark, bei stationärer Behandlung muss der Kranke rund sieben Mark für die Aufnahme bezahlen. Alle weiteren Behandlungskosten für Medikamente, Operationen, Injektionen und medizinische Hilfsmittel übernimmt die "Gesundheitsgesellschaft", bei der die Kassierer der Engozis die eingesammelten Mitgliederbeiträge abliefern.

Ohne die Hilfe der "Gesellschaft" wäre ein Aufenthalt im Krankenhaus für einen ugandischen Bauern ruinös. Eine Prostata-Operation beispielsweise kostet umgerechnet 270 Mark, jede Penizillintablette 10 Pfennig, jede Tankfüllung des Narkosegases Halothan 50 Mark - für die Landbevölkerung ein Vermögen.

Ob das originelle System der Krankenversicherung für die Zukunft trägt, steht noch dahin. So hat unlängst eine lange Dürre die Anzahl der Mitglieder um etwa ein Drittel schrumpfen lassen. Sie konnten die Beiträge nicht mehr bezahlen.

Zugleich sorgte eine Malaria-Epidemie dafür, dass die Belastungen des Krankenhauses steil anstiegen. Klinikchef Mugume blieb diesmal noch tapfer: "Als christliches Krankenhaus weisen wir keinen Leidenden ab, auch wenn der Stapel unbezahlter Rechnungen höher wird."

01.05.2000
Happy End:

Medizin von Morgen V

 
10.02.02 01:09
Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571496

Baustelle Gehirn - graue Zellen und Computer

BAUSTELLE GEHIRN

Medizin- und Hirnforscher bringen mit eingepflanzten Chips Gelähmte wieder auf die Beine und machen Blinde wieder sehend. Wird eines Tages der Computer im Menschenhirn das Kommando übernehmen - und was bleibt dann übrig von der eigenen Identität?

Forscher versuchen, das Denkorgan zu enträtseln. Wie im Gewirr der Nervenzellen Intelligenz und Bewusstsein entstehen, bleibt mysteriös. Die Kopplung von Gehirn und Computer eröffnet neue Möglichkeiten für die Therapie von Krankheiten.

Rund 100 Milliarden Nervenzellen kommunizieren im menschlichen Gehirn miteinander. Pausenlos tauschen sie biochemische Signale aus. Durch 100 Billionen Synapsen untereinander verdrahtet, formen sie ein Gebilde unvergleichlicher Komplexität: Die Anzahl der theoretisch möglichen Kombinationen aller Kontakte, Grundlage der Hirnfunktionen, ist größer als die Gesamtzahl aller Atome im Universum.

Dieser Bauplan ist nach wie vor der Heilige Gral der Hirnforschung. Ob das ehrgeizige Ziel, ihn zu entwirren, je zu erreichen sein wird, steht dahin. An Versuchen fehlt es nicht. Am 17. Juli 1990 erklärte der damalige US-Präsident George Bush das gerade angebrochene Jahrzehnt zum "Jahrzehnt des Gehirns". Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Disziplinen, der Neurobiologie ebenso wie der Molekulargenetik oder der Informatik, einte das gemeinsame Ziel, besser zu verstehen, wie jene rund 1400 Kubikzentimeter Nervengewebe, die das Gehirn bilden, im Detail organisiert sind.

Einmal umfassend enträtselt, so die Vision, könnten die Vorgänge unter der Schädeldecke zielgerichtet beeinflusst werden: Der Medizin würde das Werkzeug zur Bekämpfung zahlreicher Krankheiten in die Hände gelegt. Alzheimer und Parkinson, Sprachschwierigkeiten und Schwerhörigkeit, sogar psychische Erkrankungen wie Autismus und Schizophrenie wären heilbar. Methoden zur Reparatur zerstörter Nervenfortsätze verhießen Hoffnung für Querschnittgelähmte.

Die amerikanische Gehirnoffensive hat aufregende Einsichten in das Denkorgan hervorgebracht. Letzten Monat riefen deutsche Wissenschaftler eine Initiative ins Leben, die nach amerikanischem Vorbild Hirnforschungsprojekte für ein weiteres Jahrzehnt fördern soll.

Moderne Bild gebende Verfahren ermöglichen es Neurowissenschaftlern heute, den grauen Zellen gleichsam live bei der Arbeit zuzuschauen. In den Labors der Molekularbiologen werden Gene enttarnt, die Auslöser verschiedenster Krankheiten sein könnten oder Schlüsselfunktionen bei der Entwicklung des Nervengewebes innehaben. Selbst Gedächtnisgene wurden bereits gefunden.

Wie das Gehirn in seiner Gesamtheit funktioniert, weiß man allerdings immer noch nicht. Die Entschlüsselung einzelner Gensequenzen oder Nervenschaltkreise kann auf diese Frage keine Antwort liefern, weil nur das Zusammenspiel des Systems Gehirn dessen vielfältige Leistungen hervorbringen kann - inklusive des Phänomens Bewusstsein, das manche Forscher für eine Art Abfallprodukt des neuronalen Netzes halten; andere sehen darin ein Schöpfungsmysterium, dessen Natur der Mensch mit seinem eigenen Denkvermögen nie werde ergründen können.

Ist das menschliche Gehirn eine Art Superrechner? "Anders als beim Computer", so der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer, "lässt sich im Gehirn eine Trennung zwischen Hardware und Software nicht vornehmen." Das Programm für Hirnfunktionen werde ausschließlich durch die hochspezifische Verschaltungsarchitektur der Nervenzellen festgelegt.

Die Welt im 21.Jahrhundert (Zusammenfassung) 571496

Eine Kopplung zwischen Hirn und Computer eröffnet eine Reihe von neuen Therapiemöglichkeiten (siehe Grafik). Dutzende von Forscherteams arbeiten an elektronischen Seh- und Hörhilfen, an Hirnschrittmachern für Parkinsonkranke, an intelligenten Prothesen sowie an Computern, die an die Hirnströme gelähmter Patienten angeschlossen werden sollen.

So hat Niels Birbaumer, Direktor des Instituts für medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen, eine Art Gedankenübersetzungsprogramm entwickelt. Patienten, die aufgrund eines Hirnstamminfarkts oder einer zerstörerischen Nervenerkrankung wie amyotrophischer Lateralsklerose vollständig gelähmt sind, bleiben in vielen Fällen zu einem Leben in völliger Isolation von der Außenwelt verdammt. Obwohl ihr Gehirn weiterhin funktioniert, ist ihnen jegliche Möglichkeit zur Kommunikation genommen ("Locked-in-Syndrom").

Birbaumer arbeitet seit rund sieben Jahren an einer Methode, mit der einige dieser Patienten allein durch ihre eigenen Hirnströme, die mittels aufgeklebter Elektroden vom Schädel abgeleitet werden, einen Cursor über einen Computermonitor steuern und damit - extrem langsam und nach monatelangem Biofeedback-Training - selbständig Texte schreiben können. Inzwischen hat Birbaumer sechs Patienten verkabelt. Neuerdings können sie nicht nur Buchstaben auswählen, sondern auch hirnstromgesteuert im Internet surfen.

