INTERVIEW MIT SIPRI-DIREKTORIN ALYSON BAILES
"Deutschland spielt immer noch die unterdrückte Nation"
Die Direktorin des Stockholmer Friedensforschungs-Instituts Sipri, Alyson Bailes, geht mit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik hart ins Gericht. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE verurteilt sie den deutschen Sonderweg in der Irak-Politik und verlangt von den Deutschen eine weitere historische Wende.
SPIEGEL ONLINE: Mrs. Bailes, das amerikanisch-europäische Verhältnis kühlt merklich ab. Warum ist es so schwer, eine gemeinsame Linie zu finden?
Bailes: Spätestens seit dem 11. September ist klar, dass es einen unterschiedlichen Grad an Empfindlichkeit und unterschiedliche Prioritäten gibt, wie auf einen Angriff zu reagieren ist. Die Europäer tendieren nicht zu extremen und schnellen Reaktionen. Die Amerikaner würden sagen, die Europäer antworten schwach und feige. Doch sie haben nur unterschiedliche historische Erfahrungen und anders geartete Instinkte.
SPIEGEL ONLINE: Warum reagieren die Amerikaner nervöser als die Europäer?
Bailes: Amerika ist auf der Höhe seiner Macht. Jegliche Veränderung, jede Einflussnahme, jede Bedrohung der amerikanischen Sicherheit wird in dieser Situation zumindest unbewusst als ein Versuch gewertet, die Supermacht vom Thron zu stoßen. Das war im römischen und im britischen Empire genauso.
SPIEGEL ONLINE: Ist Europa nicht in einer ähnlichen Situation?
Bailes: Nein, weil Europa dabei ist, seine Zukunft mittels einer einzigartigen Integrationsleistung neu zu bauen. Es ist eine Stärke ganz eigener Art, dass Europa andere Staaten zu nichts zwingt, sondern anzieht. Das ist der Stil der Zukunft.
SPIEGEL ONLINE: Von der Einheit Europas ist derzeit nicht viel zu spüren. Während Frankreich und England in der Irak-Frage bisher die Amerikaner unterstützten, will Kanzler Gerhard Schröder seinen deutschen Sonderweg gehen. Wie erklären Sie diese isolationistische Haltung?
Bailes: Es liegt daran, dass die Europäische Union auf rechtlicher Ebene noch der Harmonisierung bedarf. Da Recht und Gesetz Symbole nationaler Identität sind, geben die einzelnen Staaten die Besonderheiten des eigenen Rechtssystems höchst ungern auf.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das auf Deutschland bezogen?
Bailes: Die Etablierung des Rechtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland war Ausdruck der Umwandlung, die Deutschland durchzumachen hatte. Die Deutschen hängen daher auch emotional und moralisch sehr stark an ihren Rechtsprinzipien. Wenn jemand dagegen verstößt, Amerika oder wer auch immer, wird dies in Deutschland zu einer Frage nationaler Identität und nicht so sehr zu einer Frage der Praktikabilität.
SPIEGEL ONLINE: Leidet Deutschland unter einem Nach-Kriegs-Komplex?
Bailes: Das ist kein spezifisch deutsches Problem. Auch nordische Länder haben diesen engen Zusammenhang zwischen ihrem Rechtssystem und ihrer nationalen Unabhängigkeit. Die Finnen etwa hatten große Probleme damit, einer allgemeinen Strafordnung für Terroristen zuzustimmen, weil das ihrem Rechtssystem nicht entsprach.
SPIEGEL ONLINE: Warum folgt der britische Premierminister Tony Blair dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush so kritiklos?
Bailes: Die Klischee-Antwort wäre: Es liegt in der Natur der Briten, Amerika zu folgen. Doch dem ist in Wahrheit nicht so. Das britische Recht unterscheidet sich sehr vom amerikanischen. In Großbritannien gibt es keine Todesstrafe, die Briten wollen im Unterschied zu den Amerikanern den Internationalen Gerichtshof. Doch auch Großbritannien war einmal eine Großmacht, daran gewöhnt, Terrorismus auch außerhalb des eigenen Territoriums zu bekämpfen, etwa in Nordirland, Kenia oder Israel. Und die Briten haben immer noch eine Armee, die weltweit operieren kann. Ähnliches gilt für Frankreich - weshalb Präsident Jacques Chirac näher bei Blair ist als bei Schröder. Blair fühlt sich zudem persönlich für ein gutes amerikanisch-europäisches Verhältnis zuständig. Er will den europäischen Einfluss auf die mächtigen USA nicht verspielen.
