Determinismus und Emanzipation ( langer Text )

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Determinismus und Emanzipation ( langer Text )

 
21.08.01 22:08
von Ernst Lohoff
1.Der Endsieg von Demokratie und Markt faellt mit der Paralyse der warengesellschaftlichen Ordnung zusammen. Im selben historischen Augenblick, in dem die Diktatur der buergerlichen Form allgegenwaertig geworden ist, buesst sie ihre integrative Kraft ein. Die kapitalistische Produktionsweise hoert auf, als Prozess "produktiver Zerstoerung" (Schumpeter) zu funktionieren, und uebrig bleibt die blanke Destruktion. Das Weiterprozessieren der warengesellschaftlichen Logik fuehrt zu wachsender sozialer Entropie und kann letzlich nur im allgemeinen gesellschaftlichen Waermetod enden.

In einer fundamentalen Krise steckt aber nicht nur die herrschende Vergesellschaftungsform; in einem wenig beneidenswerten Zustand befindet sich auch das sytemoppositionelle Denken. Seit ihren Kindertagen hat stets der Traum von einer anderen, besseren Organisation des sozialen Zusammenhangs die Entwicklung der Warengesellschaft begleitet. In den letzten beiden Jahrhunderten bildeten sich immer wieder Stroemungen heraus, die sich daran machten, dieses Ziel auch praktisch umzusetzen. In demselben Masse jedoch, wie das warenproduzierende Weltsystem in seine Absturzphase eintritt und sich die Frage unabweisbar aufdraengt, wie sich die herrschende Vergesellschaftungsform ueberwinden laesst und wie die Menschen ohne den Rueckgriff auf die Medien abstrakter Vermittlung (Geld und Politik) ihren gesellschaftlichen Reproduktionsprozess organisieren koennen, verzweifelt das bisherige gesellschaftskritische Denken an sich selber und streicht die Segel. Ausgerechnet in einer Zeit, in der sich das Desater anbahnt und eine radikale Kritik der Wertvergesellschaftung auf der Tagesordnung stehen muesste, findet sich der Platz der Fundamentalopposition verwaist und der warengesellschaftliche Status quo erscheint als beste oder wenigstens einzig moegliche aller Welten.

Die Doppelkrise von herrschender Gesellschaftsordnung und Gesellschaftskritik hat etwas ueberraschendes. Die Begriffe Krise und Kritik gehen nicht nur etymologisch auf dieselbe Wurzel zurueck, sie sind auch logisch-historisch eng miteinander verknuepft. Die Stunde der Systemkrise muesste eigentlich die Stunde der Systemopposition sein. Wie ist es zu erklaeren, dass sich das in der Umbruchs- und Katastrophenepoche, in die wir eingetreten sind, in sein Gegenteil zu verkehren scheint?

Innerhalb des vertrauten antikapitalistidschen Weltbilds laesst sich diese Frage nicht beantworten. Die Linke, die sich selber zeitlebens fuer den lebendigen Widerspruch zum Kapital gehalten hat, kann sich ihr eigenes Scheitern nur in einer Weise vorstellen: naemlich als Sieg des "Klassenfeindes". Auch die letzten Vertreter des Linksradikalismus kommen von dieser offenbar im "genetischen Code" ihrer aussterbenden Spezies festgelegten Interpretation einfach nicht mehr los, und so ziehen sie sich vor einer Wirklichkeit, die sich nicht nach dem erwarteten Muster richten will, in eine imaginaere Welt zurueck. Wenn die abgehalfterte Opposition schon ihre eigene schlechte Verfassung kaum leugnen kann, so existiert fuer sie wenigstens ex definitione die Krise des Systems auf gar keinen Fall. (1)

Wer das Raetsel der Doppelkrise nicht eskamotieren, sondern loesen will, kommt nicht umhin, einen Standpunktwechsel vorzunehmen. Das Elend der Systemopposition im Epochenbruch laesst sich nur begreifen, wenn wir die linke Innenperspektive verlassen und zu einer Kapitalismuskritik uebergehen, in der die Analyse der Krise der buergerlichen Form mit der Kritik des tradierten systemoppositionellen Paradigmas zusammengedacht wird. Die gleichzeitige Misere von System und Systemopposition verweist auf einen zentralen, fuer die linke Identitaet konstitutiven blinden Fleck. Was zusammen untergeht, gehoert auch zusammen. Wenn die linke Vorstellungswelt mit der Wertlogik obsolet wird, dann nur deshalb, weil sie selber immer im Horizont des nun auseinanderfallenden Formzusammenhangs verblieben ist.

