Die letzten fünf Minuten

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vega2000:

Die letzten fünf Minuten

 
03.05.02 09:32
(SZ) Die Bayern erobern in der eigenen Hälfte den Ball. Effenberg. Hat jetzt viel Platz, Rostock steht nur noch hinten drin. Immer noch Effenberg. Effenbeeerg, aufpassen jetzt da hinten! Das gibt’s doch nicht, warum greift den denn keiner an? – Eine gute Frage. Warum greift niemand Effenberg an? Es ist der letzte Moment, um Effenberg anzugreifen. Es geht um alles oder nichts, um die Deutschen und deren Meister. Darf das Effenberg sein? Fragen Sie mal die Arbeitslosen. Nur noch fünf Minuten zu spielen an diesem Samstag, in dieser Fußballsaison. Und niemand greift Effenberg an.

Jetzt endlich versucht Leverkusen was, sie waren ja wie gelähmt das ganze Spiel über. Ballack treibt das Leder nach vorne, er weiß, viel Zeit ist nicht mehr. Oooch, klasse, Ballack lässt die halbe Berliner Abwehr ins Leere laufen. Das ist Weltklasse, Weltklasse! Nun schieß aber auch, schieß doch, schieß! Mein Gott, Ballack, warum schießt du nicht? – Warum sollte er? Ballack hat genug geschossen in dieser Saison, aus allen Lagen. Er hat außerdem den Kopf benutzt, lange und kurze Pässe gespielt, er hat gedribbelt, dirigiert, gefoult, gekämpft. Immer, wenn Leverkusen ihn brauchte, war er da. Mittwoch, Samstag, Mittwoch. Woche für Woche. Hin- und Rückspiel. Das muss reichen. Sollen doch die anderen auch mal. Nein. Ballack schießt nicht. Diesmal nicht. – 68500 Zuschauer im Dortmunder Westfalenstadion warten auf das erlösende Tor. Im Moment wäre Borussia Meister, aber noch sind fünf Minuten zu spielen. Wenn in München oder Leverkusen ein Tor fällt, ist der Traum vom Titel ausgeträumt. Fünf Minuten können eine Ewigkeit sein. – Können sie nicht! Fünf Minuten sind fünf Minuten sind fünf Minuten. In fünf Minuten kann man ein Haus einreißen oder ein weiches Ei kochen. In fünf Minuten kann man die Welt verändern oder sie lassen, wie sie ist. In fünf Minuten kann man ein Pils trinken und sich damit abfinden, dass alles so gekommen ist, noch ehe man rülpst. In fünf Minuten sind alle Spiele aus. Na und? – So etwas habe ich noch nicht erlebt. Auf allen Plätzen ist Ruh’. Ich kann hier auf meinen Monitoren die Spiele in München, Leverkusen und Dortmund verfolgen. Effenberg steht da, den Fuß auf dem Ball. Keiner greift ihn an. Ballack schießt nicht. In Dortmund warten alle gelangweilt auf ein Tor. Ja, will denn niemand Meister werden?

Endlich haben Sie es begriffen. Niemand will mehr Deutscher Meister werden. Lassen Sie sich doch mal durch diese Nervenmühle drehen, Jahr für Jahr. Psychokrimi, Herzschlagfinale, Last-Minute-Meister, dieser ganze Mist. Meinen Sie vielleicht, das macht irgendjemandem Spaß? Glauben Sie das wirklich? – Ah, in München tut sich was. Effenberg stürmt los. Rostock reagiert nicht. Sieht fast so aus, als würde Effenberg lächeln. 16 Meter noch. Effenberg! Effe schiiiießt!


Quelle:Süddeutsche Zeitung
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