SPIEGEL ONLINE - 10. Juni 2003, 8:37
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Wall-Street-Ausblick
Schizophrenes Zocken
Von Marc Pitzke, New York
Nach einer Rekordwoche hat der Dow gestern an Dampf verloren. Die Wall Street stochert mehr denn je im Kaffeesatz: Wohin geht der zyklische Trend, wie stabil sind die Kursgewinne, wo sind die Bullen? Sowohl Optimisten wie auch Skeptiker sehen sich von den jüngsten Wirtschaftsdaten und Finanzdeals in ihren widersprüchlichen Prognosen bestätigt.
New York - "Schizo·phrenie, die; ...ien: 1. Bewusstseinsspaltung. 2. innere Widersprüchlichkeit, absurdes Verhalten." So weit der Duden. Schizophrenie ist dieser Tage aber auch eine korrekte Diagnose der Börsenstimmung in New York. Nichts drückt dies besser aus als die Schlagzeile des "Wall Street Journal", die den Brokern und Bankern hier gestern auf den Frühstückstisch flatterte: "Arbeitslosigkeit auf höchstem Stand seit 1994 - Grund zur Hoffnung."
Die "Hoffnung" hinter der neuen Rekordquote von 6,1 Prozent, erläuterten die Kaffeesatz-Deuter des "Wall Street Journals" weiter unten im Artikel, zehre aus mehreren, dem Laien verbogenen Umständen: Der Arbeitsmarkt sei nicht ganz "so schwach wie erwartet", die durchschittliche Wochenarbeitszeit in der US-Industrie sei von 40,1 auf 40,2 Stunden angestiegen (IG Metall, aufgepasst!), und die Zahlen basierten auf kürzlich revidierten Erhebungsmethoden. Außerdem sei die Arbeitslosenquote bekanntlich nur ein "hinkender" Indikator: Sie nehme Auf- und Abschwünge nicht voraus, sondern sei deren Resultat.
Na also: Selbst in schlechten Nachrichten lassen sich gute entdecken, wenn man nur lange genug hinstarrt.
Leider funktioniert dieses Motto auch andersrum. Und so pendelt die Wall Street weiter zwischen heiß und kalt, Bullen und Bären, opti- und pessimistisch. Dem Jubel der letzten Woche, als der Dow erstmals seit Juli 2002 wieder die 9000-Hürde nahm, folgte gestern gleich wieder der Blues mit dem flauen Endwert 8980. Aufsehen erregende, ganzseitige Anzeigen in der "New York Times" und dem "Wall Street Journal", in denen die Firmen Boeing (mutmaßliche Wettbewerbsverstöße) und Martha Stewart Living Omnimedia (Mauschel-Anklage gegen die Haushalts-Queen) gestern um Ruf und Kunden kämpften, förderten die Investoren-Zuversicht auch nicht gerade: "Wir sind nicht perfekt", schreibt Boeing-Chef Phil Condit.
Die echten Bullen rennen in Pamplona
Am Ende bleibt dem Börsianer nur übrig, dem Instinkt des exzentrischen Milliardärs George Soros zu folgen. Der, so berichtet sein Sohn Robert, richte seine Anlagestrategie nach dem Auf und Ab seiner Rückenschmerzen: "Das hat nichts mit Vernunft zu tun. Er kriegt einen Krampf, und das ist dann das auslösende Warnzeichen."
Psychosomatisches Zocken: Was soll man sonst auch halten von den uneinheitlichen Analysen der Gurus? Kein Zweifel, zyklisch gesehen geht es ja wieder aufwärts an der US-Börse, wenn auch zäh und entgegen der Stimmung in vielen Meinungsumfragen. "Früher maßen die wirtschaftlichen Erdbeben Stärke 6 auf der Richter-Skala", sagt Donald Ratajczak von der Georgia State University. "Jetzt sind es höchstens noch 3." Genug gejammert, findet auch Harvard-Professor Jeffrey Frankel: "Die Leute sind vom Boom der neunziger Jahre verwöhnt, die haben ganz vergessen, wie eine Rezession wirklich aussieht."