Der gegenwaertige Zustand der oppositionellen Stroemungen gewinnt vor diesem Hintergrund eine ganze, neue ungewohnte Bedeutung. Mit dem Eintritt ins Krisenzeitalter wird nicht die Idee gesellschaftlicher Befreiung schlechthin anachronistisch und weltfremd, wie das die Apologeten von Markt und Demokratie und in ihrem Schlepptau zahlreiche "Ex- und Trotz-Alledem-Linke" annehmen, sondern nur eine spezifische, historisch beschraenkte Form davon. Die Misere der Systemopposition ist einzig und allein die Misere des vertrauten, von der Aufstiegsepoche der Warenform gepraegten Emanzipationsdenkens. Sie kuendet keineswegs von der prinzipiellen Unaufhebbarkeit der herrschenden Verhaeltnisse, sie ist im Gegenteil vielmehr selber ein Moment jenes Zersetzungsprozesses, dem das buergerliche Universum unterliegt. So gesehen dementiert der vollstaendige Bankrott der traditionellen Systemopposition nur auf den ersten Blick den inneren Zusammenhang von Krise und Kritik, um bei naeherem Hinsehen deren Affinitaet zu bestaetigen. Wo nicht mehr Durchsetzungskrisen die kapitalistische Entwicklung kennzeichnen, sondern stattdessen die Fundamente der Wertvergesellschaftung bruechig werden, verliert jene Gesellschaftskritik ihre Konsistenz, die den buergerlichen Formzusammenhang blind mitschleppt. Radikale Kritik muss aber nicht ersatzlos verschwinden. Die doppelte Ent-Taeuschung, die Ent-Taeuschung sowohl ueber die Funktionsfaehigkeit der buergerlichen Ordnung, weckt das Beduerfnis nach neuen, der modernnen Krisenwirklichkeit adaequaten Antworten. Indem sie alle anderen gesellschaftlichen Konzepte desavouriert, bereitet die Erosion der Warengesellschaft den Boden, auf dem die radikale Kritik des buergerlichen Formzusammenhangs keimen und Wurzeln schlagen kann.



2.

Angesichts des time lags, der sich schmerzhaft bemerkbar, kann Gesellschaftskritik nicht unmittelbar neu einsetzen, stur nach vorne blicken und ihre eigene Vergangenheit auf sich beruhen lassen, um als deus ex machina auf die gewandelte historische Buehne zurueckzuspringen. Das unvermittelte Neue ist noch jedesmal das nie so recht gewusste Alte, und wer vorschnell das, was war, beiseite schiebt, wird umso sicherer in abgestorbenen Vorstellungsmustern steckenbeiben. Eine neue fundamentale Kritik der buergerlichen Gesellschaft kann nur zu sich finden, indem sie sich selber geduldig aus den Ueberresten der ueberkommenen Emanzipationsideen herausgeschaufelt und immer wieder realisiert und beseitigt, was sie selber noch an formimmanenten Momenten mitschleppt.

Die Heurausarbeitung einer neuen emanzipativen Perspektive ist also mit der Aufhebung der traditionellen Vorstellungen von Befreiung identisch. Aufhebung ist dabei ganz im klassischen Hegelschen Sinne zu verstehen. Sie bedeutet sowohl den radikalen Bruch mit dem bisherigen Befreiungsdenken als auch in gewisser Weise das Wiederanknuepfen. Wer genauer umreissen will, was Befreiung heute heissen kann und wie sie "strategisch zu denken waere, muss zunaechst einmal lernen, zwei Dinge auseinanderzuhalten: naemlich einerseits alles das, was am tradierten Emanzipationsdenken lediglich als Widerhall der warengesellschaftlichen Aufstiegsdynamik zu verstehen ist und daher in der Absturzepoche seine Daseinsberechtigung verliert, und andererseits die in den verflossenen systemoppositionellen Stroemungen einst mitschwimmenden unaufgehobenen Momente, d.h. den Vorschein einer Kritik der Wert- und Warenform als solcher.