Ähnlich verfahren Philip Kennedy von der US-Firma Neural Signals und Roy Bakay von der Emory University in Atlanta. Ihr Ansatz beruht jedoch auf einem ungleich dramatischeren Eingriff als Birbaumers EEG-Sensoren: Bakay implantiert seinen Patienten eine glasummantelte Elektrode direkt ins Gehirn - in den Bereich der Großhirnrinde, der für die Steuerung von Bewegungen zuständig ist.

Denkt der Patient daran, seine Hände zu bewegen, beginnen die Neuronen in dem betreffenden Hirnareal zu feuern. Das Signal wird an einen Computer übertragen, der verschiedene Befehle ausführen kann. Birbaumer steht dieser Methode kritisch gegenüber: "Diese Patienten sind ohnehin extrem infektionsgefährdet", erklärt er, "man muss ihnen nicht auch noch den Schädel aufstemmen und ein Kabel in den Kopf legen, wenn es auch anders geht."

Die Sprache der Nervenzellen bleibt bislang ein Geheimnis. Zwar gibt es schon seit einigen Jahren ein Cochlea-Implantat. Es sitzt im Ohr und versorgt den Hörnerv über bis zu 22 Elektroden mit Informationen über das, was ein winziges Mikrofon an Lauten empfängt. Doch seine Stromimpulse entsprechen nicht denen, die ein gesundes Innenohr an das Gehirn sendet. Die Elektronik ordnet den empfangenen Frequenzen ein Muster von Stromimpulsen zu. Nur weil das Gehirn des Implantat-Trägers lernt, die Folge der elektrischen Reize zu sinnvollen Informationen zu verarbeiten, können Träger eines Cochlea-Implantats wieder hören. Das Hirn eines Erwachsenen, der seit Geburt taub ist, würde an der Interpretation scheitern.

Ein Sehchip für Blinde, der die Funktion der Millionen von Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut des gesunden Auges übernehmen und den Sehnerv mit Dateninput versorgen soll, befindet sich derzeit noch am Anfang seiner Entwicklung.

Für Visionäre reicht das Potenzial der Neuron-Chip-Allianz weit über die rein therapeutische Anwendung hinaus. Nicht nur zur Wiederherstellung verloren gegangener Funktionen, meinen sie, eigne sich die Verschmelzung mit der Mikroelektronik - sie eröffne dem menschlichen Gehirn sogar eine Art Systemerweiterung.

Der amerikanische Computertüftler Ray Kurzweil prophezeit in seinem jüngsten Buch "The Age of Spiritual Machines" eine Co-Evolution von Mensch und Computer. Schon Mitte des Jahrhunderts, glaubt Kurzweil, werden Gehirn und Computer vielfältig miteinander verbunden sein. Mit Hilfe biokompatibler Neuroimplantate werde man die Rechen- und Gedächtnisleistung des Gehirns dann nach Belieben aufrüsten können.

Zudem wird es laut Kurzweil direkte Verbindungen zwischen menschlichen Gehirnen und Computern geben, die es ermöglichen, den Inhalt jedes Hirns zu scannen und Lebenserinnerungen samt Persönlichkeit in einen Datenspeicher zu transferieren.

In bescheidenem Maßstab ist eine hybride Verbindung zwischen Neuron und Siliziumbauelement schon realisierbar. Die Neuron-Silizium-Einheit, die der Physiker Peter Fromherz, Chef der Abteilung für Membran- und Neurophysik am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München, 1991 erstmals zusammensetzte, enthielt allerdings nur eine einzige Zelle - und die stammte von einem Blutegel. Mittlerweile ist er auf Schneckenneuronen umgestiegen. Zwei davon hat er auf einem Halbleiter zu platzieren vermocht. Jetzt experimentiert er mit dreien.

Auch wegen dieser Schwierigkeit, komplexere Netze zu etablieren, sieht Fromherz das von Kurzweil heraufbeschworene Zeitalter der allgegenwärtigen Neuronchips noch in weiter Ferne: "Was sind schon drei Schneckenneuronen, verglichen mit dem menschlichen Gehirn?"


FENSTER ZUR WELT

Mehrere Forschergruppen arbeiten daran, Blinde wieder sehend zu machen. Sie entwickeln Chips, die sie in die Netzhaut implantieren wollen, und bizarre Kamerabrillen, die direkt mit dem Hirn verdrahtet werden.

Bloß raus hier, steht auf den Gesichtern der Menschen, die sich aus den geöffneten U-Bahn-Türen drängen. Ohne hinzugucken, machen sie einen kleinen Satz über den Spalt zur Bahnsteigkante, hasten stumm auf die abgeschabten Treppenstufen zu und pressen sich durch die Drehkreuze am Ausgang. In der New Yorker Subway herrscht das alltägliche Chaos. Und mittendrin tastet sich ein Mann durchs Gewühl, der aussieht, als komme er aus einem künftigen Jahrhundert.
Auf der Nase sitzt ihm eine sonderbare Sonnenbrille. Daraus ragt rechts eine schwarze Miniaturkamera, links funkelt eine Linse im Gegenlicht wie ein Insektenauge. Ein weißes Kabel schlängelt sich nach hinten durch die Schädeldecke ins Gehirn. Jerry heißt der Mann, und er bewegt sich durch die belebte Station an der 168. Straße im Norden von Manhattan.

Gefährliches Terrain für einen Blinden: Zwischen Eisenpfosten hindurch manövriert sich der korpulente Rentner, mit einem Blindenstock stochernd, erstaunlich schnell auf den Ausgang zu. Sein Ziel ist die riesige Klinik der Columbia University, wo jener Mann arbeitet, der ihm "ein neues Leben geschenkt hat": Dr. Dobelle.

Im Januar ging das Foto des 62-jährigen Jerry um die Welt. Im internationalen Wettlauf der Ingenieure und Wissenschaftler, Blinde sehend zu machen, hatte der amerikanische Biophysiker William Dobelle nach über 30 Jahren Forschung als Erster verkündet, es sei vollbracht. Es sei ihm gelungen, erklärte er, Jerry zumindest einen Teil seines Augenlichts zurückzugeben - genug, ihm den Weg durch das Labyrinth der New Yorker U-Bahn zu weisen.

Bereits 1978 war in Jerrys Dunkel ein erster Hoffnungsstrahl gefallen. Dobelle experimentierte damals mit einem elektronischen Sehapparat, den er zum ersten Mal am Menschen erproben wollte. "Wir hatten keinen blassen Schimmer, wohin das führen würde", gesteht der vierschrötige Dobelle heute. Der blinde Rentner unterschrieb eine Erklärung, dass er unerwünschte Nebeneffekte, den Tod eingeschlossen, in Kauf nehme.

Dobelle verfolgte einen vergleichsweise simplen Plan. Statt sich lange mit der komplizierten Signalverarbeitung der Sehnerven herumzuschlagen, konstruierte er eine Brillenkamera, welche die optischen Daten direkt auf die Sehrinde des Gehirns übertragen sollte. Das Grundprinzip des Apparats, den Dobelle und seine Mitarbeiter ersannen, hat sich seither kaum geändert.

Ein Ultraschallsensor misst die Entfernung der anvisierten Gegenstände. Gemeinsam mit den von der Kamerabrille gelieferten Bilddaten landen die Informationen über ein Kabel in einem handtaschengroßen Computer. Der verarbeitet acht Bilder pro Sekunde.

