Dienstag, 18. September 2001
Entscheidung vertagt
Auslieferung oder "Heiliger Krieg"
aus
www.n-tv.deDie in Afghanistan regierenden radikal-islamischen Taliban bereiten die Bevölkerung auf einen "Heiligen Krieg" vor. Gleichzeitig stellen sie offenbar umfangreiche Bedingungen für eine eventuelle Auslieferung des Topterroristen Osama bin Laden. Über den Forderungskatalog berichten am Dienstag pakistanische Zeitungen und Regierungskreise in Islamabad.
Dazu soll die internationale Anerkennung des Taliban-Regimes in Kabul gehören. Ferner verlangten die Taliban, dass bin Laden in einem neutralen Land der Prozess gemacht wird und dass die UN-Strafmaßnahmen gegen Afghanistan aufgehoben werden. Eine weitere Bedingung sei, dass das Ausland keine Waffen mehr an die gegnerische Nordallianz liefere, die etwa zehn Prozent des Territoriums beherrscht. Die Taliban verlangten zudem ausländische Wirtschaftshilfe für ihr Herrschaftsgebiet.
Entsprechende Überlegungen seien Gegenstand der Gespräche gewesen, die am Montag eine pakistanische Regierungsdelegation mit Taliban-Vertretern geführt hätten, hieß es in Islamabad. Die Gespräche fanden in der südafghanischen Stadt Kandahar statt, wo die Taliban ihr Hauptquartier unterhalten. Die pakistanische Delegation verlangte von den Taliban eine Auslieferung bin Ladens und erklärten, dass andernfalls mit einem US-Vergeltungsangriff auf Afghanistan gerechnet werden muss.
Die amtliche Nachrichtenagentur Bachtar veröffentlichte am Dienstag einen Aufruf der Taliban-Führung an die Bevölkerung und alle Moslems des Landes. "Wenn Amerika unser Haus angreift, dann müssen alle Moslems, vor allem die Afghanen, einen heiligen Krieg führen", erklärte Mullah Mohammed Hasan Achund. Der von den USA gesuchte Osama bin Laden werde zu Unrecht für die Terroranschläge von New York und Washington verantwortlich gemacht, so der stellvertretende Taliban-Führer.
Berichte, wonach der Heilige Krieg bereits ausgerufen sei, dementierte Mullah Hasan. "Nur wenn" die USA angriffen, würden die Afghanen einen "heiligen Krieg" führen wie seinerzeit gegen die Sowjetunion. Eine Entscheidung über die Notwendigkeit des "Heiligen Krieges" (Dschihad) und auch über die Angelegenheit Osama bin Laden würde im Rat der Geistlichen diskutiert, teilte ein Taliban-Sprecher nach Angaben der afghanischen Nachrichtenagentur AIP mit.
Die Ulema sollte ursprünglich bereits am Montagabend zusammentreten; das Treffen wurde aber am Dienstag um 24 Stunden verschoben. Es seien noch nicht alle Delegationen eingetroffen, berichtete AIP.
Parallel zu dem Treffen der etwa 1.000 Islamgelehrten und Stammesältesten versucht eine pakistanische Delegation, mit der Taliban-Regierung in Kabul über eine Auslieferung bin Ladens zu verhandeln. Pakistan versucht, Afghanistan von der Gefahr eines bevorstehenden Krieges zu überzeugen, der die gesamte Region schwächen würde.
Die Taliban-Regierung gewährt dem aus Saudi-Arabien stammenden Islamisten bin Laden nach eigenen Angaben "Gastrecht" und lehnte bisher alle Auslieferungsersuchen kategorisch ab. US-Präsident George Bush hatte am Montag gesagt, er wolle bin Laden "tot oder lebendig".
Zehntausende Afghanen auf der Flucht
Aus Furcht vor einem Vergeltungsschlag der USA sind nach Informationen des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR unterdessen Zehntausende Afghanen auf der Flucht. Sie seien in Richtung Pakistan und Iran unterwegs, teilte ein UNHCR-Sprecher in Pakistan mit.
Etwa die Hälfte der Bewohner der Stadt Kandahar, wo das Hauptquartier der Taliban liegt, hätten die Stadt bereits verlassen. Auch aus Kabul und Dschalalabad würden die Menschen in Scharen fliehen, berichtet das UNHCR unter Berufung auf Augenzeugen. Die meisten Menschen flüchten offenbar aufs Land zu Verwandten.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) schätzt, dass angesichts des jahrelangen Bürgerkriegs und einer anhaltenden Dürre im kommenden Winter bis zu vier Millionen Menschen in Afghanistan von Hunger bedroht sind. Allein in Kabul sind mehr als 750.000 Menschen auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Alle Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen haben Kabul vergangene Woche angesichts eines drohenden US-Angriffs verlassen.
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