Die mysteriöse vierte Maschine
Von Carsten Volkery, New York
Von den vier Terrormaschinen ist eine besonders geheimnisvoll: Das Flugzeug, das in Pennsylvania in ein Feld gestürzt ist. Wo wollte es hin? Wie kam es runter? Und was passierte in der Kabine?
REUTERS Wo sollte sie hin?
Warum stürzte sie ab? Die United Airlines-Maschine, die nahe Pittsburgh abstürzte
New York/Washington - Bis die US-Luftfahrtbehörde den bereits gefundenen Flugschreiber ausgewertet hat, sind nur zwei Dinge sicher: Das Ziel der gekaperten United-Airlines-Maschine mit der Flugnummer 093 war nicht San Francisco, wie auf den Flugscheinen angegeben. Ebenso wenig war es das offene Feld bei Shanksville, 80 Meilen südöstlich von Pittsburgh, wo die abstürzende Maschine einen riesigen Krater hinterließ.
Wo sollte es einschlagen? Darüber wird in den USA heftig spekuliert. Das eigentliche Ziel der vierten Maschine sei Camp David gewesen, hieß es zunächst. Der Landsitz der US-Präsidenten, an dem wichtige Verträge ausgehandelt worden sind, liegt 85 Meilen entfernt. Dann erwogen Pittsburgher Zeitungen in einem Anfall von lokaler Hybris, Pittsburgh selbst stünde nun auf einer Stufe mit New York und Washington. Wahrscheinlich zu Recht verwarfen die Redakteure diese Idee wieder: Warum Pittsburgh? Inzwischen hat sich die Meinung durchgesetzt, die Terroristen hätten ein weiteres Ziel in Washington im Auge gehabt - das Kapitol oder das Weiße Haus.
Haben US-Jäger die Maschine abgeschossen?
Auch ist umstritten, wer die Maschine zum Absturz gebracht hat. Waren es US-Kampfflugzeuge? Das Pentagon bestreitet dies vehement. Die "Washington Post" berichtet unter Berufung auf Insider, die Regierung habe zumindest überlegt, das Flugzeug abzuschießen.
Die US-Medien bevorzugen inzwischen eine andere Version: Demnach haben die Passagiere, namentlich eine Gruppe ehemaliger Football-Spieler, die Entführer angegriffen. In dem entstehenden Chaos sei die Maschine abgestürzt. Die Präsidentin des Roten Kreuzes spricht bereits von "den ersten Helden im neuen Krieg gegen den Terrorismus".
Drei Handy-Anrufe aus dem Flugzeug belegen diese Theorie. Offiziell ist sie aber noch nicht. Das FBI und die Luftfahrtbehörde halten sich bedeckt. Man wolle die Ermittlungen nicht gefährden, heißt es. Doch anhand der Augenzeugenberichte haben Reporter den Vorgang vom vergangenen Dienstag teilweise rekonstruiert.
Die Rekonstruktion
Die arabischen Namen auf den Fluglisten - Grundlage aller Recherchen
8.01 Uhr: Die Maschine startet in Newark bei New York. Zwei Piloten steuern die Boeing 757 mit 38 Passagieren und fünf Flugbegleitern an Bord. Unter den Passagieren sind nach Angaben des FBI vier Terroristen. Die Augenzeugen im Flugzeug sehen nur drei. Die Entführer sind mit Messern bewaffnet und tragen rote Stirnbänder. Einer hat einen Gürtel mit einer roten Box umgeschnallt. Das sei eine Bombe, erklärt er den Passagieren.
Die Entführer zwingen die Piloten aus dem Cockpit und teilen die Flugzeuginsassen in zwei Gruppen. 27 Passagiere müssen in der ersten Klasse hinter dem Cockpit bleiben, die restlichen Passagiere sowie die Flugbegleiter werden ans andere Ende des Flugzeugs verfrachtet. Sie sitzen auf dem Boden. Der Mann mit der Bombe bewacht die hintere Gruppe, zwei Terroristen sind im Cockpit, die Tür ist geschlossen. Der vierte Terrorist muss auch noch irgendwo stecken, die Augenzeugen, die allesamt im hinteren Teil sind, sehen ihn jedoch nicht.
