Die schamlosen Chefs
Gier, Korruption, Betrug: Warum es gut ist, wenn die Aktien fallen
Von Marc Brost
Manchmal will einer nur provozieren - und trifft doch die Wahrheit. "Korruption und Gier an der Wall Street haben das Klima vergiftet", warnt Barton Biggs, Chefstratege der amerikanischen Investmentbank Morgan Stanley. Er entwirft ein Schreckensbild: In den kommenden drei Jahren falle der Dow Jones auf ein Fünftel des heutigen Werts, aufgebrachte Aktionäre verklagten Vorstände, Fondsmanager oder Wertpapieranalysten, und sollte es überhaupt gelingen, das Vertrauen der Anleger wiederzugewinnen, dann dauere das länger als eine Generation.
Die Börsen in Europa und Amerika taumeln von einem Tiefstand zum nächsten. Der Deutsche Aktienindex hat seit Jahresbeginn mehr als elf Prozent verloren. An der New Yorker Technologiebörse Nasdaq sanken die Kurse in sechs Monaten um dramatische 25 Prozent. Allein in Deutschland vernichtete der Aktiensturz in diesem Jahr fast 100 Milliarden Euro. Inzwischen ist der Kauf amerikanischer Blue Chips riskanter als der Erwerb einer nordsibirischen Unternehmensanleihe. Die Börsianer erleben keinen schwarzen Freitag, sie durchleiden schwarze Wochen. Denn selbst bei guten Wirtschaftsdaten kennen die Kurse nur eine Richtung: nach unten. Die amerikanische Arbeitslosenquote ist besser als erwartet? Der Dow Jones fällt. Das US-Wirtschaftswachstum ist erstaunlich stark? Die deutschen Aktien folgen den amerikanischen in die Trostlosigkeit.
Jahresgehalt: 40 Millionen
Schon ist vom Kasino der Kurse die Rede, von Spekulanten, die Aktien erst steil nach oben jagten, um sie jetzt nach unten zu prügeln - ohne Rücksicht auf ahnungslose Kleinanleger, die dabei den letzten Pensionsgroschen verlieren. Doch die Wahrheit ist grausamer: Am Finanzmarkt geht es so vernünftig zu wie schon lange nicht mehr. Und die Kurse sind noch gar nicht tief genug gesunken.
Mit einem Mal wird klar, dass die Börse nicht unter den geplatzten Träumen der New Economy leidet. Es sind vielmehr die alten Probleme des Kapitalismus in seiner Rohform: Gier, Maßlosigkeit und Vertrauensbruch.
Da kassiert Dennis Kozlowski, der umjubelte Chef des amerikanischen Mischkonzerns Tyco International, ein Gehalt von mehr als 40 Millionen Dollar - und weil das nicht reicht, hinterzieht er angeblich noch Steuern. Der Staatsanwalt ermittelt, die Tyco-Aktien stürzen ab. Da führt Bernie Ebbers, der Exchef des US-Telefonriesen Worldcom, sein Unternehmen an den Abgrund - und genehmigt sich einen 400-Millionen-Dollar-Kredit aus der Firmenkasse.
Da verschleiern die Manager des texanischen Energieriesen Enron über Jahre die wahre Finanzlage ihres Konzerns und kassieren - kurz bevor sie die größte Pleite der Wirtschaftsgeschichte eingestehen - mal eben noch 1,1 Milliarden Dollar. Da schreiben Wirtschaftsprüfer lieber Gefälligkeitsgutachten, als einen Kunden zu verlieren. Da bejubeln Analysten der Investmentbank Merrill Lynch in offiziellen Studien eine Aktie als "klaren Kauf", weil das dem Arbeitgeber wertvolle Aufträge sichert, und verraten nur intern, was sie wirklich davon halten - "a piece of shit". Bis Ende März mussten sich in den Vereinigten Staaten schon mehr als 60 börsennotierte Unternehmen wegen des Verdachts auf Bilanzfälschung verantworten.
Binnen sechs Monaten hat sich das Bild des Kapitalmarktes radikal gewandelt. Was rechtfertigt die Machtfülle in der Hand eines Chief Executive Officers, wenn er sie dazu einsetzt, sich schamlos zu bereichern? Wem hilft der Glaube an die langfristige Überlegenheit der Aktie, wenn Analysten, Wirtschaftsprüfer und Investmentbanker die Zahlen so lange schönreden, bis der Börsenkurs erst explodiert und dann zusammenfällt?