SPIEGEL ONLINE: Hat er denn wirklich Einfluss auf die Amerikaner?
Bailes: Blair wird gehört, als Führer einer starken Militärmacht, und weil er den Amerikanern das Gefühl gibt, dass er ihre Überlegungen versteht. Dabei hat er immer wieder auf die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Terrorismus hingewiesen, er hat den moralischen Imperativ hochgehalten, die Leiden in der Dritten Welt zu verringern. Er hat sich für das Kyoto-Abkommen eingesetzt und für den Internationalen Gerichtshof.
SPIEGEL ONLINE: Doch wo bleibt Blairs Erfolg? Die Hardliner um Bush wie Vizepräsident Dick Cheney, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld verfolgen eine hegemoniale Interessenspolitik.
Bailes: Das wird in Teilen der amerikanischen Gesellschaft durchaus kritisiert. Bush habe die Chance verpasst, nicht-militärische Optionen in Betracht zu ziehen. Doch zurzeit ist es schwer zu sagen, was Bush wirklich will. Er wurde am 11. September in eine Rolle gezwungen, die er nicht erwartet hatte. In den ersten 72 Stunden haben wir doch bewundert, wie umsichtig er war.
SPIEGEL ONLINE: Doch dann folgten der Afghanistan-Feldzug, die Rede vom Kreuzzug gegen den Terrorismus, der Begriff von der "Achse des Bösen" und nun ein drohender Krieg gegen den Irak.
Bailes: Wenn man in einer solch dramatischen Situation Entscheidungen treffen muss, wenn die Wirtschaft lahmt, die Nerven blank liegen und alle Ratgeber versuchen, Einfluss zu nehmen, dann ist das ein Alptraum für jeden Führer.
Es ist beachtenswert, dass Bush Standfestigkeit bewiesen hat. Dennoch: Nicht-militärische, humanitäre Mittel zur Bekämpfung des Terrors wurden nicht in dem Maß ausgeschöpft, wie es die Supermacht hätte tun können.
SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie von der These, Bushs Außenpolitik ziele vornehmlich auf die Sicherung der Ölreserven ab?
Bailes: Das ist zu simpel. Wenn das so wäre, würde die USA wohl kaum den Irak bombardieren wollen, denn die Folgen für den Ölpreis sind unvorhersehbar. Das könnte die amerikanische Wirtschaft in eine tiefe Rezession stürzen. Es geht tatsächlich um Sicherheitspolitik, um eine Neugliederung des Nahen Ostens. Bush geht dabei ein hohes Risiko ein: Wenn ein Irak-Feldzug fehlschlägt, sehen die Europäer in ihm nur den Mann mit dem Gewehr, und sein eigenes Volk wird ihm die Verlängerung der Rezession zuschreiben. Ein weiteres Horrorszenario wäre für Bush, wenn Terroristen während des Irak-Kriegs einen schweren Anschlag verübten, und Bush somit offenbar an der falschen Terror-Front kämpfte.
SPIEGEL ONLINE: Kämpft Bush denn an der richtigen Front?
Bailes: Wer versucht, den Terrorismus an einer Front zu bekämpfen, macht definitiv einen Fehler. Vor allem in der europäischen Denke ist doch klar, dass Terror vor allem politische Ursachen hat. Es geht fast immer um die Verteilung politischer Macht, nicht so sehr um ökonomische Prosperität. Die Amerikaner sollten vor allem darauf hinwirken, dass sich die Staaten des Nahen Ostens innenpolitisch reformieren.
SPIEGEL ONLINE: Können Sie einen Krieg gegen den Irak dennoch rechtfertigen?
Bailes: Wenn es zu einem amerikanischen Alleingang ohne rechtliche Grundlage kommen sollte, hat offenbar das Recht des Stärkeren gesiegt. Gewalt als letztes Argument ist nicht der richtige Weg, um Menschen von der Demokratie zu überzeugen. Zudem könnte ein Krieg zu einer Radikalisierung extremistischer Kräfte in den Ländern der arabischen Welt führen. Dieser mögliche Domino-Effekt wird in den USA zu wenig diskutiert.
SPIEGEL ONLINE: Die Amerikaner wünschen sich einen anderen Domino-Effekt: dass nach dem Sturz Saddam Husseins auch andere Diktatoren in der Region gestürzt werden.