Auf den ersten Blick mutet es vielleicht widersinnig an, mit den ueberlieferten Vorstellungen von Befreiung konsequent brechen zu wollen, weil sie insgesamt dem buergerlichen Formdiktat immanent geblieben seien, und sich dennoch gleichzeitig partiell positv auf die Emanzipationsbewegungen der Vergangenheit zu beziehen. Diese scheinbare Ungereimtheit loest sich allerdings auf, wenn wir uns eines klar machen: Die emanzipativen Bewegungen der Vergangenheit waren nicht von Anfang an stromlinienfoermig in der Wertlogik eingepasst, der Einpassungsprozess hat seine eigene Geschichte.

Die kritische Beschaeftigung mit den Emanzipationsbewegungen der Vergangenheit hat so gesehen natuerlich auch eine archaeologische Seite. Je weiter man in der Historie zurueckgeht, um so deutlichere Spuren einer anderen, nicht system-kompatiblen Opposition lassen sich finden. Die Genossenschaftsbewegung etwa, die in der fruehen Arbeiterbewegung eine grosse Rolle spielte, war urspruenglich keineswegs auf blosse alternative Marktteilnahme ausgerichtet. Sie setzte sich teilweise durchaus das Ziel, die alltaegliche Reproduktion zumindest partiell von Warenbeziehungen freizuhalten und hat damit ein Thema aufgeworfen, das mit der Krise der Warengesellschaft fuer uns heute eine ganz neue Brisanz gewinnt. Aehnliches wie fuer die Frage genossenschaftlicher Kooperation gilt natuerlich auch fuer die uralte Grund- und Bodenfrage. Im Widerstand gegen den Vormarsch der Verwertungslogik wurde dieses Problem in den verschiedensten Weltteilen mehr als einmal virulent. Auf dieses Motiv wird aber auch eine Bewegung zurueckkommen muessen, die sich anschickt, die gesellschaftliche Reproduktion sukzessive aus den Zwaengen der Wertvergesellschaftung herauszuloesen. Die Entkoppelung des Lebens von Staat und Markt ist schliesslich ohne den Kampf fuer die De-Kapitalisierung der allgemeinsten Reproduktionsvoraussetzung, von bebautem und unbebautem Boden, gar nicht denkbar.

Trotz solcher Gemeinsamkeiten waere es aber ein fatales Missverstaendnis, wollte man zwischen den historischen antikapitalistischen Kaempfen, in denen formueberschuessige Aspekte zum Tragen kamen, und einer kuenftigen Aufhebungsbewegung eine alternative Kontinuitaetslinie konstruieren und die Neubestimmung des emanzipativen Ziels als blosse Wiedentdeckung deuten. Wer sich in eine entschwundene Widerstandswelt hineinimaginiert, irgendwelchen "verpassten geschichtlichen Chancen" nachtrauert und in projektiver Beckmesserei die Schlachten der Vergangenheit noch einmal schlagen will, uebersieht etwas Wesentliches: Eine moegliche postwarenfoermige Bewegung kann nur in einem sehr vermittelten Sinn das Erbe vergessener antikapitalistischer Stoemungen antreten, weil sich ihr historischer Kontext grundlegend von dem der Vorgaenger unterscheidet.