Was die Piloten angeht, widersprechen sich die Augenzeugen. Einer behauptet, sie seien mit im hinteren Teil. Ein anderer gibt an, er wisse nicht, wo sie seien, bei ihm im hinteren Teil jedenfalls nicht.
"Wir werden etwas unternehmen"
Nach 9 Uhr: Thomas Burnett, ein 38-jähriger Geschäftsmann aus der hinteren Gruppe, ruft seine Frau Deena an. Insgesamt viermal. Beim ersten Mal beschreibt er die Entführer und erzählt, dass ein Mann niedergestochen worden sei. Er sagt ihr, sie solle die Behörden informieren. Sie erzählt ihm, dass das World Trade Center attackiert wurde. Er ist überrascht. Danach ruft er noch mal an: Der verwundete Mann sei tot. Einige Passagiere würden "etwas unternehmen".
Circa 9:35 Uhr: Jeremy Glick, ein 31-jähriger Verkaufsleiter bei einer Technologiefirma, ruft seine Frau Lyzbeth an. Sie reden 30 Minuten miteinander. Die letzten zwanzig Minuten nimmt das FBI auf Band auf. Sie erzählt ihm vom World Trade Center. Glick sagt, er wolle mit einigen anderen Passagieren das Cockpit stürmen und die Entführer überwältigen. Glick, ein erfahrener Judoka, sitzt in der hinteren Gruppe. Von dort aus sind es 34 Meter bis nach vorne - durch den engen Mittelgang.
9:44 Uhr: Mark Bingham, ein 31-jähriger PR-Manager, ruft bei seiner Tante an. Er spricht mit ihr und seiner Mutter. Er sagt nichts über einen Plan, die Entführer anzugreifen. Bingham, ein früherer Football-Spieler, sitzt auch in der hinteren Gruppe.
9:45 Uhr: Todd Beamer, ein 32-jähriger Oracle-Mitarbeiter, benutzt das im Sitz eingebaute Telefon und ruft die Telefonistin Lisa Jefferson an. Er sagt, sie wollten die Entführer angreifen. Er bittet Jefferson, seiner Frau und seinen zwei Kindern auszurichten, dass er sie liebe. Dann betet er zusammen mit Jefferson den 23. Psalm.
Zu diesem Zeitpunkt macht das Flugzeug scharfe Kurven. Westen, Norden, Westen, Süden, Richtung Washington.
Circa 10:00 Uhr: Lyzbeth Glick hört durch das Telefon Lärm und Schreie. Dann ist die Leitung tot. Lisa Jefferson hört Beamers letzte Worte: "Seid ihr fertig? Und los." Es folgen Schreie, Minuten später ist auch diese Leitung tot. Die Maschine schwankt hin und her, zeitweise fliegt sie auf dem Kopf, berichten Augenzeugen am Boden. Dann schlägt sie auf dem Feld bei Shanksville ein. Die Spur der Verwüstung ist fünf Meilen lang.
Krater als "Denkmal für Heldentum"
Am Donnerstag nach dem Crash fanden die Ermittler den Flugschreiber der UA 093, am Tag danach die Tonbandaufzeichnung aus dem Cockpit. Die Luftfahrtbehörde untersucht derzeit die beiden Black Boxes. Das FBI erhofft sich vor allem Aufschluss über das Ziel der Terroristen.
Die Auswertung könnte die Theorie der Helden an Bord erhärten. Und selbst wenn nicht: Für die Menschen in Pennsylvania ist klar, dass die Passagiere Schlimmeres verhindert haben. Senator Arlen Specter will ihnen postum die Freiheitsmedaille verleihen. Und auch Pennsylvanias Gouverneur Tom Ridge würdigte die Gestorbenen bereits, bevor die Untersuchung abgeschlossen war: "Was aussieht wie ein Loch im Boden, ist in Wahrheit ein Denkmal für Heldentum".
