Die Bush-Doktrin
Da sage noch einer, heute würden keine ewigen Wahrheiten mehr formuliert. Wie wäre es zum Beispiel mit dieser: "Dass es keinen Beweis für etwas gibt, ist noch lange kein Beweis dafür, dass es das auch nicht gibt". Oder ein anderer Satz: "Es gibt Gefahren, von denen man noch nicht einmal weiß, dass man nichts von ihnen weiß." Ausgesprochen hat sie Ende letzter Woche kein Philosophieprofessor, nicht der Vorsitzende irgendeiner Ethik-Kommission, sondern der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Brüssel vor seinen Amtskollegen aus den Nato-Ländern. Es geht also nicht um Metaphysik, sondern um eine Politik der Stärke gegenüber dem internationalen Terrorismus.
Die Schlussfolgerungen hatte Rumsfelds Dienstherr George W. Bush bereits eine Woche vorher in einer Rede an der Militärakademie West Point bekannt gegeben. Der Krieg gegen den Terror werde nicht durch Abwarten gewonnen, sagte er dort sinngemäß. Man müsse sich den Bedrohungen stellen, noch bevor sie sich herauskristallisieren. Und gegebenenfalls müsse man auch Handeln ohne den letzten Beweis. Die Vereinigten Staaten behielten sich das Recht vor, weltweit jederzeit und überall militärisch einzugreifen, um geplante Terroranschläge vorbeugend zu vereiteln. Pünktlich neun Monate nach dem 11. September wurde die "Bush-Doktrin" geboren. Es ist eine Erstschlagsstrategie, die nur scheinbar noch auf dem Recht zur
Selbstverteidigung fußt.
Bushs Argumentation liegt der Gedanke der Vorbeugung zu Grunde. Einleuchtend und legitim klingt sie nur dem, der darauf verzichtet, die einfachsten, naheliegendsten, notwendigsten Fragen zu stellen. Wer legt zum Beispiel die Kriterien fest, nach denen ein Präventivschlag gerechtfertigt ist? Wer definiert die Angriffsziele? Auf der Basis welcher Informationsquellen? Welche Rolle sollen in diesem Konzept Partner und Verbündete spielen? Werden sie überhaupt noch benötigt? Und wenn ja: wofür?
Nach den Vereinten Nationen wagt man schon gar nicht mehr zu fragen. Man weiß inzwischen, Bush kritisiert die Uno nicht, er ignoriert sie. Was aber passiert, wenn in dem komplexen und komplizierten Beziehungsgeflecht der Weltpolitik andere zu ganz anderen Einsichten und Schlussfolgerungen gelangen?
Gott sei Dank werden diese Fragen auch in den USA selbst gestellt. Der Präsident hat zwar formal das Recht, die Richtung der Politik festzulegen. Aber anschließend übernimmt der erfahrene Apparat die Deutung dessen, was der Chef gemeint haben könnte. Bush hat viele Interpreten. Einige davon werden sich nicht scheuen, seine Worte sogar noch zuzuspitzen. Aber andere, die das Wort Doktrin nicht mit Dogma übersetzen, werden versuchen, den Realitäten gerecht zu werden. Außerdem gibt es noch Technokraten, die, wie es der Vier-Sterne-General Franks im Falle der Irak-Planungen getan hat, nüchtern die Kosten durchrechnen und die Politik dann fragen, ob sie bereit sei, diesen Preis zu zahlen. Bislang ist sie es offenbar nicht. Möglicherweise ist das der Grund für das so auffällig geringe Echo der doch so radikal neuen Bush-Doktrin. Man mag gerade nach den Erfahrungen der letzten Monate ihre Umsetzung für eine eher theoretische Option halten.
Die größte aktuelle Gefahr der Bush-Doktrin geht von dem gefährlichen Beispiel aus, das sie anderen Staaten gibt. Die wenden sie schon fleißig an. Warum soll die Logik des Präsidenten Bush nur für die USA gelten? Israel nimmt sich wie selbstverständlich das Recht heraus, die Kette palästinensischer Selbstmordattentate durch präventive Gewalt wie zum Beispiel den Einmarsch in palästinensische Städte zu unterbrechen. Indien wehrt sich gegen den Einfall moslemischer Terroristen in seinen Teil Kaschmirs durch grenzüberschreitendes Artilleriefeuer auf deren Basen in Pakistan. Pakistan wiederum antwortet darauf mit militärischen "Präventivschlägen", bevor Indiens Ambitionen möglicherweise über Kaschmir hinausgreifen. Noch bevor die USA die Bush-Doktrin auch nur ein einziges Mal angewandt haben, sind ihre verheerenden internationalen Folgen schon für jeden sichtbar.
Noch eine ewige Wahrheit: Man kann aus zutreffenden Prämissen auch falsche Schlussfolgerungen ziehen. Das Recht auf Erstschlag führt, selbstherrlich angewandt, nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu immer mehr immer weniger kontrollierbaren Spannungssituationen. Der Erstschlag ist keine geeignete Krisenprävention. Einseitiges Handeln schafft vielmehr immer neue Konflikte.