Vom Rechner führt die Leitung weiter durch eine knopfgroße schwarze Plastiköse im Hinterkopf des Patienten zu 68 Elektroden. Die Drähte stimulieren das Sehzentrum in Jerrys Hinterkopf, jeder von ihnen lässt einen Lichtpunkt in Jerrys innerer Nacht aufleuchten.

Das Fenster, das den Blinden so mit der Welt verbindet, ist nicht größer als der Umriss einer Schokoladentafel, die aus einer Armlänge Abstand betrachtet wird. In diesem grobkörnigen Sehfeld erkennt Jerry schwarzweiße Umrisse in einem ruckelnden Film, etwa die Kanten von Bahnsteigen und Treppen, oder auch schwache Kontraste im Gesicht eines Gegenübers. "Es geht mir wie jemandem, der stark kurzsichtig ist", beschreibt Jerry in Dobelles Institut an der 166. Straße seine Erfahrungen mit dem künstlichen Auge, während er Sehtests mit Buchstabentafeln absolviert. "Die Welt ist verschwommen, aber immerhin: Sie ist da."

Als erster Mensch testet der geduldige Jerry die elektronische Sehkrücke am eigenen Leib. In den nächsten Monaten wollen dann belgische Mediziner einer blinden Frau eine ähnliche Apparatur implantieren. Auch japanische, amerikanische und deutsche Wissenschaftlergruppen sind darauf erpicht, den mächtigen Medizingeräte-Herstellern eines Tages Lizenzen zu verkaufen. Bis dahin wird noch Zeit vergehen: Das menschliche Auge ist eines der Paradestücke der Evolution, für dessen Entwicklung Jahrmillionen vergingen. Und so einfach gibt die Natur ihre Geheimnisse nicht preis.

In drei Richtungen tasten sich die Wissenschaftler vor. Die einen machen es wie Dobelle, montieren eine Mini-Videokamera ins Brillengestell, die ihre Bilddaten per Hirnsonde direkt ins Sehzentrum pumpt. Die anderen beiden Techniken, die vor allem in den USA und in Deutschland verfolgt werden, nutzen die noch funktionierende Verbindung des Sehnervs zum Hirn und konzentrieren sich auf die Netzhaut (Retina) des Auges.

Beim Gesunden besitzt sie die Fähigkeit, die einfallenden Lichtinformationen zu analysieren und diese Daten, aufbereitet mit Zusatzinformationen, über die Sehnerven ans Hirn zu versenden. Bei 30 000 Menschen allein in Deutschland - betroffen sind vor allem Ältere - funktioniert dieser Datentransfer nicht mehr. Ihre Netzhaut ist degeneriert. Ursache ist eine genetisch bedingte Krankheit namens Retinitis pigmentosa. "Die Patienten erblinden in einem jahrelangen Prozess, den bislang niemand aufhalten konnte", erklärt Eberhart Zrenner, Professor an der Tübinger Universitäts-Augenklinik. Darüber hinaus gibt es Millionen von Menschen, bei denen die Lichtrezeptoren der Netzhaut langsam absterben.

Den zukünftigen Medizinmarkt vor Augen - mit der Lebenserwartung wächst die Zahl der potenziell betroffenen alten Menschen ständig an -, verlieren die Forscher mitunter ihre wissenschaftliche Contenance. So stilisiert beispielsweise der Implantatforscher Rolf Eckmiller aus Bonn die Konkurrenz der Forscher zu einem Wettkampf der Nationen und Systeme. Über Dobelle und Kollegen spottet er: "Die sind mit einer Technik aufgetaucht, für die die USA vor Scham im Boden versinken müssten."

Vor allem aber wetteifert Eckmiller mit einem zweiten deutschen Forscherteam, das sich um den Augenmediziner Zrenner gruppiert. Beide Teams zielen bei ihren Bemühen, Erblindeten zu helfen, auf die Netzhaut.

Wenn sie nicht krankhaft verändert ist, klebt die Retina wie ein Film an der hinteren Wand des Augapfels. Ihre äußerst empfindliche Konsistenz ähnelt der eines feuchten Papiertaschentuchs. Mehrere Zellschichten empfangen das einfallende Licht. Die erste besteht aus 120 Millionen Fotorezeptoren. Sie übermitteln je nach Intensität des einfallenden Lichts eine mal stärkere, mal schwächere biochemische Spannung an die nächste Zellschicht. Danach bündelt sich die Bildinformation in den Ganglienzellen, von wo aus sie in Form elektrischer Impulse Richtung Hirn gefeuert wird. "Wie die Informationsverarbeitung in den Netzhautschichten im Einzelnen funktioniert, ist weiterhin rätselhaft", gesteht Neuroinformatiker Eckmiller.

So viel aber ist klar: Die Bilddaten werden auf ihrem Weg von den Fotorezeptoren zu den Ganglien noch mit zusätzlichen Informationen angereichert, zum Beispiel über die räumliche Verteilung der Lichteindrücke und die Kontraste. "Nur so kann im Gehirn ein sinnvolles Bild entstehen", erklärt Eckmiller.

Bei der von Eckmillers Team entwickelten Sehprothese übernimmt ein Lichtsensorchip, integriert in eine Spezialbrille, die Rolle der Fotorezeptoren der Netzhaut. Seine Informationen gehen in einen kleinen Rechner und danach an eine Folie, die über 200 winzige Kontakte verfügt. An dieser Schnittstelle werden die künstlich generierten Bildinformationen in Form von Stromimpulsen an die Nervenzellen weitergegeben.

Zunächst weiß das Gehirn mit den Computerdaten nichts Richtiges anzufangen. Was dem blinden Träger der Sehprothese vor dem geistigen Auge erscheinen mag, flackert auf einem Monitor im neunten Stock des Neuroinformatischen Instituts: diffuse, unterschiedlich helle Lichtpunkte, die wirr umherflirren. Der Patient muss - gemeinsam mit der selbstlernenden Software des Rechners - trainieren, das wirklichkeitsgetreue Bild im Hirn zusammenzusetzen.

Ein mühsames Unterfangen - und völlig unnötig, glaubt das Konkurrenzteam um Eberhart Zrenner. "Bei Untersuchungen wurde festgestellt, dass den Erblindeten lediglich gesunde Fotorezeptoren in der Netzhaut fehlten. Die beiden informationsverarbeitenden Schichten dagegen sind noch ausreichend funktionsfähig", erläutert Hugo Hämmerle, Biologe am Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut Reutlingen; er hat einen Sehchip mitentwickelt, der in die Netzhaut eingepflanzt werden soll.

Mehr als 1000 elektronische lichtempfindliche Zellen, jede 70 Mikrometer groß, setzen das einfallende Licht in elektrische Spannung um und leiten die Impulse über winzige Elektroden an die noch intakten Netzhautzellen weiter. "Sowohl bipolare Zellen als auch die Ganglien werden dabei als datenverarbeitendes Netz weiter genutzt", erläutert Hämmerle. "So sparen wir uns die komplizierte künstliche Informationsaufbereitung."