Angesichts der mit dem Kollaps der Wertlogik einsetzenden anomischen Prozesse muss fuer uns Nachgeborenen Emanzipation vor allem die Verteidigung des erreichten Vergesellschaftungsniveaus zum Inhalt haben. Die Suche nach Formen alternativer Vergesellschaftung jenseits von Ware und Staat schoepft ihre Legitimation daraus, dass die Herrschaft der Form mit dem von der Produktiventwicklung gesetzten Vernetzungsniveau unvereinbar geworden ist. Bei den Altvorderen finden wir hingegen genau die umgekehrte Bezeihung. Der form-inkompatible Widerstand richtete sich damals gerade gegen die mit der kapitalistischen Logik zusammenfallende Vergesellschaftungsdynamik und blieb in der letzten rueckwaertsgewandten Vorstellung einer "moraleconomy" (Edward Thompson) gefangen. Nur dieser Zusammenhang erklaert denn auch das restlose Verschwinden dieser Ansaetze. Wenn sie sukzessive an Bedeutung verloren, um schliesslich vollends der Dampfwalze der warenfoermigen Modernisierung zum Opfer zu fallen, dann nur deshalb, weil ein wesentlich von der Rueckerinnerung an vorkapitalistische Formen von Gemeinschaft getragener Widerstand nicht in der Lage war, Konzepte alternativer Gesellschaftlichkeit hervorzubringen, die der blinden kapitalistischen Vergesellschaftungsdynamik ebenbuertig gewesen waeren. In der Arbeiterbewegung musste sich die Konzentration auf Gewerkschaft und Partei (also auf die Medien von Warensubjektivitaet und Staatsbuergerlichkeit) letzlich durchsetzen, weil ihnen eine groessere synthetisierende Kraft zukam, als die sich in viele partikulare Bestrebungen verzettelnde Genossenschaftsbewegung. Erst die systemadaequate Selbstinstrumentalisierung setzt die Oppositionsbewegung ueberhaupt in den Stand, waehrend der Aufstiegsperiode des warenproduzierenden Weltsystems geschichtsmaechtig zu werden.

Die Wiederentdeckung vergangener formwiderstaendiger Stroemungen verschaftt uns Nachgeboerenen weder fertige, auf die heutige Situation uebertragbare Konzepte, noch eine schmucke Ahnengalerie. Dennoch handelt es sich hier keineswegs um eine bloss folkloristische Uebung. Der Rueckbezug auf die oppositionelle Binnengeschichte und die Beschaeftigung mit der Selbstzurichtung auf die herrschende Form hat fuer die Reformulierung einer neuen emanzipativen Perspektive durchaus eine wichtige Funktion: Er schaerft den Sinn fuer den historisch begrenzten und gewaltsamen Charakter der buergerlichen Vergesellschaftungsweise. Das Alltagsbewusstsein behandelt das warengesellschaftliche Formsystem als die selbstverstaendlichste Einrichtung der Welt und geht stillschweigend ganz davon aus, dass unsere Vorfahren einst friedlich in diese dem "menschlichen Wesen" ach so angemessene "natuerliche Ordnung" hineingewachsen sein muessen, so weit diese Ordnung nicht sowieso schon irgendwie seit Anbeginn der Zeiten existierte.

Auch Menschen, die sich als gesellschaftskritisch verstehen, faellt es schwer, der Uebermacht des selbstverstaendlich Gewordenen zu widerstehen. Sie neigen ebenfalls oft genug dazu, spezifisch buergerliche Kategorien und Verhaeltnisse zu ontologisieren, und ihre Emanzipationsvorstellungen bleiben regelmaessig in diesem Kral, der die Welt zu bedeuten scheint, eingesperrt. Der Rekurs auf die Widerspenstigkeiten, die die Wertlogik erst ueberwinden musste, weitet den Blick, und der Absolutheitsanspruch der herrschenden Verhaeltnisse wird als usurpativer Akt kenntlich. In der Retrospektive springt nicht nur ins Auge, dass all die als unhintergehbar geltenden Phaenomene wie Arbeit, abstrakte Allgemeinheit und abstrakte Privatheit, gemessen an der menschlichen Geschichte, erst einen historischen Wimpernschlag lang existieren; darueberhinaus wird die Kette gesellschaftlicher Katastrophen und Vernichtungsfeldzuege sichtbar, der es zur Installation des buergerlichen Universums bedurfte.

3.

