HANDELSBLATT, Montag, 19. Juni 2006, 10:09 Uhr |
Konjunkturtheorie Die Nicht-Ölkrise Von Olaf Storbeck Immer mehr Ökonomen kommen inzwischen zu dem Schluss, dass die Wirtschaftswissenschaft die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Energiepreise jahrzehntelang überschätzt hat.DÜSSELDORF. Die „neue Ölkrise“ hat es in die Boulevard-Blätter und Illustrierten geschafft. „Der neue Ölpreis-Hammer, es wird teurer, teurer, immer nur teurer“, klagt die „Bild“-Zeitung. Der „Stern“ sieht das „Volk am Tropf“ und berichtet über Angst, „die steigenden Energiepreise könnten die flotte Konjunktur abwürgen“. Willkommen im Herbst des Jahres 2000. Schon vor knapp sechs Jahren hielt die Entwicklung der Rohstoffpreise die Republik in Atem. Kein Wunder, hatte sich der Ölpreis doch innerhalb von weniger als 24 Monaten verdreifacht – von 10 auf 30 US-Dollar pro Barrel. Der Liter Normalbenzin kostete 1,96 D-Mark, aus Protest blockierten Autofahrer vereinzelt sogar Tankstellen. „Das geht ans Eingemachte“, stöhnte ein Pendler im „Spiegel“. Volkswirte zogen Parallelen zu den siebziger Jahren und taxierten die Schmerzgrenze für die Konjunktur auf etwa 40 Dollar pro Barrel. Heute, sechs Jahre später, kostet das Barrel Rohöl über 65 Dollar, der Liter Normalbenzin 1,33 Euro – umgerechnet also rund 2,60 DM. Die Konjunktur läuft trotzdem gut. Keine Spur von einer „Stagflation“ wie in den siebziger Jahren – einer Situation, in der die Arbeitslosigkeit hoch ist, die Inflation aber im Zuge steigender Ölpreise anzieht. Eine Entwicklung, die kaum ein Experte vorausgeahnt hat – die Volkswirte der Deutschen Bank sprechen inzwischen vom „Ölpreis-Rätsel“. Immer mehr Ökonomen kommen inzwischen zu dem Schluss: Die Wirtschaftswissenschaft hat die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Energiepreise jahrzehntelang überschätzt. „Ölpreisschocks haben nur moderate Folgen für die gesamtwirtschaftliche Produktion“, lautet das Fazit einer OECD-Studie. Lesen Sie weiter auf Seite 2: „Es macht immer Spaß, die Geschichte umzuschreiben.“-->Mehrere in den letzten Jahren erschienene Studien stellen sogar ernsthaft in Frage, ob die massiven Ölpreisanstiege in den siebziger Jahren überhaupt für die damalige Wirtschaftskrise verantwortlich waren. „Die Ölpreisschocks sind weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung zur Erklärung der Stagflation“, schreiben Robert Barsky und Lutz Kilian von der University of Michigan im renommierten „Journal of Economic Perspectives“. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Bislang galt der kausale Zusammenhang zwischen Ölpreisschock und Wirtschaftskrise nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern auch in wirtschaftswissenschaftlichen Fachkreisen als gesichertes Wissen. Die neuen Studien haben zumindest in Teilen der Disziplin zu einem Umdenken geführt. „Die Arbeiten von Barsky und Kilian waren einflussreich“, meint zum Beispiel der US-Notenbankchef Ben Bernanke. Allerdings gibt es auch Zweifler: „Es macht immer Spaß, die Geschichte umzuschreiben“, schreibt der renommierte MIT-Makroökonom Olivier Blanchard mit Blick auf die Arbeiten von Barsky und Kilian. „Mich überzeugt ihre These aber nicht.“ Dabei führen die beiden Forscher aus Michigan gleich mehrere Argumente an. Zum einen sei bereits Anfang der siebziger Jahre in den Industrieländern die Inflation auf breiter Front gestiegen – bevor sich die Ölkrise von 1973 überhaupt abzeichnete. „Diese Preissteigerungen stehen in keinem Zusammenhang mit Angebotsschocks auf den Rohstoffmärkten, sondern mit einem durch die Geldpolitik beflügelten Wirtschaftsboom“, schreiben Barsky und Kilian. Zudem habe es seit 1970 fünf Ölpreisschocks gegeben – doch nur zweimal habe es danach auch Stagflation gegeben. In einem theoretischen Modell zeigen die Makroökonomen, dass die Wirtschaftskrisen der siebziger Jahre durch eine andere Geldpolitik fast vollständig hätten verhindert werden können – wenn die Notenbanken früher und härter gegen die Inflationstendenzen vorgegangen wären. „Die Stagflation war in allererster Linie ein monetäres Phänomen“, lautet das Ergebnis von Barsky und Kilian. Das in den siebziger Jahren viel diskutierte Dilemma der Geldpolitik sei in Wirklichkeit gar keines gewesen. Denn eine entschlossene Inflationsbekämpfung hätte – anders als damals angenommen – keine negativen Wachstumswirkungen gehabt. Daraus leiten sie die These ab: „Ölpreisanstiege führen heute wahrscheinlich nicht zu einer Wiederkehr der Stagflation – solange sich die US-Notenbank eine übermäßig expansive Geldpolitik verkneift.“ Lesen Sie weiter auf Seite 3: „Der Zusammenhang zwischen Ölpreisen und der Kerninflation ist in den Industrieländern schwächer geworden.“-->Eine ähnliche Position vertritt der IWF-Ökonom Benjamin Hunt in einer Ende 2005 veröffentlichten Studie. Hunt analysierte die Wirkungen von Ölpreisschocks in einem neuen, komplexen weltwirtschaftlichen Simulationsmodell. „Die Ergebnisse sprechen dafür, dass der Anstieg der Energiepreise allein nicht die in den siebziger Jahren weit verbreitete Stagflation erklären kann“, schreibt er. Welchen Schaden die Gesamtwirtschaft nimmt, hänge von den Reaktionen der Verbraucher und Notenbanken ab. Ernsthafte makroökonomische Probleme entstünden erst dann, wenn die Haushalte nicht bereit wären, den mit steigenden Energiekosten verbundenen Rückgang ihres Realeinkommens zu akzeptieren – und wenn eine zu laxe Geldpolitik eine Lohn-Preis-Spirale zulasse. „In einem solchen Fall können Energiepreis-Anstiege der Auslöser für eine Stagflation sein“, lautet das Fazit. Allerdings dürfte die Gefahr, dass dies passiert, heutzutage deutlich geringer sein als vor 30 Jahren – nicht nur, weil die Notenbanken strenger darüber wachen, dass Zweitrunden-Effekte ausbleiben. Höhere Ölpreise scheinen schon in der ersten Runde weniger stark auf das Preisniveau durchzuschlagen als früher. So stellt die OECD fest: „Der Zusammenhang zwischen Ölpreisen und der Kerninflation ist in den Industrieländern schwächer geworden.“ |