Dabei geht es in erster Linie nicht darum, wie viele Manager sich zu viel Geld in die Tasche steckten. Und es ist im Grunde auch unerheblich, ob nun zwei Analysten ihre Studien manipulierten oder 22. Vielmehr konnten sich Gier, Korruption und Betrug nur ausbreiten, weil alle Beteiligten vorgaben, genauestens kontrolliert zu werden. Kaum ein Unternehmen, dass sich nicht selbst Regeln zur Unternehmensführung und -kontrolle, der corporate governance, gegeben hat. Aber sie waren ihre eigenen Kontrolleure. Kaum ein Wertpapierhaus, das nicht auf einen freiwilligen Verhaltenskodex seiner Investmentbanker verweisen kann. Alles Fassade. Die Scharaden blieben unentdeckt, solange die Kurse stiegen und jeder kräftig Geld verdiente.
"Gier ist gut", dröhnte der Spekulant Gordon Gekko alias Michael Douglas schon 1988 im Kinohit Wall Street. Seine Rolle wurde stilbildend für eine ganze Generation junger Börsianer. Für die geprellten Privatanleger des Jahres 2002 klingt das wie Hohn. Was ist von Politikern zu halten, die ihre Wähler auffordern, mehr Geld in Aktien und Fonds zu stecken, weil die staatliche Rente allein nicht ausreiche? Kein Wunder, dass selbst bei positiven Meldungen jetzt die Kurse krachen. Die guten Nachrichten könnten ja gefälscht sein. Das Vertrauen in den Anstand der Unternehmensvorstände ist gebrochen, auch in Deutschland. Die "ehrbaren Kaufleute" des Mittelstands - es gibt sie ja - werden in Mitschuld genommen; dabei sind sie die Leidtragenden.
Falsches Vorbild Amerika
Doch aus der Glaubwürdigkeitskrise wächst die Vernunft. Enttäuschte und betrogene Anleger wollen zu Recht wieder Fakten sehen - also tatsächliche Gewinne, keine Prognosen. Und gemessen daran, sind zahlreiche Aktienkurse immer noch zu hoch. Ganz gleich, wie tief die Börse bereits gestürzt ist.
Als der amerikanische Notenbankchef Alan Greenspan im Dezember 1996 das erste Mal vom "irrationalen Überschwang" der Börsen sprach, stand der Dow Jones bei 6500 Punkten - gut ein Drittel niedriger als heute. Warum sollte er nicht wieder dort landen? Falls in den globalisierten großen Aktiengesellschaften nicht der Weg zurück zur Bilanzwahrheit und -klarheit gefunden wird, geht es weiter bergab.
Ein modernes Wirtschafts- und Finanzsystem basiert auf der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen, und es braucht gleichzeitig ein verlässliches Regelwerk, das für alle gilt. Die Gier Einzelner hat diesen Rahmen gesprengt. Das ist nicht neu. Spekulationswellen und Vertrauenskrisen hat es immer gegeben, 1929 mündete der Börsenkrach gar in die Große Depression. Doch danach wurde in Amerika die Bilanzprüfung eingeführt und wenig später auch die Börsenaufsicht gegründet.
Heute werden Reformen zwar diskutiert, doch in den Vereinigten Staaten sperren sich die Unternehmen gegen jede Verschärfung der Aufsicht. Nahezu alle Gesetzesvorhaben, die nach der Enron-Pleite auf den Weg gebracht wurden, sind versandet. Die Europäer starren gebannt darauf, was die Amerikaner jetzt tun, um dann dem Vorbild zu folgen. So hat es der Alte Kontinent zuletzt immer gehalten: Bei der Frage, nach welchen Prinzipien man ein Unternehmen führt, und bei den Managergehältern. Das Vorbild war falsch.
Kein deutscher Aktionär wird künftig klaglos ein zweistelliges Millionengehalt des Vorstandschefs akzeptieren, wenn der Börsenwert des Unternehmens schwächelt. Kein Politiker kann die Augen schließen, wenn die Börse als wichtigste Finanzierungsquelle der Unternehmen ausfällt. Das sind die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft. Es gibt sie, aber es dauert eine Weile, bis sie greifen. Es dauerte fast 30 Jahre, bis der amerikanische Aktienmarkt den Stand von 1929 wieder erreichte.