Doch wie stabil, wie breit, wie zuverlässig ist der grobe Trend auf lange Sicht? Wirtschaftsindikatoren zeigen mal hierhin, mal dorthin. "Sowas gab's selten", staunt selbst Ökonom Robert Hall von der Stanford University. "Ein bisschen nervös bin ich schon, da wir noch keine großen Verbesserungen gesehen haben", sagt Steven DeSanctis (Prudential Financial). Dem widerspricht Christ Pummer ("Marketwatch.com"): "Ein Bulle stolziert durch die Wall Street."
Kluge Aufsätze über die Unberechenbarkeit des Marktes füllen ganze Bibliotheken. Doch selten war an der Wall Street das Rätselraten, die Suche nach dem gemeinsamen Nenner, größer als in diesen Tagen. Das New Yorker Wetter und das Baseballteam der Mets seien zuverlässiger, seufzte Moderator David Faber im TV-Wirtschaftssender CNBC gestern, müde im Sportteil der "New York Times" blätternd. Dann schnitt die Regie zu einem Video-Clip vom echten Stiertreiben in Pamplona. Da stolzierten die Bullen nicht, sie trampelten.
Freud hätte an der Wall Street seine Freude
Doch welche Bullen kommen an der Wall Street vorbei? Die kleineren, riskanten Small-Cap-Werte ("Wall Street Journal", Seite C1)? Oder eher doch nicht die kleineren, riskanteren Small-Cap-Werte ("Wall Street Journal", Seite C8)? Pharma und Biotech, mit ihren neuen Krebsmitteln letzte Woche noch die gehypten Hoffnungsträger, doch jetzt schon wieder auf der Abstiegsliste (die Biotech-Indizes von Amex und Nasdaq fielen gestern um 4,4 und 3,3 Prozent)? Silicon Valley, dessen Aktien von den Konzern-News der Woche durchs Wechselbad gezogen werden (Oracles Griff nach dem Rivalen PeopleSoft, Motorolas Verluste durch Sars)?
Was die 5,1-Milliarden-Dollar-Attacke von Oracle-Chef Larry Ellison zu bedeuten hat, darüber zerbrechen sich die Experten sowieso die Köpfe. Die einen wittern das Symptom einer vor dem Platzen stehenden Hightech-Börsenblase. Die anderen ein Menetekel für neue Mega-Deals. Wieder andere den Anfang vom Ende des Silicon Valleys - darunter Ellison selbst, der nur die Großen überleben sieht. Und mindestens einer, der düpierte PeopleSoft-CEO Craig Conway, hält die Übernahme-Offerte seines früheren Bosses Ellison einfach nur für das "scheußlich schlechte Benehmen" eines "Soziopathen". Schizophrenie, Psychosomatik, Soziopathie: Freud hätte an der Wall Street seine Freude.
Anlässe, auch in dieser Woche hin- und herzuintepretieren, gibt es reichlich. Am Mittwoch veröffentlich die US-Notenbank ihre Wirtschaftsstudie "Beige Book", in denen die Börsianer fleißig nach Anzeichen suchen werden, ob die Fed bei ihrer nächsten Sitzung am 25. Juni die Leizzinsen senken wird. (Für die meisten ist die Frage längst nicht mehr "ob", sondern "um wie viel".) Am Donnerstag stehen die Mai-Verkaufszahlen für den Einzelhandel an (Prognose: bescheiden positiv), am Freitag die April-Handelsbilanz und die Verbraucherpreise. Hinzu kommen diverse Redetermine der finanzpolitischen Titanen, darunter am Mittwoch einer von Fed-Chef Alan Greenspan, diesmal vor dem Energieausschuss des Repräsentantenhauses in Washington.
All das, sagt Princeton-Professor Daniel Kahnemann, gebe Investoren "die Illusion von Kontrolle". Doch börsentreibende News und die Ranküne der dahinter steckenden Köpfe - Terror, Sars, Larry Ellison, Martha Stewart - ließen sich eben nur schlecht vorhersagen.
Das lasse einem nur den Sprung ins kalte Wasser, weiß der New Yorker Investment-Manager und Finanzprofessor Nassim Taleb. Dessen Risikofond Empirica Capital spekuliert nicht mit den Zyklen der Konjunktur, sondern mit dem Unvorhersehbaren und Schockierenden. Denn letzten Endes, sagt der Börsen-Ketzer, den der "New Yorker" wegen seiner kontroversen Thesen zum "Martin Luther" der Wall Street ernannt hat, könne man sich nur auf eines verlassen: "reines Glück".
mfG: Speculator