Der Vormarsch der Warenlogik war nicht nur ein gewaltsamer Prozess, er laesst sich auch als eine determinierte Entwicklung beschreiben. Es waere sicherlich absurd, wollte man saemtliche einzelnen geschichtlichen Ereignisse und Resultate aus den gegebenen historischen Voraussetzungen lueckenlos und folgerichtig ableiten. Nachdem die kapitalistische Entwicklungsdynamik aber einmal eine bestimmte Schwelle (2) ueberschritten hatte, lagen die grossen Trends eindeutig und unumkehrbar fest. Die Warengesellschaft ist eine imperialistische Formation, die nichts ausserhalb von ihr anerkennen kann und versuchen muss, alles und jedes in sich hineinzuziehen. Die entfesselte Warengesellschaft taugt aufgrund ihres Formprinzips nicht zur friedlichen Koexistenz mit anderen Gesellschaftsformationen. Aus seiner eigenen Logik heraus tendiert der Wert dazu, die gesamte Wirklichkeit unter sich zu subsumieren und zum Material seiner selbst zu machen.(3) Solange ihr nur Gegner gegenueberstehen, die auf einem niedrigeren Vergesellschaftungsniveau verharren, kann keiner von ihnen ihrem Zugriff letzlich widerstehen.

Der dem Vormarsch der Warenlogik inhaerenten deterministischen Gewalt unterlag auch die historische Opposition. Diese Gewalt machte sich zunaechst einmal, wie schon angedeutet, in der Zurueckdraengung und Vernichtung aller fuer die sich verbreiternde abstrakte Gesellschaftlichkeit sperrigen Momente bemerkbar. Im oppositionellen Spektrum konnten sich nicht diejenigen Teile durchsetzen, die vom Impuls getrieben wurden, Lebenszusammenhaenge vor dem Zugriff der buergerlichen Vergesellschaftung zu bewahren. Den Ton gaben stattdessen zusehends Kraefte an, die sich als Avantgarde der Fortschrittspartei verstanden. Auch die hegemoniale Rolle, die der Marxismus mehr als ein Jahrhundert lang im oppositionellen Denken spielte, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Seine Vorherrschaft im antikapitalistischen Bewusstsein steht fuer die Verachtung alles Vorkapitalistischen. Unter der Aegide des Marxismus verwandelte sich das sozialistische Ziel in den Traum von einer Gesellschaft, die noch moderner sein sollte als die modernen buergerlichen Gesellschaften dieser Epoche und das buergerliche Fortschrittsversprechen erst in aller Konsequenz einloesen wuerde.

Die marxistischen Anhaenger der Fortschrittsreligion entwickelten eine emphatische Vorstellung von historischer Notwendigkeit. Sie sahen sich gern als Mitwisser eines materialistisch gewendeten Weltgeistes und als das unaufgeloeste Raetsel der Geschichte, das sich selber als Loesung weiss. Dieses affirmative Bekenntnis zur determinierten Gewalt schuetzte die Marxisten indes nicht davor, selber zum blinden Werkzeug eines ebenso blinden historischen Prozesses zu werden. Die Sozialisten, die darauf vertrauten, von den ehernen gesellschaftlichen Gesetzmaessigkeiten zum sozialistischen Ziel getragen zu werden, wurden ironischerweise von der Warenlogik auf ihrem Weg zu ihrer eigenen Vollendung wiederum als Reittier genutzt.