Der treueste Versuchskandidat der schwäbischen Forschertruppe ist einstweilen das Minischwein Anton. Ihm wurden mehrere Sehchips eingepflanzt. An einem der Chips konnten Hämmerle und Kollegen einen klaren Erfolg verbuchen: Sie wiesen nach, dass das Implantat einen Lichtstrahl in einen neuronalen Impuls umwandelte, der Millisekunden später im Hirn eintraf. Was Anton dabei gesehen hat, konnte er allerdings nicht mitteilen.

Sowohl Zrenner als auch Eckmiller wollen deshalb in den nächsten Jahren Zulassungsbehörden und Ethikkommissionen dafür gewinnen, Versuche am Menschen zu erlauben.

Beim heutigen Stand der Technologie, bemerkt Zrenner realistisch, sei das Sehimplantat allerdings "nicht mehr als ein plumpes Holzbein". In drei Jahren will er die erste serienreife Sehkrücke gebaut haben.

Der Forscher warnt vor Allmachtsphantasien: "In einer für uns noch völlig schleierhaften Eleganz zaubert das Auge ein brillantes Bild in unser Hirn. Wir sollten uns nicht anmaßen zu glauben, wir könnten es mit ein paar Chips einfach nachbauen."

Viel mehr als grobe Umrisse in Schwarzweiß werden die ehemals Blinden nicht erkennen können, wenn sie - wie Eckmiller und Zrenner planen - in vier oder fünf Jahren ein Sehimplantat eingesetzt bekommen. Helma Gusseck, erblindete Vorsitzende des unter Mitwirkung von Eckmiller gegründeten Vereins "Pro Retina", wäre auch mit dieser Bildqualität schon glücklich: "Ich könnte mich wieder orientieren, wäre nicht mehr so wahnsinnig hilfsbedürftig und unsicher."

Prinzipiell spräche nichts dagegen, durch Chips die Sehschärfe des Auges sogar über das natürliche Maß hinaus zu verbessern. Von einem künstlichen Adlerblick ist die Wissenschaft jedoch noch einige Jahrzehnte entfernt. Dafür müsste nicht nur die Technik verbessert werden, die Forscher müssten auch die menschliche Bilddatenverarbeitung von der Netzhaut bis zum Sehkortex genauer verstehen.

Den Amerikaner Dobelle interessiert das alles wenig - er verbreitet Optimismus, auch wenn er mit einer Reihe von Versuchskandidaten, deren Hirn die Elektroden wieder abstieß, schlechte Erfahrungen gemacht hat. Ab kommendem Herbst, verspricht er, solle seine - vergleichsweise primitive - Sehhilfe bereits in Serienproduktion gehen, immerhin mit doppelt so viel Elektroden, wie sie der Ingenieur vor über 20 Jahren Jerry einpflanzte.

Rund 100 000 Mark soll dann die Operation kosten, inklusive Verkabelung, Hard- und Software. Das sei, verglichen mit den zehntausenden Mark, die man für einen Blindenhund aufwenden müsse, doch gar nicht so viel, findet Dobelle.

Außerdem soll das Sehgerät eine Sonderausstattung erhalten: eine Schnittstelle für TV- und Computerbilder. Patient Jerry träumt deshalb schon von einem zweiten Frühling als Broker. Er kündigt an: "Ich werde über das Internet mit Aktien handeln."


SEELE IM SCHALTKREIS

Was wird aus dem Ich, wenn Menschenhirn und Computer eine Symbiose eingehen? Die Behandlung von Nervenkranken mit Chips, meint der Bonner Neurophysiologe DETLEF LINKE, werfe neue Fragen nach dem Selbstverständnis des Menschen auf.

Ein Mann klettert auf ein Brückengeländer. Kurz bevor er oben angekommen ist, hält er inne. Sein trüber Blick hellt sich auf, er kehrt wieder um. Die plötzliche Besinnung verdankt der Lebensmüde einem Chip im Stirnhirn, der registriert hatte, dass sein Serotoninspiegel zu sehr abgesunken war. Mit ein paar Impulsen zum Ausstoß des Neurotransmitters wurde das Gleichgewicht der chemischen Botenstoffe im Gehirn des Mannes und zugleich seine seelische Balance wiederhergestellt.
Ist diese Technik nicht ein Gewinn an Freiheit? Sicherlich - sofern der Mann der Einpflanzung des Chips zur Verhinderung plötzlicher Selbstmordattacken zugestimmt hat. Dieser technische Fortschritt stünde in Tradition mit der Selbstfesselung des Odysseus, der den Lockungen des Sirenengesanges entgehen wollte.

Ein anderer Mann hat in der Nähe des unteren Rückenmarks Elektroden zur Wiederherstellung der Blasenfunktion eingepflanzt bekommen. Die Kontaktstellen sind ein wenig verrutscht. Nun reizen sie völlig ungeplant auch die Sexualfunktion des Mannes. Ist das ein Verlust an Freiheit?

Wir kommen mit einem Gehirn und einem Körper auf die Welt, die uns stets mit neuen Überraschungen konfrontieren. Wäre es wirklich ein Verlust an persönlicher Freiheit, wenn solche Überraschungen nicht nur von unserem Organismus, sondern auch von technischen Implantaten ausgelöst werden?

Frei entfaltete Identität hat mit dem Selbstverhältnis zur eigenen Biologie zu tun. Das bloße Eigentumsrecht an einer Maschine, die meine Biologie ergänzt, kann nicht ausreichen, um sie als Träger meines Selbstverhältnisses akzeptabel zu machen. Warum rechnet man einen eingepflanzten Computerchip nicht ohne weiteres zum Eigenen, zur eigenen Identität, auch wenn er manche Funktionen noch zielgerichteter als der Körper erfüllen kann?

Um solchen ungeklärten Fragen zu entgehen, überlässt die Gesellschaft dem Patienten selbst die Entscheidung, ob er eine Fernsehkamera an seinem Brillenbügel befestigt haben will, die über Elektroden mit dem Sehzentrum in seinem Gehirn verbunden ist; oder ob er einen elektronischen Wandler an seine Hörbahn angekoppelt haben will, der ihn von seiner Taubheit erlöst. Als wenn das Fremdstück in seinem Hirn zu seinem Eigen würde, nur weil es seine freiwillige Entscheidung war.

Mit diesem Trick gerät unser Menschenbild nicht in Gefahr. Selbst dann nicht, wenn die technischen Ersatzsysteme weiterentwickelt würden. Würde etwa einem Patienten, der sein Sprachvermögen verloren hat, ein Computer eingepflanzt, der Gedanken in Sprachzeichen verwandelt - auch in diesem Fall müsste das Implantat nicht notwendig als Teil der Persönlichkeit des Patienten betrachtet werden. Eindeutig zu entscheiden ist die Frage aber nicht.

Es ist nicht leicht, in der philosophischen Debatte eine für den Menschen interessante Grenze zwischen Eigenem und Fremdem zu ziehen. Sind erst einmal größere Computersysteme in den Kopf installiert, so kann es zu ungeahnten Zuschreibungen kommen. Der Mensch mit digitaler Sonderausstattung könnte selbstbewusst feststellen: "Mein Computer denkt besser!" Im Alltag bedeutet das: Durch die Verschmelzung von Mensch und Computer entstehen völlig neue Weltbilder und damit zusätzliche Verhaltensmuster. Die Generation der Heranwachsenden jongliert inzwischen wie selbstverständlich mit Begriffen wie Androide, Humanoide und Hybride.