© SPIEGEL ONLINE 2001
Von Carsten Volkery, New York
Von den vier Terrormaschinen ist eine besonders geheimnisvoll: Das Flugzeug, das in Pennsylvania in ein Feld gestürzt ist. Wo wollte es hin? Wie kam es runter? Und was passierte in der Kabine?
REUTERS Wo sollte sie hin?
Warum stürzte sie ab? Die United Airlines-Maschine, die nahe Pittsburgh abstürzte
New York/Washington - Bis die US-Luftfahrtbehörde den bereits gefundenen Flugschreiber ausgewertet hat, sind nur zwei Dinge sicher: Das Ziel der gekaperten United-Airlines-Maschine mit der Flugnummer 093 war nicht San Francisco, wie auf den Flugscheinen angegeben. Ebenso wenig war es das offene Feld bei Shanksville, 80 Meilen südöstlich von Pittsburgh, wo die abstürzende Maschine einen riesigen Krater hinterließ.
Wo sollte es einschlagen? Darüber wird in den USA heftig spekuliert. Das eigentliche Ziel der vierten Maschine sei Camp David gewesen, hieß es zunächst. Der Landsitz der US-Präsidenten, an dem wichtige Verträge ausgehandelt worden sind, liegt 85 Meilen entfernt. Dann erwogen Pittsburgher Zeitungen in einem Anfall von lokaler Hybris, Pittsburgh selbst stünde nun auf einer Stufe mit New York und Washington. Wahrscheinlich zu Recht verwarfen die Redakteure diese Idee wieder: Warum Pittsburgh? Inzwischen hat sich die Meinung durchgesetzt, die Terroristen hätten ein weiteres Ziel in Washington im Auge gehabt - das Kapitol oder das Weiße Haus.
Haben US-Jäger die Maschine abgeschossen?
Auch ist umstritten, wer die Maschine zum Absturz gebracht hat. Waren es US-Kampfflugzeuge? Das Pentagon bestreitet dies vehement. Die "Washington Post" berichtet unter Berufung auf Insider, die Regierung habe zumindest überlegt, das Flugzeug abzuschießen.
Die US-Medien bevorzugen inzwischen eine andere Version: Demnach haben die Passagiere, namentlich eine Gruppe ehemaliger Football-Spieler, die Entführer angegriffen. In dem entstehenden Chaos sei die Maschine abgestürzt. Die Präsidentin des Roten Kreuzes spricht bereits von "den ersten Helden im neuen Krieg gegen den Terrorismus".
Drei Handy-Anrufe aus dem Flugzeug belegen diese Theorie. Offiziell ist sie aber noch nicht. Das FBI und die Luftfahrtbehörde halten sich bedeckt. Man wolle die Ermittlungen nicht gefährden, heißt es. Doch anhand der Augenzeugenberichte haben Reporter den Vorgang vom vergangenen Dienstag teilweise rekonstruiert.
Die Rekonstruktion
Die arabischen Namen auf den Fluglisten - Grundlage aller Recherchen
8.01 Uhr: Die Maschine startet in Newark bei New York. Zwei Piloten steuern die Boeing 757 mit 38 Passagieren und fünf Flugbegleitern an Bord. Unter den Passagieren sind nach Angaben des FBI vier Terroristen. Die Augenzeugen im Flugzeug sehen nur drei. Die Entführer sind mit Messern bewaffnet und tragen rote Stirnbänder. Einer hat einen Gürtel mit einer roten Box umgeschnallt. Das sei eine Bombe, erklärt er den Passagieren.
Die Entführer zwingen die Piloten aus dem Cockpit und teilen die Flugzeuginsassen in zwei Gruppen. 27 Passagiere müssen in der ersten Klasse hinter dem Cockpit bleiben, die restlichen Passagiere sowie die Flugbegleiter werden ans andere Ende des Flugzeugs verfrachtet. Sie sitzen auf dem Boden. Der Mann mit der Bombe bewacht die hintere Gruppe, zwei Terroristen sind im Cockpit, die Tür ist geschlossen. Der vierte Terrorist muss auch noch irgendwo stecken, die Augenzeugen, die allesamt im hinteren Teil sind, sehen ihn jedoch nicht.