Waehrend die Unterwerfung unter die triumphierende Wertlogik fuer die formsperrigen Momente der Oppposition nur die Vernichtung bedeuten konnte, machte sie sich bei der Hauptstroemung anders bemerkbar. Sie wird hier als die schreiende Diskrepanz zwischen dem revolutionaeren, auf Systemtranszendenz gerichteten Anspruch und dem erreichten systemkonformen praktischen Resultat sichtbar. Das verwertungsgesellschaftliche System ueberlebte nicht nur ein ums andere Mal seine Gegner, deren (praktische) Kritik erwies sich sogar als Motor seiner Entwicklung. Diese merkwuerdige Verkehrung laesst sich schon an der alten Arbeiterbewegung studieren. Die proletarischen Klassenkaempfer setzen sich das Ziel, mit der "Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" ein fuer allemal Schluss zu machen; de facto leisteten sie jedoch einen entscheidenen Beitrag zur Metarmophose der unterstaendischen Schichten in freie und gleiche Staatsbuerger und Geldbesitzer und sorgten mit fuer die Verallgemeinerung des Warensubjekts. Die Bolschewiki etwa zeigten sich entschlossen, die buergerliche Staatsmaschine zu zerbrechen und eine sozialistische Revolution in Gang zu setzen; ihre Machtuebernahme leitete jedoch dieser Absicht zum Trotz im rueckstaendigen Russland nichts anderes ein als einen Prozess staatlich lancierter nachholender Modernisierung und "Inwertsetzung". Selbst die 68er-Bewegung fuegte sich noch in dieses Schema. Die Protagonisten bliesen zum Sturm auf den lustfeindlichen protestantischen Zwangscharakter und auf die buergerliche Kleinfamilie, worin sie die subjektive Grundlage des herrschenden Verblendungszusammenhangs ausmachten; tatsaechlich indes laeutete die von der studentischen Protestbewegung losgetretene spaetfordistische Kulturrevolution nur die letzte Runde bei der Durchsetzung der mit der Systemlogik vollkompatiblen asozialen Geld- und Erfolgsmonade ein.

Der notorische Widerspruch zwischen revolutionaerem Anspruch und systemimmanenten Ergebnis laesst sich nicht auf eine bloss aeussere Vereinnahmung oder Unterwerfung zurueckfuehren; auch hierin spiegelt sich vielmehr der historisch-gesellschaftliche Gehalt der traditionellen Systemopposition. Der ueberlieferte Antikapitalismus richtetete sich im Kern immer nur gegen die personalen Abhaengigkeitsverhaeltnisse und staendischen Schranken, die sich bis tief ins 20.Jahrhundertt hinein im empirischen Kapitalismus noch reproduzierten. Er schoepfte seinen revolutionaeren Impetus nicht aus der Kritik der buergerlichen Form als solcher, sondern wesentlich daraus, dass er faelschlicherweise die Beseitigung praesachlicher Herrschaftsmomente mit der Ueberwindung des Kapitalverhaeltnisses in eins setzte. Der linken Opposition haftete vor allem deshalb der Nimbus der Systemfeindschaft an, weil sie selbst ebenso wie ihre Gegener das Prinzip der Gleichheit, fuer das die bekennenden Antikapitalisten zu Felde zogen, fuer unvereinbar mit kapitalistischer Herrschaft hielt. Gerade vermittelt ueber die Erfolge der Opposition musste die weitere Entwicklung das Selbstverstaendnis als Systemfeind aber als Missverstaendnis enthuellen. Im Rueckblick zeigt es sich: die Ueberwindung aller Formen unmittelbarer persoenlicher Unterdrueckung konnte die kapitalistische Herrschaft nicht konterkarieren, sie lag vielmehr in der Logik des Kapitalverhaeltnisses als der Diktatur der Sachen. Statt die ersehnte Gleichheit zu dementieren, ist die saemtliche Schichten und Sozialcharaktere gleichermassen erfassende Subsumtion unter die universale Herrschaft der Warenform vielmehr die einzig denkbare Form, in der dieses Prinzip Wirklichkeit werden konnte, soweit sich Prinzipien ueberhaupt realisieren lassen.

Dem historischen, fortschrittsseligen Antikapitalismus blieb verborgen, dass die Beseitigung der tradierten Knechtschaftsverhaeltnisse, also die Verwandlung aller in Herren ihrer selbst, nicht die Aufhebung, sondern die Vollendung von Herrschaft bedeuteten musste. Er verdankte sein systemoppositionelles Selbstverstaendnis letztlich falschen Annahmen. Diese Fehleinschaetzung hat seine historsche Wirkung indes in keiner Weise geschmaelert. Die Systemopposition spielte naemlich durchaus eine emanzipative Rolle, nur bestand diese eben nicht, wie angenommen, in der Sprengung der kapitalistischen Ordnug, sondern darin, als Katalysator mit dazu beizutragen, das der Wertvergesellschaftung selber inhaerente relative (von der Herrschaft der Versachlichung konterkarierte) Emanzipationspotential freizusetzen.