Die neue Situation verlangt jedoch nicht nur danach, die neuen, von Hybridwesen erschaffenen Subkulturen soziologisch zu beschreiben. Gefragt sind auch klare juristische Entscheidungen. Schon heute bekommen Parkinsonpatienten Embryonal- oder Stammzellen in ihr Gehirn eingepflanzt. Sie entfalten dort ein äußerst dynamisches Wachstum. Empfänger solcher Zelltransplantate könnten etwa nach einer Straftat versuchen, die Schuld auf die fremden Zellen zu schieben: "Es war mein Embryo."

Die Vorstellung, dass im Falle einer Gefängnisstrafe der Embryo ja mitbestraft würde, kann das Urteil nicht begründen. Im Zweifelsfall für den Angeklagten zu plädieren und ihn wegen fehlender Zurechnungsfähigkeit freizusprechen, würde aber bedeuten, dass man dem Menschen nach der Operation seine Identität als autonomes, eigenverantwortliches Wesen abspricht - dieser Eingriff wäre dann nach heutiger Auffassung sittenwidrig und nicht erlaubt.

Eine ganze Reihe weiterer Haftungsfragen könnte sich in Zukunft ergeben. Etwa wenn der Träger einer Sehelektrode aufgrund eines technischen Fehlers die Farbe einer Verkehrsampel falsch wahrnimmt. Auch drängen sich Patentierungsprobleme auf. Menschliche Individualität, darüber sollte Konsens herrschen, darf niemals patentiert werden. Wie sieht es aber bei einem Menschen aus, der einen Schaltkreis im Gehirn zur Depressionsbehandlung trägt? Wird das Gerät patentiert, gilt das Patent womöglich auch für die Verhaltensweise des damit erzeugten Zwitterwesens? Hier zeigt sich ein Zwiespalt, in den wir geraten, wenn die Hirn-Computer-Schranke fällt und die Identität des Menschen zerfließt.

Offensichtlich wird die Frage, wann eine Person als solche zu gelten hat, von dem Menschenbild abhängen, das der künftigen Neurotechnik zu Grunde liegt. Einige Komapatienten können bereits heute durch Reizströme im Halsmark oder Stammhirn aus der Bewusstlosigkeit erweckt werden. Wenn der Reizstrom in den Elektroden angeschaltet ist, können sie aufmerksam im Sessel sitzen, nach Abschaltung liegen sie wieder bewusstlos im Bett.

Macht man den Personenbegriff, wie in der angloamerikanischen Rechtstradition durchaus üblich, von der Möglichkeit abhängig, bei Bewusstsein zu sein, dann steht man hier vor einer eigentümlichen Situation: Das Auftreten von Bewusstsein, das zur Zuschreibung von Personalität führt, hängt vom Einsatz eines technischen Systems ab. Was aber, wenn die das Bewusstsein ermöglichenden Schaltkreise ganz mit dem geschädigten Gehirn verschmolzen wären? Würde man dann auch der Technik Bewusstsein zuschreiben? Würde sie ein Teil der Person werden allein dadurch, dass sie nicht mehr außerhalb, sondern jetzt innerhalb des Körpers untergebracht ist? Noch ist man geneigt, derartige Schaltkreise als personenfremd anzusehen.

Dennoch brauchen wir eine öffentliche Debatte darüber, wie weit ins Hirn transplantierte Computerchips oder Stammzellen die menschliche Identität beeinflussen könnten. Wie die Beispiele zeigen, ergeben sich völlig andere Perspektiven für die Freiheit und Autonomie des Menschen, wenn man sie an einem allgemeinen Gesetz, am Ich, am Gehirn oder - wie heute immer häufiger - am Körper orientiert.

Im letzteren Fall könnte man beruhigt auf sein altes Menschenbild zurückgreifen und meinen, dass die Freiheit des Individuums gewährleistet sei, wenn man ihm beispielsweise Stammzellen aus dem eigenen Körper entnimmt, sie biotechnisch verändert und dann in sein eigenes Gehirn zurückpflanzt, etwa zur Behandlung der Parkinsonschen Krankheit oder beginnender Demenz. Die eingepflanzten Zellen können jedoch, wie Computer-Simulationsexperimente zeigen, die Entwicklung des Empfängergehirns erheblich beeinflussen.

Das Gehirn ist ein plastisches, stark vernetztes Gebilde und arbeitet nur in einem beschränkten Maße mit Modulen, die als austauschbar gelten. Doch selbst wenn man nur einige der möglicherweise austauschbaren Module auf einen Computerchip auslagern würde, stellt sich die Frage: Entsprechen die psychischen und mentalen Qualitäten dieses Menschen nach der Hirnoperation noch der Neuronenaktivität, wie sie vor dem Einbau des Computerchips in seinem Gehirn geherrscht hat? Was passiert, wenn man gar den gesamten geistigen Inhalt des Gehirns in einen Computer lädt? Die grundsätzliche Frage, ob das, was wir Seele, Geist und Denken des Menschen nennen, auf beliebigen Materialien realisiert werden kann, bleibt ungeklärt. Keine physikalische Theorie konnte bisher klären, wie sich das Mentale auf verschiedenen Materialien - sei es ein Netz biologischer Zellen oder der Schaltkreis eines Chips - verhält. Möglich immerhin, dass man nach Wiederherstellung aller Gehirnfunktionen auf neuen Materialien zu einem gut funktionierenden Zombie würde.

Bedeutet die Verwendung von biotechnisch gezüchteten Zellen aus dem eigenen Körper, dass das Zombie-Risiko geringer wäre als bei der Verwendung von Siliziumplättchen? Dabei geht es um die Frage, wieweit unser Erleben, Fühlen und Bewusstsein an die Art biologischer Zellen gebunden ist, die wir normalerweise im Gehirn haben. Vielleicht kommen weitere Forschungen zu dem Ergebnis, dass unser Erleben auf Silizium- oder Gallium-Arsenid-Schaltungen besser aufgehoben ist. Bis dahin gilt aber die Beobachtung, dass neue Zellen im Gehirn die Dynamik der Neuronenverknüpfung verändern können und damit unter den vielen möglichen Identitäten des Menschen bestimmte bevorteilen.

Am deutlichsten wird dies bei der im Tierexperiment bereits gelungenen Verpflanzung des Hippocampus, einer Hirnstruktur, die für Einspeicherung und Abruf von Gedächtnis- inhalten eine entscheidende Rolle spielt. Ein eingewachsener neuer Hippocampus würde neue Auswahlmuster beim Aktivieren von Gedächtnisinhalten schaffen und damit neue Verhaltensdispositionen fördern. Ein solches Aufweichen der Identität wird zurzeit noch als moralisches Bedenken gegen Transplantationsexperimente der Hirnforschung artikuliert. Doch in einem neuen Kulturhorizont könnte eine flexible Identität auch als Chance angesehen werden.