Was die Piloten angeht, widersprechen sich die Augenzeugen. Einer behauptet, sie seien mit im hinteren Teil. Ein anderer gibt an, er wisse nicht, wo sie seien, bei ihm im hinteren Teil jedenfalls nicht.
"Wir werden etwas unternehmen"
Nach 9 Uhr: Thomas Burnett, ein 38-jähriger Geschäftsmann aus der hinteren Gruppe, ruft seine Frau Deena an. Insgesamt viermal. Beim ersten Mal beschreibt er die Entführer und erzählt, dass ein Mann niedergestochen worden sei. Er sagt ihr, sie solle die Behörden informieren. Sie erzählt ihm, dass das World Trade Center attackiert wurde. Er ist überrascht. Danach ruft er noch mal an: Der verwundete Mann sei tot. Einige Passagiere würden "etwas unternehmen".
Circa 9:35 Uhr: Jeremy Glick, ein 31-jähriger Verkaufsleiter bei einer Technologiefirma, ruft seine Frau Lyzbeth an. Sie reden 30 Minuten miteinander. Die letzten zwanzig Minuten nimmt das FBI auf Band auf. Sie erzählt ihm vom World Trade Center. Glick sagt, er wolle mit einigen anderen Passagieren das Cockpit stürmen und die Entführer überwältigen. Glick, ein erfahrener Judoka, sitzt in der hinteren Gruppe. Von dort aus sind es 34 Meter bis nach vorne - durch den engen Mittelgang.
9:44 Uhr: Mark Bingham, ein 31-jähriger PR-Manager, ruft bei seiner Tante an. Er spricht mit ihr und seiner Mutter. Er sagt nichts über einen Plan, die Entführer anzugreifen. Bingham, ein früherer Football-Spieler, sitzt auch in der hinteren Gruppe.
9:45 Uhr: Todd Beamer, ein 32-jähriger Oracle-Mitarbeiter, benutzt das im Sitz eingebaute Telefon und ruft die Telefonistin Lisa Jefferson an. Er sagt, sie wollten die Entführer angreifen. Er bittet Jefferson, seiner Frau und seinen zwei Kindern auszurichten, dass er sie liebe. Dann betet er zusammen mit Jefferson den 23. Psalm.
Zu diesem Zeitpunkt macht das Flugzeug scharfe Kurven. Westen, Norden, Westen, Süden, Richtung Washington.
Circa 10:00 Uhr: Lyzbeth Glick hört durch das Telefon Lärm und Schreie. Dann ist die Leitung tot. Lisa Jefferson hört Beamers letzte Worte: "Seid ihr fertig? Und los." Es folgen Schreie, Minuten später ist auch diese Leitung tot. Die Maschine schwankt hin und her, zeitweise fliegt sie auf dem Kopf, berichten Augenzeugen am Boden. Dann schlägt sie auf dem Feld bei Shanksville ein. Die Spur der Verwüstung ist fünf Meilen lang.
Krater als "Denkmal für Heldentum"
Am Donnerstag nach dem Crash fanden die Ermittler den Flugschreiber der UA 093, am Tag danach die Tonbandaufzeichnung aus dem Cockpit. Die Luftfahrtbehörde untersucht derzeit die beiden Black Boxes. Das FBI erhofft sich vor allem Aufschluss über das Ziel der Terroristen.
Die Auswertung könnte die Theorie der Helden an Bord erhärten. Und selbst wenn nicht: Für die Menschen in Pennsylvania ist klar, dass die Passagiere Schlimmeres verhindert haben. Senator Arlen Specter will ihnen postum die Freiheitsmedaille verleihen. Und auch Pennsylvanias Gouverneur Tom Ridge würdigte die Gestorbenen bereits, bevor die Untersuchung abgeschlossen war: "Was aussieht wie ein Loch im Boden, ist in Wahrheit ein Denkmal für Heldentum".
© SPIEGEL ONLINE 2001