Das revolutionaere Missverstaendnis wirkte in diesem Zusammenhang weder stoerend noch kontraproduktiv, es war im Gegenteil sogar die Voraussetzung dafuer, dass die vermeintlichen Systemfeinde sich ueberhaupt zur Verwirklichung ihrer Aufgabe sammeln konnten. Der Kampf fuer die subjektlose Herrschaft kann ex definitione gar nicht mit vollem Bewusstsein gefuehrt werden. Dies gilt auch fuer seine emanzipative Seite. Die Avantgarden der modernen Wertvergesellschaftung waren nur in der Lage, ihre vorwaertstreibende Rolle zu spielen, weil sie nicht wussten, was sie da taten. Die universale Diktatur der Warenform, die alle beschraenkten Formen von Herrschaft ersetzt, entspringt als faktisches Resultat aus gesellschaftlichen Kaempfen, die sich unter den buntesten Bannern vollzogen haben. Dazu gehoerte eben auch das der sozialistischen Revolution. Mit ihrer Integration in die Systemlogik hat die alte Systemopposition ihre Mission nicht verraten, sondern in gewisser Weise gerade erfuellt.

4.

Diese Ueberlegungen noetigen nicht zum Verzicht auf jeden nachtraeglichen Revolutionarismus. Gleichzeitig wird aus dieser historisierenden Perspektive sichtbar, dass es sich bei dem uns vertrauten Gegensatz von "Revolutionaren" und "Reformern" um den Binnenkonflikt einer abgeschlossenen Epoche handelt. Wer heute noch sein eigenes Selbstverstaendnis an diese ueberkommene Frontstellung knuepft, koennte ebensogut seine Identitaet gleich von den Todfeindschaften des 30jaehrigen Krieges ableiten und mit der Parole "Nieder mit der katholischen Liga, es lebe die protestantische Union" in die Kaempfe des 21. Jahrhunderts ziehen.

Diese Einsicht scheidet den wertkritischen Ansatz von den Ueberresten des linksradikalen Bewusstseins. Waehrend die Wertkritik davon ausgehen muss, dass ein neues Emanzipationsdenken sich seine eigene Basis erst noch neu zu schaffen hat, finden die Restbestaende des landlaeufigen Linksradikalismus ihre konstitutive Grundlage im identifikatorischen Bezug auf die heute gegenstandslos gewordenen Kaempfe einer vergangenen Epoche. Sie leben von der Weigerung, deren Ende zur Kenntnis zu nehmen. Eine solche in Ignoranz und Lernschwaeche gegruendete ehemalige Gesellschaftskritik erschoepft sich in sterilen Ritualen und bietet dementsprechend einen hoechst traurigen Anblick. Die Wortfuehrer der Restlinken kennen offenbar nur mehr einen Lebenssinn: Sie sind wild entschlossen, im grossen Umbruch die eigene zurechtkonstruierte Widerstandsidentitaet aufrechtzuerhalten und klammern sich wie die Mitglieder eines Trachtenvereins an die bedrohte linke Heimatseligkeit. Fuer einen Hauch Kuhstallwaerme lassen sie bereitwillig jeglichen analytischen Anspruch fahren. Auch die Beschaeftigung mit der Geschichte der Emanzipation bleibt bei ihnen selbstverstaendlich mit Denkverboten befrachtet. Wenn die letzten Volkstaenzer des ueberlieferten Antikapitalismus ihren Blick zurueckwenden, dann hat das vornehmlich den Sinn, die eigene Misere zu verheimaten. Sie mildern ihr aktuelles Elend dadurch, dass sie zur Fortsetzung des linken Gesamtelends stilisieren. Die Frage nach dem konkreten gesellschaftlichen Inhalt der vergangenen Bewegungen muss bei einem solchen Vorgehen unter den Tisch fallen. Die alten Emanzipationsbewegungen werden stattdessen allein an ihrem revolutionaeren Anspruch gemessen, auf dass ihre Geschichte zu einer Kette vergeblicher Anlaeufe und verheerender Rueckschlaege zusammenschnurren kann und die sakrosante linke Tradition aus Raum und Zeit entschwebe.