Bailes: Ich halte das für wenig wahrscheinlich. Ohne starke nationale Führer entsteht ein Machtvakuum, in dem es nahezu unmöglich ist, die von den USA erwünschten Reformen durchzusetzen.
SPIEGEL ONLINE: Teilen Sie also die bisherige deutsche Verweigerungshaltung?
Bailes: Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, man sollte den Irak unter keinen Umständen angreifen. Wenn die EU und die Vereinten Nationen sich aus guten Gründen und mit einem gangbaren Weg für einen Krieg gegen den Irak entscheiden, kann ich nicht empfehlen, dass die Deutschen sagen: "Ohne uns." Damit würden sie sich marginalisieren.
SPIEGEL ONLINE: Deutsche Soldaten sollen mitmarschieren, damit sich das Land international sehen lassen kann?
Bailes: Für die europäischen Nachbarn ist die deutsche Sicherheitspolitik manchmal schwer nachvollziehbar. Welche Risiken will Deutschland eingehen, welche Opfer ist es bereit, auf sich zu nehmen? England und Frankreich reichen nicht aus, um die Last zu tragen. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte auf mehr als zwei Beinen stehen. Nur mit Deutschlands breiten Schultern sind die Europäer ein starker Partner für die USA und möglicherweise eine Alternative zum amerikanischen Weg.
SPIEGEL ONLINE: Was hindert die Deutschen daran, mehr zu schultern?
Bailes: Deutschland spielt immer noch die unterdrückte Nation, die sie nach dem Krieg war. Die Deutschen müssten eine weitere historische Wende vollziehen hin in die Mitte der Europäischen Union. Deutschland wird bald von Partnern der EU und der Nato eingekreist sein. Da ist es wichtig, dass Deutschland sich für die Interessen Zentral- und Nordeuropas stark macht, sonst werden das bald die Polen machen oder andere. Deutschland sollte eine natürliche Eifersucht gegenüber anderen europäischen Staaten entwickeln, wenn es darum geht, Führungsaufgaben zu übernehmen.
SPIEGEL ONLINE: Genau davor fürchteten sich François Mitterand und Margaret Thatcher nach der Wiedervereinigung.
Bailes: Beide lagen mit ihrer Einschätzung daneben. Die Wiedervereinigung hat Deutschland eher gelähmt. Dies hat sowohl ökonomische als auch psychologische Gründe - jedenfalls bisher.
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"Deutschland spielt immer noch die unterdrückte Nation"
Die Direktorin des Stockholmer Friedensforschungs-Instituts Sipri, Alyson Bailes, geht mit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik hart ins Gericht. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE verurteilt sie den deutschen Sonderweg in der Irak-Politik und verlangt von den Deutschen eine weitere historische Wende.
SPIEGEL ONLINE: Mrs. Bailes, das amerikanisch-europäische Verhältnis kühlt merklich ab. Warum ist es so schwer, eine gemeinsame Linie zu finden?
Bailes: Spätestens seit dem 11. September ist klar, dass es einen unterschiedlichen Grad an Empfindlichkeit und unterschiedliche Prioritäten gibt, wie auf einen Angriff zu reagieren ist. Die Europäer tendieren nicht zu extremen und schnellen Reaktionen. Die Amerikaner würden sagen, die Europäer antworten schwach und feige. Doch sie haben nur unterschiedliche historische Erfahrungen und anders geartete Instinkte.
SPIEGEL ONLINE: Warum reagieren die Amerikaner nervöser als die Europäer?
Bailes: Amerika ist auf der Höhe seiner Macht. Jegliche Veränderung, jede Einflussnahme, jede Bedrohung der amerikanischen Sicherheit wird in dieser Situation zumindest unbewusst als ein Versuch gewertet, die Supermacht vom Thron zu stoßen. Das war im römischen und im britischen Empire genauso.
SPIEGEL ONLINE: Ist Europa nicht in einer ähnlichen Situation?
Bailes: Nein, weil Europa dabei ist, seine Zukunft mittels einer einzigartigen Integrationsleistung neu zu bauen. Es ist eine Stärke ganz eigener Art, dass Europa andere Staaten zu nichts zwingt, sondern anzieht. Das ist der Stil der Zukunft.
SPIEGEL ONLINE: Von der Einheit Europas ist derzeit nicht viel zu spüren. Während Frankreich und England in der Irak-Frage bisher die Amerikaner unterstützten, will Kanzler Gerhard Schröder seinen deutschen Sonderweg gehen. Wie erklären Sie diese isolationistische Haltung?