(c) DIE ZEIT 25/2002
Gier, Korruption, Betrug: Warum es gut ist, wenn die Aktien fallen
Von Marc Brost
Manchmal will einer nur provozieren - und trifft doch die Wahrheit. "Korruption und Gier an der Wall Street haben das Klima vergiftet", warnt Barton Biggs, Chefstratege der amerikanischen Investmentbank Morgan Stanley. Er entwirft ein Schreckensbild: In den kommenden drei Jahren falle der Dow Jones auf ein Fünftel des heutigen Werts, aufgebrachte Aktionäre verklagten Vorstände, Fondsmanager oder Wertpapieranalysten, und sollte es überhaupt gelingen, das Vertrauen der Anleger wiederzugewinnen, dann dauere das länger als eine Generation.
Die Börsen in Europa und Amerika taumeln von einem Tiefstand zum nächsten. Der Deutsche Aktienindex hat seit Jahresbeginn mehr als elf Prozent verloren. An der New Yorker Technologiebörse Nasdaq sanken die Kurse in sechs Monaten um dramatische 25 Prozent. Allein in Deutschland vernichtete der Aktiensturz in diesem Jahr fast 100 Milliarden Euro. Inzwischen ist der Kauf amerikanischer Blue Chips riskanter als der Erwerb einer nordsibirischen Unternehmensanleihe. Die Börsianer erleben keinen schwarzen Freitag, sie durchleiden schwarze Wochen. Denn selbst bei guten Wirtschaftsdaten kennen die Kurse nur eine Richtung: nach unten. Die amerikanische Arbeitslosenquote ist besser als erwartet? Der Dow Jones fällt. Das US-Wirtschaftswachstum ist erstaunlich stark? Die deutschen Aktien folgen den amerikanischen in die Trostlosigkeit.
Jahresgehalt: 40 Millionen
Schon ist vom Kasino der Kurse die Rede, von Spekulanten, die Aktien erst steil nach oben jagten, um sie jetzt nach unten zu prügeln - ohne Rücksicht auf ahnungslose Kleinanleger, die dabei den letzten Pensionsgroschen verlieren. Doch die Wahrheit ist grausamer: Am Finanzmarkt geht es so vernünftig zu wie schon lange nicht mehr. Und die Kurse sind noch gar nicht tief genug gesunken.
Mit einem Mal wird klar, dass die Börse nicht unter den geplatzten Träumen der New Economy leidet. Es sind vielmehr die alten Probleme des Kapitalismus in seiner Rohform: Gier, Maßlosigkeit und Vertrauensbruch.
Da kassiert Dennis Kozlowski, der umjubelte Chef des amerikanischen Mischkonzerns Tyco International, ein Gehalt von mehr als 40 Millionen Dollar - und weil das nicht reicht, hinterzieht er angeblich noch Steuern. Der Staatsanwalt ermittelt, die Tyco-Aktien stürzen ab. Da führt Bernie Ebbers, der Exchef des US-Telefonriesen Worldcom, sein Unternehmen an den Abgrund - und genehmigt sich einen 400-Millionen-Dollar-Kredit aus der Firmenkasse.
Da verschleiern die Manager des texanischen Energieriesen Enron über Jahre die wahre Finanzlage ihres Konzerns und kassieren - kurz bevor sie die größte Pleite der Wirtschaftsgeschichte eingestehen - mal eben noch 1,1 Milliarden Dollar. Da schreiben Wirtschaftsprüfer lieber Gefälligkeitsgutachten, als einen Kunden zu verlieren. Da bejubeln Analysten der Investmentbank Merrill Lynch in offiziellen Studien eine Aktie als "klaren Kauf", weil das dem Arbeitgeber wertvolle Aufträge sichert, und verraten nur intern, was sie wirklich davon halten - "a piece of shit". Bis Ende März mussten sich in den Vereinigten Staaten schon mehr als 60 börsennotierte Unternehmen wegen des Verdachts auf Bilanzfälschung verantworten.
Binnen sechs Monaten hat sich das Bild des Kapitalmarktes radikal gewandelt. Was rechtfertigt die Machtfülle in der Hand eines Chief Executive Officers, wenn er sie dazu einsetzt, sich schamlos zu bereichern? Wem hilft der Glaube an die langfristige Überlegenheit der Aktie, wenn Analysten, Wirtschaftsprüfer und Investmentbanker die Zahlen so lange schönreden, bis der Börsenkurs erst explodiert und dann zusammenfällt?