Angesichts des vielen Neuen möchte man den Sachverhalt, dass das Neue offenbar der Motor unseres Verhaltens ist, gern vergessen und Regeln aufstellen, denen zufolge alles verboten wird, was das überlieferte Bild vom Menschen in Frage stellen könnte. Aber von der Fixierung eines Menschenbildes kann wegen der möglichen diskriminierenden Wirkung nur abgeraten werden: Was nicht ins Bild passt, wird schnell an den Rand geschoben. Gerade darum hatte Kant bei seiner Ethik auf die Nennung biologischer Details verzichtet. Eine Ethik nur für Vernunftwesen (Engel, Menschen, Computer) kann aber auch Probleme bei der Absicherung des Menschlichen machen.

Heute ist es wichtiger denn je, von außen schützend auf das zeigen zu können, was ein Mensch ist. Neue Entwicklungsschritte sind nur dann gerechtfertigt, wenn die Gesellschaft bereit ist, lieber zu viel als zu wenig unter Schutz zu stellen, auch wenn es kostspielig sein mag. Natürlich kann man dabei Besonderheiten des Menschen hervorheben. Zum Beispiel das Lachen und den Schrei. Nach der gegen den Computer verlorenen Schachmeisterschaft mag der Mensch sich vielleicht fragen, ob es sich noch um einen Computer oder schon um eine Art Menschen handelt, der gesiegt hat. Das Lachen, das der Verlierer im Versagen von sich gibt, zeigt jedoch seine Besonderheit gegenüber dem Computer, die durch keine programmierte Gesichtsmimik eingeholt werden kann.

Zurzeit bemüht sich mancher, eine exakte Grenze zwischen Mensch und Maschine zu bestimmen. Vielleicht liefert er aber gerade dadurch die Bauanleitung, mit der er als Erster durch einen Roboter ersetzt werden könnte. Eine sehr tief gehende Frage bleibt bei aller Grenzbestimmung offen: Steht jemandem, der völlig anders ist als der Mensch, keine Würde zu? Würden wir Besucher von anderen Sternen gleich für unfrei und ohne Würde halten müssen, nur weil sie anders sind?

Vorerst sollten wir uns auf andere Grenzen konzentrieren und die Lebensmaxime "Verändere dich" nicht gleich von der Biografie auf die Biologie übertragen. Als Brechts Herr Keuner hörte, er habe sich gar nicht verändert, erschrak er. Solange Chips die Freiheit ergänzen und nicht ersetzen, liegen die Ergebnisse eher auf der freudigen Seite der Biografie.

Als der Chip-Patient, der vom Brückengeländer geklettert war, Herrn Keuner traf, sagte dieser zu ihm: "Sie haben sich aber verändert!" Da lächelte der Chip-Patient zufrieden.


"WIR WAREN WIE ZWILLINGE"

Ein Mensch will eine Symbiose mit dem Computer eingehen und unterzieht sich dafür chirurgischen Eingriffen. KEVIN WARWICK träumt von einer Zukunft, in der das Internet Gedanken von Mensch zu Mensch überträgt.

SPIEGEL: Professor Warwick, Sie wollen sich Chips implantieren lassen und so ein "Cyborg" werden. Sind Sie unzufrieden mit Ihrem Körper?
Warwick: Ich bin mir der Beschränkungen des menschlichen Körpers schmerzlich bewusst. Insbesondere, wenn ich vergleiche, wie Maschinen die Welt wahrnehmen können und wozu Computer fähig sind. Der Mensch ist mit seinen physischen und mentalen Fähigkeiten begrenzt, darum finde ich die Aussicht sehr aufregend, den Körper zu verbessern.

SPIEGEL: Derzeit sind sich alle Forscher einig, dass zum Beispiel Roboter nicht im Entferntesten an die kognitiven Leistungen des Menschen heranreichen. Wie können Sie hoffen, Ihren Intellekt zu schärfen durch die Verbindung mit einer vergleichsweise dummen Maschine?

Warwick: Sie haben ein bisschen Recht. Wir könnten heute keine Maschine bauen, die sich so gut wie ein Mensch orientieren oder so wie wir kommunizieren kann. Aber umgekehrt ist die Kluft fast noch größer. Maschinen können Dinge tun, die weit über menschliche Fähigkeiten hinausgehen. Wir nutzen diese Möglichkeiten, etwa wenn wir in ein Flugzeug steigen oder Auto fahren. Computer können auch schneller denken als der Mensch.

SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, dass Computer denken?

Warwick: Wenn ein kleiner Roboter im Labor herumfährt, betrachte ich ihn als denkendes Wesen. Roboter haben genau wie Bienen Sinne, mit denen sie die Umwelt wahrnehmen. Wir Menschen haben fünf, die unsere Vorstellung von der Welt bestimmen, aber es gibt noch viel mehr, das wir nicht wahrnehmen können. Wenn ich Röntgenstrahlung oder Radiowellen sehen könnte, würde sich für mich die Welt verändern.

SPIEGEL: Ihre bisherigen Experimente sind im Vergleich dazu technisch sehr bescheiden. Einen Transponder, wie Sie ihn sich vorletztes Jahr einsetzen ließen, haben Millionen von Leuten als Ausweiskarte bei sich. Welchen Unterschied macht es, ob Sie den Chip in der Hosentasche oder unter der Haut tragen?

Warwick: In der Funktionsweise macht es keinen Unterschied. Ich benutze heute eine Smartcard, und es geht genauso das Licht an, wenn ich einen Raum betrete, oder Türen öffnen sich. Aber der Chip funktioniert als Implantat besser, denn der Körper wirkt als eine Art Antenne. Ich musste die Karte nicht an irgendeinen Sensor halten, ich konnte einfach durch die Tür gehen.

SPIEGEL: Hat das Ihren Alltag verändert?

Warwick: Weil der Chip Teil meines Körpers war, konnte mir mein Computer E-Mails vorlesen, wenn ich in mein Büro kam, und nach einiger Zeit entwickelte ich eine Art Beziehung zu meinem Rechner. Es wäre übertrieben zu sagen, wir waren wie siamesische Zwillinge, aber irgendetwas verband uns. Ich war traurig, als diese Verbindung abriss, als das Implantat wieder entfernt wurde.

SPIEGEL: In Zeitungen war zu lesen, dass Sie von Firmen angesprochen wurden, die mit dieser Technik ihre Angestellten überwachen wollten. Stimmt das?

Warwick: Ja. Ich weiß nicht, wie konkret solche Pläne sind, aber es ist doch ganz normal, dass sich Firmen, Regierungen und Polizei darüber informieren wollen, was auf diesem Feld machbar ist. Es sind alle möglichen Anwendungen denkbar. So ein Implantat könnte wie eine Kreditkarte sein. Sie könnten in den Supermarkt gehen und sich nehmen, was Sie brauchen, die Rechnung käme automatisch. Oder denken Sie an Kinderschänder. Wenn solche Leute heute aus der Haft entlassen werden, will sie niemand in seiner Nachbarschaft wohnen haben. Vielleicht wäre die Gesellschaft beruhigter, wenn diese Personen ein Chipimplantat hätten. Sie könnten ein normales Leben führen, aber wenn sie sich zum Beispiel in der Nähe einer Schule aufhielten, würde ein Alarm ausgelöst.

SPIEGEL: Nächstes Jahr wollen Sie Nerven in Ihrem Arm anzapfen und die Signale mit dem Computer austauschen. Wird das Ihre Beziehung zur Elektronik verstärken?