Bailes: Es liegt daran, dass die Europäische Union auf rechtlicher Ebene noch der Harmonisierung bedarf. Da Recht und Gesetz Symbole nationaler Identität sind, geben die einzelnen Staaten die Besonderheiten des eigenen Rechtssystems höchst ungern auf.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das auf Deutschland bezogen?
Bailes: Die Etablierung des Rechtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland war Ausdruck der Umwandlung, die Deutschland durchzumachen hatte. Die Deutschen hängen daher auch emotional und moralisch sehr stark an ihren Rechtsprinzipien. Wenn jemand dagegen verstößt, Amerika oder wer auch immer, wird dies in Deutschland zu einer Frage nationaler Identität und nicht so sehr zu einer Frage der Praktikabilität.
SPIEGEL ONLINE: Leidet Deutschland unter einem Nach-Kriegs-Komplex?
Bailes: Das ist kein spezifisch deutsches Problem. Auch nordische Länder haben diesen engen Zusammenhang zwischen ihrem Rechtssystem und ihrer nationalen Unabhängigkeit. Die Finnen etwa hatten große Probleme damit, einer allgemeinen Strafordnung für Terroristen zuzustimmen, weil das ihrem Rechtssystem nicht entsprach.
SPIEGEL ONLINE: Warum folgt der britische Premierminister Tony Blair dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush so kritiklos?
Bailes: Die Klischee-Antwort wäre: Es liegt in der Natur der Briten, Amerika zu folgen. Doch dem ist in Wahrheit nicht so. Das britische Recht unterscheidet sich sehr vom amerikanischen. In Großbritannien gibt es keine Todesstrafe, die Briten wollen im Unterschied zu den Amerikanern den Internationalen Gerichtshof. Doch auch Großbritannien war einmal eine Großmacht, daran gewöhnt, Terrorismus auch außerhalb des eigenen Territoriums zu bekämpfen, etwa in Nordirland, Kenia oder Israel. Und die Briten haben immer noch eine Armee, die weltweit operieren kann. Ähnliches gilt für Frankreich - weshalb Präsident Jacques Chirac näher bei Blair ist als bei Schröder. Blair fühlt sich zudem persönlich für ein gutes amerikanisch-europäisches Verhältnis zuständig. Er will den europäischen Einfluss auf die mächtigen USA nicht verspielen.
SPIEGEL ONLINE: Hat er denn wirklich Einfluss auf die Amerikaner?
Bailes: Blair wird gehört, als Führer einer starken Militärmacht, und weil er den Amerikanern das Gefühl gibt, dass er ihre Überlegungen versteht. Dabei hat er immer wieder auf die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Terrorismus hingewiesen, er hat den moralischen Imperativ hochgehalten, die Leiden in der Dritten Welt zu verringern. Er hat sich für das Kyoto-Abkommen eingesetzt und für den Internationalen Gerichtshof.
SPIEGEL ONLINE: Doch wo bleibt Blairs Erfolg? Die Hardliner um Bush wie Vizepräsident Dick Cheney, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld verfolgen eine hegemoniale Interessenspolitik.
Bailes: Das wird in Teilen der amerikanischen Gesellschaft durchaus kritisiert. Bush habe die Chance verpasst, nicht-militärische Optionen in Betracht zu ziehen. Doch zurzeit ist es schwer zu sagen, was Bush wirklich will. Er wurde am 11. September in eine Rolle gezwungen, die er nicht erwartet hatte. In den ersten 72 Stunden haben wir doch bewundert, wie umsichtig er war.
SPIEGEL ONLINE: Doch dann folgten der Afghanistan-Feldzug, die Rede vom Kreuzzug gegen den Terrorismus, der Begriff von der "Achse des Bösen" und nun ein drohender Krieg gegen den Irak.
Bailes: Wenn man in einer solch dramatischen Situation Entscheidungen treffen muss, wenn die Wirtschaft lahmt, die Nerven blank liegen und alle Ratgeber versuchen, Einfluss zu nehmen, dann ist das ein Alptraum für jeden Führer.
Es ist beachtenswert, dass Bush Standfestigkeit bewiesen hat. Dennoch: Nicht-militärische, humanitäre Mittel zur Bekämpfung des Terrors wurden nicht in dem Maß ausgeschöpft, wie es die Supermacht hätte tun können.
SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie von der These, Bushs Außenpolitik ziele vornehmlich auf die Sicherung der Ölreserven ab?