Dabei geht es in erster Linie nicht darum, wie viele Manager sich zu viel Geld in die Tasche steckten. Und es ist im Grunde auch unerheblich, ob nun zwei Analysten ihre Studien manipulierten oder 22. Vielmehr konnten sich Gier, Korruption und Betrug nur ausbreiten, weil alle Beteiligten vorgaben, genauestens kontrolliert zu werden. Kaum ein Unternehmen, dass sich nicht selbst Regeln zur Unternehmensführung und -kontrolle, der corporate governance, gegeben hat. Aber sie waren ihre eigenen Kontrolleure. Kaum ein Wertpapierhaus, das nicht auf einen freiwilligen Verhaltenskodex seiner Investmentbanker verweisen kann. Alles Fassade. Die Scharaden blieben unentdeckt, solange die Kurse stiegen und jeder kräftig Geld verdiente.
"Gier ist gut", dröhnte der Spekulant Gordon Gekko alias Michael Douglas schon 1988 im Kinohit Wall Street. Seine Rolle wurde stilbildend für eine ganze Generation junger Börsianer. Für die geprellten Privatanleger des Jahres 2002 klingt das wie Hohn. Was ist von Politikern zu halten, die ihre Wähler auffordern, mehr Geld in Aktien und Fonds zu stecken, weil die staatliche Rente allein nicht ausreiche? Kein Wunder, dass selbst bei positiven Meldungen jetzt die Kurse krachen. Die guten Nachrichten könnten ja gefälscht sein. Das Vertrauen in den Anstand der Unternehmensvorstände ist gebrochen, auch in Deutschland. Die "ehrbaren Kaufleute" des Mittelstands - es gibt sie ja - werden in Mitschuld genommen; dabei sind sie die Leidtragenden.
Falsches Vorbild Amerika
Doch aus der Glaubwürdigkeitskrise wächst die Vernunft. Enttäuschte und betrogene Anleger wollen zu Recht wieder Fakten sehen - also tatsächliche Gewinne, keine Prognosen. Und gemessen daran, sind zahlreiche Aktienkurse immer noch zu hoch. Ganz gleich, wie tief die Börse bereits gestürzt ist.
Als der amerikanische Notenbankchef Alan Greenspan im Dezember 1996 das erste Mal vom "irrationalen Überschwang" der Börsen sprach, stand der Dow Jones bei 6500 Punkten - gut ein Drittel niedriger als heute. Warum sollte er nicht wieder dort landen? Falls in den globalisierten großen Aktiengesellschaften nicht der Weg zurück zur Bilanzwahrheit und -klarheit gefunden wird, geht es weiter bergab.
Ein modernes Wirtschafts- und Finanzsystem basiert auf der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen, und es braucht gleichzeitig ein verlässliches Regelwerk, das für alle gilt. Die Gier Einzelner hat diesen Rahmen gesprengt. Das ist nicht neu. Spekulationswellen und Vertrauenskrisen hat es immer gegeben, 1929 mündete der Börsenkrach gar in die Große Depression. Doch danach wurde in Amerika die Bilanzprüfung eingeführt und wenig später auch die Börsenaufsicht gegründet.
Heute werden Reformen zwar diskutiert, doch in den Vereinigten Staaten sperren sich die Unternehmen gegen jede Verschärfung der Aufsicht. Nahezu alle Gesetzesvorhaben, die nach der Enron-Pleite auf den Weg gebracht wurden, sind versandet. Die Europäer starren gebannt darauf, was die Amerikaner jetzt tun, um dann dem Vorbild zu folgen. So hat es der Alte Kontinent zuletzt immer gehalten: Bei der Frage, nach welchen Prinzipien man ein Unternehmen führt, und bei den Managergehältern. Das Vorbild war falsch.
Kein deutscher Aktionär wird künftig klaglos ein zweistelliges Millionengehalt des Vorstandschefs akzeptieren, wenn der Börsenwert des Unternehmens schwächelt. Kein Politiker kann die Augen schließen, wenn die Börse als wichtigste Finanzierungsquelle der Unternehmen ausfällt. Das sind die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft. Es gibt sie, aber es dauert eine Weile, bis sie greifen. Es dauerte fast 30 Jahre, bis der amerikanische Aktienmarkt den Stand von 1929 wieder erreichte.
(c) DIE ZEIT 25/2002