Warwick: Ich glaube, wenn man so eine Verbindung zum Rechner hat, verändern sich die persönlichen Wertmaßstäbe: Was gut für den Computer ist, ist dann auch gut für mich. Natürlich bin ich dann noch ein Mensch, aber ich werde eine Cyborg-Ethik entwickeln. Wenn der Rechner ein Teil von mir ist, könnte das Trennen dieser Verbindung wie der Verlust eines Körperteils sein.

SPIEGEL: Sie zapfen Nerven an, die Ihre Armmuskeln steuern. Was erwarten Sie davon?

Warwick: Das Nervenbündel, das wir anzapfen wollen, steuert nicht nur die Muskeln, es enthält auch Nerven, die Informationen an das Gehirn zurück übermitteln, etwa den Tastsinn. Wir wollen Nervensignale, die entstehen, wenn ich mich bewege, aufzeichnen und wieder in meinen Körper zurücksenden. Zum einen wollen wir dann sehen, wie viel der ursprünglichen Bewegung reproduziert wird, zum anderen wollen wir herausfinden, wie mein Gehirn diese Signale interpretiert.

SPIEGEL: Und Sie glauben so Ihre Gedanken mit dem Rechner koppeln zu können?

Warwick: Starke Emotionen wie Wut oder Erschrecken zeigen sich eindeutig in den Signalen. Sie aufzuzeichnen ist nicht so schwierig, aber niemand hat bisher versucht, sie wieder in das Gehirn einzuspeisen. Vielleicht spüre ich nur ein leichtes Kribbeln. Vielleicht empfinde ich aber auch, wenigstens ein bisschen, die ursprüngliche Emotion. Wir werden fünf oder sechs verschiedene Emotionen ausprobieren.

SPIEGEL: Wenn Sie ein Signal finden, das Glück erzeugt, wollen Sie sich vielleicht gar nicht mehr von dem Implantat trennen.


Warwick: Ich bin mir ziemlich sicher, dass man einem Menschen Glücksgefühle bescheren kann, wenn man die richtigen elektrischen Signale in sein Gehirn einspeist. Ob das schon mit unserem Experiment gelingt, weiß ich nicht. Interessant ist für mich zunächst die Frage, wie mein Gehirn die neuen Sinneswahrnehmungen verarbeitet. Wir werden zum Beispiel versuchen, mein Gehirn mit den Signalen von Ultraschallsensoren zu füttern.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie einen zusätzlichen Ultraschallsinn entwickeln werden, oder werden Sie die Impulse nur als Schmerz oder Druck wahrnehmen?

Warwick: Für mich wäre es ausreichend, dass zum Beispiel der Ultraschallsensor ein Kribbeln an meiner Nasenspitze erzeugen würde, wenn die Gefahr besteht, dass ich irgendwo gegen laufe. Würde man schon Babys mit solchen Zusatzsinnen ausstatten, wäre ihr Gehirn sicherlich fähig, diesen Reiz als eigenständigen Sinneseindruck zu interpretieren.

SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, dass es in Zukunft alltäglich ist, solche Zusatzsinne zu haben?

Warwick: Aber sicher. Bevor es Telefone gab, konnte sich auch keiner vorstellen, dass man ein Telefon braucht. Ich glaube, die Technik, an der wir arbeiten, könnte viel wichtiger als das Telefon sein. Wenn ich im Infrarotbereich sehen könnte, könnte ich vielleicht Menschen in anderen Räumen durch die Wand wahrnehmen. Die Nerven in meinem Arm anzuzapfen ist ja nur ein erster, medizinisch relativ sicherer Schritt. Eine direkte Leitung ins Gehirn böte noch ganz andere Möglichkeiten.

SPIEGEL: Würden Sie für sich selbst so weit gehen?

Warwick: Ja, gar keine Frage. In zehn Jahren kann ich mir das vorstellen. Auf lange Sicht will ich eine direkte mentale Verbindung zwischen meinem Gehirn und dem Computer. Meine derzeitigen Experimente sind ein bisschen wie der erste Telegraf im Vergleich zum heutigen Telefon. Wenn Maschinen meine Gedanken lesen könnten, bräuchten wir keine Tastatur mehr am Computer und kein Lenkrad mehr im Auto. Wir könnten auch Gedanken direkt von Mensch zu Mensch übertragen. Wenn mit meinem nächsten Implantat alles glatt geht, werden meine Frau und ich uns ein Jahr später gleichartige Chips einpflanzen lassen und versuchen, die Signale auszutauschen.

SPIEGEL: Eine Form von Telepathie?

Warwick: Ja, mit der Hilfe von Technik. Wie Menschen heute miteinander kommunizieren, das ist so langsam und fehleranfällig. Unser Gehirn denkt mit elektrischen Signalen, die für eine Unterhaltung zeitraubend und mechanisch in Schallwellen umgewandelt werden müssen. Das ist furchtbar. Wenn es die Hirnkopplung schon gäbe, könnten wir dieses Interview in Sekunden über das Internet abwickeln.


ELEKTRISCHES DAUERFEUER

Taube können mit Neuroprothesen wieder hören, Querschnittgelähmte können wieder laufen. Lernen die Bioingenieure, die Sprache des Gehirns zu verstehen? Dann könnte der Computer auch mitdenken und mitfühlen.

Manche der Wunder, mit denen Jesus seine Anhänger in Erstaunen setzte, haben aufgehört, welche zu sein.
Da gibt es jetzt einen ziemlich zähen Typen aus Frankreich: Marc Merger. Der Straßburger Lebemann war 1990 mit seinem Wagen in einen Graben gerast. Er wachte querschnittgelähmt aus dem Koma auf und blieb neun Jahre lang an den Rollstuhl gefesselt. Seit einigen Monaten trippelt er wieder über einen Krankenhausflur der Universitätsklinik Montpellier.

Nicht göttliche Kraft richtete den 38jährigen Wirtschaftsdozenten auf, sondern das elektrische Dauerfeuer aus einer Neuroprothese. Über einen Siliziumchip gelangen die computergenerierten Stromimpulse in jene Nervenbahnen, die Mergers Gang steuern.

Sobald der Patient das Computerprogramm "Gehen" startet, liefert der Rechner die entsprechende Abfolge von Kommandos. Zuerst lösen die Steuerimpulse die steifen Muskeln um das Knie. Sodann heben sie das rechte Bein an, wobei sie gleichzeitig den Fuß hochziehen, damit er nicht über den Boden schleift. Dann schieben die Stromstöße die Hüfte nach vorn und senken das Bein wieder ab. Danach folgt dieselbe Sequenz für das linke Bein. "Was für ein wunderbares Gefühl", jubelte Merger bei seinem ersten Gehversuch.


Der französische Patient ist eine Art Vorläufer des Maschinenwesens Cyborg: ein Mensch aus Fleisch, Blut und Silizium mit hohem maschinellen Anteil. Der Computer hat einen Teil der motorischen Steuerung von Mergers Gehirn übernommen.