Bailes: Das ist zu simpel. Wenn das so wäre, würde die USA wohl kaum den Irak bombardieren wollen, denn die Folgen für den Ölpreis sind unvorhersehbar. Das könnte die amerikanische Wirtschaft in eine tiefe Rezession stürzen. Es geht tatsächlich um Sicherheitspolitik, um eine Neugliederung des Nahen Ostens. Bush geht dabei ein hohes Risiko ein: Wenn ein Irak-Feldzug fehlschlägt, sehen die Europäer in ihm nur den Mann mit dem Gewehr, und sein eigenes Volk wird ihm die Verlängerung der Rezession zuschreiben. Ein weiteres Horrorszenario wäre für Bush, wenn Terroristen während des Irak-Kriegs einen schweren Anschlag verübten, und Bush somit offenbar an der falschen Terror-Front kämpfte.
SPIEGEL ONLINE: Kämpft Bush denn an der richtigen Front?
Bailes: Wer versucht, den Terrorismus an einer Front zu bekämpfen, macht definitiv einen Fehler. Vor allem in der europäischen Denke ist doch klar, dass Terror vor allem politische Ursachen hat. Es geht fast immer um die Verteilung politischer Macht, nicht so sehr um ökonomische Prosperität. Die Amerikaner sollten vor allem darauf hinwirken, dass sich die Staaten des Nahen Ostens innenpolitisch reformieren.
SPIEGEL ONLINE: Können Sie einen Krieg gegen den Irak dennoch rechtfertigen?
Bailes: Wenn es zu einem amerikanischen Alleingang ohne rechtliche Grundlage kommen sollte, hat offenbar das Recht des Stärkeren gesiegt. Gewalt als letztes Argument ist nicht der richtige Weg, um Menschen von der Demokratie zu überzeugen. Zudem könnte ein Krieg zu einer Radikalisierung extremistischer Kräfte in den Ländern der arabischen Welt führen. Dieser mögliche Domino-Effekt wird in den USA zu wenig diskutiert.
SPIEGEL ONLINE: Die Amerikaner wünschen sich einen anderen Domino-Effekt: dass nach dem Sturz Saddam Husseins auch andere Diktatoren in der Region gestürzt werden.
Bailes: Ich halte das für wenig wahrscheinlich. Ohne starke nationale Führer entsteht ein Machtvakuum, in dem es nahezu unmöglich ist, die von den USA erwünschten Reformen durchzusetzen.
SPIEGEL ONLINE: Teilen Sie also die bisherige deutsche Verweigerungshaltung?
Bailes: Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, man sollte den Irak unter keinen Umständen angreifen. Wenn die EU und die Vereinten Nationen sich aus guten Gründen und mit einem gangbaren Weg für einen Krieg gegen den Irak entscheiden, kann ich nicht empfehlen, dass die Deutschen sagen: "Ohne uns." Damit würden sie sich marginalisieren.
SPIEGEL ONLINE: Deutsche Soldaten sollen mitmarschieren, damit sich das Land international sehen lassen kann?
Bailes: Für die europäischen Nachbarn ist die deutsche Sicherheitspolitik manchmal schwer nachvollziehbar. Welche Risiken will Deutschland eingehen, welche Opfer ist es bereit, auf sich zu nehmen? England und Frankreich reichen nicht aus, um die Last zu tragen. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte auf mehr als zwei Beinen stehen. Nur mit Deutschlands breiten Schultern sind die Europäer ein starker Partner für die USA und möglicherweise eine Alternative zum amerikanischen Weg.
SPIEGEL ONLINE: Was hindert die Deutschen daran, mehr zu schultern?
Bailes: Deutschland spielt immer noch die unterdrückte Nation, die sie nach dem Krieg war. Die Deutschen müssten eine weitere historische Wende vollziehen hin in die Mitte der Europäischen Union. Deutschland wird bald von Partnern der EU und der Nato eingekreist sein. Da ist es wichtig, dass Deutschland sich für die Interessen Zentral- und Nordeuropas stark macht, sonst werden das bald die Polen machen oder andere. Deutschland sollte eine natürliche Eifersucht gegenüber anderen europäischen Staaten entwickeln, wenn es darum geht, Führungsaufgaben zu übernehmen.
SPIEGEL ONLINE: Genau davor fürchteten sich François Mitterand und Margaret Thatcher nach der Wiedervereinigung.
Bailes: Beide lagen mit ihrer Einschätzung daneben. Die Wiedervereinigung hat Deutschland eher gelähmt. Dies hat sowohl ökonomische als auch psychologische Gründe - jedenfalls bisher.
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