"Bei dieser Technik werden derzeit nur Muskeln stimuliert, und dazu ist ein vergleichsweise einfaches elektronischen Reizmuster nötig", erklärt Klaus-Peter Koch, der beim Fraunhofer-Institut für Biomedizintechnik in St. Ingbert die Nervenverschaltung für das Ärzteteam aus Montpellier mitentwickelt hat.

Testkandidat Merger muss einiges aushalten. Noch sind die Impulse so stark dosiert, dass seine Muskeln schon nach 20 Metern erschöpft sind. Außerdem benötigt Merger eine Gehhilfe. Denn die Steuerzentrale Gehirn ist nicht in der Lage, das Gleichgewicht zu halten. Dafür braucht es eine Rückmeldung aus dem Bein, in welcher Position es sich gerade befindet. Das scheitert jedoch am durchtrennten Rückenmarksnerv. Ein künstliches Feedback lässt der derzeitige Forschungsstand nicht zu: Die fürs Gleichgewicht nötigen sensorischen Informationen sind kaum erforscht.

Vor einem ähnlichen Problem stehen auch noch alle Forschergruppen, die an einer Neuroprothese für den Arm arbeiten: Sie können die Muskeln schon recht gut ansteuern. Doch ohne den Tastsinn greift die Hand viel zu fest nach einem Gegenstand. Und wenn der dann noch heiß ist, wird das fehlende Fingerspitzengefühl zur Gefahr. Kein Sensor kann bei diesem Sinneseindruck Alarm im Gehirn schlagen, damit die Hand loslässt.

Immer noch gibt das Gesamtsystem der menschlichen Sensorik den Forschern Rätsel auf. Welche Botschaften im neuronalen Netz des Menschen ausgetauscht werden, wenn er mit seinen Fingern eine Tischplatte ertastet; was im Hirn passiert, wenn er sich an einer Blumenwiese ergötzt oder wenn im dichten Nervengestrüpp des Hirns eine neue Vokabel abgespeichert wird: Bei allen diesen höchst wundersamen Vorgängen fallen so riesige Datenmengen an, dass die Wissenschaftler noch nicht im Entferntesten hinter den Code gekommen sind.

Auch wenn der Code des Nervensystems ein Rätsel bleibt, fest steht immerhin eines: "Alle Informationen werden auf die gleiche Art und Weise übertragen, nämlich als elektrochemischer Reiz", sagt Erwin Neher, Professor am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen.

Eine Zelle regt die nächste an, einen Impuls loszufeuern, und so pflanzt sich das Signal durch die Nervenbahnen fort. Das elektrische Signal breitet sich in Form von geladenen Natrium- oder Kaliumionen über winzige Kanäle durch die Zellmembran aus. "Ein einzelnes Ion braucht nur den Bruchteil einer Sekunde, um aus der Zelle hinaus- oder in sie hineinbefördert zu werden", erklärt Neher, der für die Entdeckung dieser wenige Nanometer kleinen Ionenkanäle 1991 den Nobelpreis erhielt.

Damit war gleichsam der Übertragungsweg der Hirnsprache entdeckt, nicht aber ihr Inhalt. Neurowissenschaftler in aller Welt sind nun angetreten, dem Hirn noch weitere Geheimnisse zu entlocken. Bei der Wahl ihrer Mittel sind sie bisweilen wenig zimperlich. So werden Katzen oder Schimpansen Elektroden in bestimmte Hirnregionen eingepflanzt, um ankommende Nervenimpulse zu messen. Schonender gelingt es mit funktionellen Kernspintomografen oder Elektroenzephalografen, den Stromfluss im Hirn von außen her zu registrieren. Geht es aber genau um die Stelle, an welcher der Computer an den Nerv angeklemmt werden soll, müssen die Forscher schon direkt an den Zellen horchen.

Den ersten Lauschposten dieser Art konstruierte der Münchner Biophysiker Peter Fromherz, Leiter der Abteilung Membran- und Neurophysik am Max-Planck-Institut für Biochemie. Fromherz züchtete Anfang der neunziger Jahre die Nervenzelle eines Blutegels auf einem Computerchip. Der blutsaugende Wurm besitzt im Vergleich zu Säugetieren verhältnismäßig große Nervenzellen, die leichter auf dem Chip platzierbar sind.

Zehn Jahre später hat Fromherz es immerhin geschafft, zwei Schneckenneuronen auf einem Chip zu züchten und die beiden Zellen über einen synaptischen Kontakt miteinander zu verbinden und zu belauschen. Solche Ergebnisse ernüchterten Fromherz. Die Vorstellung von kompletten Neurocomputern und Hirnprothesen hält er angesichts des in seinen Augen schwachen Forschungsstandes "für absurdes Zeug".

Von diesem pessimistischen Resümee lassen sich andere Forscher nicht entmutigen. "Intelligenz kommt erst im Netzwerk vieler Neuronen zu Stande", erklärt Axel Lorke, Physiker am "Center for Nano Science" (CeNS) der Universität München. "Deshalb müssen wir einen ganzen Verbund von Nervenzellen belauschen."

Im Reinraum des Instituts hat Lorke mit einem fünfköpfigen Forschungsteam einen Chip entworfen, auf dem einige dutzend Rattenhirnzellen Platz haben. Sie wachsen auf 26 Halbleiterbahnen, die einander im rechten Winkel kreuzen und eine Art Schachbrettmuster ergeben.

"An den 169 Kreuzungspunkten können elektrische Impulse aufgezeichnet werden", sagt Lorke. Im Computer laufen die Daten aus dem Mikrochip ein. Am Bildschirm können die Münchner Forscher nun verfolgen, wie sich ein Signal durch den Zellverband ausbreitet und die Information sich organisiert.

Einen ersten Erfolg bei der Suche nach der Intelligenz im neuronalen Netzwerk erzielte William Ditto, Leiter der Abteilung für angewandte Chaos-Forschung am amerikanischen Georgia Institute of Technology. In Dittos Forschungslabor gelang es, fünf lebende Neuronen von Blutegeln mit elektronischen Bauteilen aus Silizium zu verbinden. Dann verschaltete der Forscher sie mit einem handelsüblichen Computer, woraufhin das Zellnetz die Zahlen drei und fünf richtig zusammenzählen konnte.

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine ist nicht nur eine Frage der richtigen Software. Es warten noch viele handwerkliche Probleme auf ihre Lösung. "Der Organismus mag eigentlich gar nicht gern, wenn man ihm einen Chip unterschieben will", musste CeNS-Forscher Axel Lorke erfahren. "Er wehrt sich erst einmal mit einer Entzündung." An die Stelle, wo der Fremdkörper sitzt, wird eine ganze Armada von Abwehrzellen entsandt, die an der Oberfläche des Siliziumchips gleichsam anfangen zu knabbern.

Der Organismus von Marc Merger bediente sich eines anderen Tricks, um das Implantat zu neutralisieren. Nach der Einpflanzung wucherte Bindegewebe rund um die Elektroden. Fraunhofer-Forscher Koch: "Eine hervorragende Isolationsschicht der Natur."

Damit hatte der Organismus vorübergehend die Forscher ausgetrickst: Solange das Bindegewebe den Chip einkapselte, herrschte zwischen Mensch und Maschine Funkstille.

08.05.2000
chartgranate:

fett grün für informativ!! o.T.

 
10.02.02 14:31
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