Als Speerspitze der Fortschrittspartei hing die Linke traditionell einer linearen Entwicklungsvorstellung an. Ohne dessen recht gewahr zu werden, verfallen die Erben in eine Sichtweise nach Art fernoestlicher Religionen. Fuer sie wird die Opposition vom antiken Spartacus bis heute zum ewigen Widerstandskaempfer und unerloesten Opfer, das in einem endlosen Zyklus von Niederlagen und Wiedergeburten sich letztlich immer gleich geblieben ist und wohl auch immerdar gleichbleiben wird. Vor dieser Folie fuegt sich das Ende der "Neuen Linken" ganz bruchlos in die zu wahrende, leider nun aber nur mehr negativ besetzbare Kontinuitaet. Die heutige Selbstaufloesung der Opposition ergaenzt das grosse Buch der Niederlagen nur um ein weiters Kapitel. Aus der Innenperspektive ist damit die Erben-Identitaet gerettet und die Notwendigkeit einer neuen grundsaetzlichen Kritik und Selbstkritik eskamotiert. Fuer jede Gesellschaftskritik, die sich nicht mehr innerhalb des linken Kanons bewegt, macht sich die Restlinke damit allerdings als Endmoraene einer abgeschlossenen gro§en Bewegung kenntlich.

Das linksradikale Restdenken ist aber nicht nur dort in der Lage, sich gegen die Wahrnehmung einer veraenderten Wirklichkeit zu immunisieren, wo es sich auf seinen eigenen Grundlagen im Kreise dreht; es hat auch wirksame Mechanismen entwickelt, um jeden von aussen kommenden Anschlag auf das linke Kontinuitaetsbewusstsein abzuwehren. Vor allem versteht es der tradionelle Linksradikalismus, sich vor dem schlimmsten Aergernis, mit dem er in seiner Verelendungsphase konfrontiert wird, abzuschirmen: dem wertkritischen Ansatz.

Die letzten aufrechten Linken koennen zwar gegen die Zuordnung der linken Ueberlieferung zur Aufstiegsgeschichte der Warengesellschaft keine irgendwie kohaerente Gegenargumentation ins Feld fuehren, sie finden dafuer aber ersatzweise andere Mittel und Wege, sich diesen Gedankengang, und damit die Notwendigkeit einer radikalen Neubestimmung der emanzipativen Perspektive, vom Hals zu halten. Wenn die Wertkritik die verblichenen Reformisten und Revolutionaere gleichermassen als Traeger einer abgeschlossenen Epoche wuerdigt, dann erklaert der mumifizierte Pseudoradikalismus dies reflexartig zur Versoehnung mit dem Reformismus und damit selber zum Reformismus. Da diese Anklage fuer sich genommen allzu offensichtlich klemmt, unterfuettern die linksradikalen Kritiker der Wertkritik ihren Reformismus-Verdacht mit Einwaenden, die auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt sind. Sie rekurrieren auf so etwas wie Geschichtsphilosophie, weichen also bauernschlau in die Materie aus, in der sie sich selber am allerwenigsten auf die Schliche kommen koennen, weil sie von ihr am allerwenigsten verstehen, und verknuepfen den Reformismusvorwurf mit dem Vorwurf des Determinismus. So kommt folgende Standard-Denunziation zustande: Die Wertkritiker vertreten angeblich ein durch und durch deterministisches Weltbild. Die Behauptung, die bisherigen Oppositionsbewegungen seien zwangslaeufig ins warengesellschaftliche System integriert worden, laufe auf Defaetismus hinaus und lasse als Handlungsperspektive nur mehr die reformistische Option uebrig. Das ganze Gerede vom Fetischismus fuehre nur zu einer kontemplativen Haltung, die genau die Verhaeltnisse zementiere, die die Fetischismustheoretiker kritisieren.

Wenn diese altlinksradikale Antikritik die Wertkritik als eine saekularisierte Praedestinationslehre abqualifiziert und die Kritik des automatischen Subjekts als deren Apotheose deutet, dann verdankt sie diesen Abwehrerfolg allerdings einem nicht ganz sauberen Kunstgriff. Der Determinismusvorwurf wirkt nur plausibel, solange man eine einheitliche ueberhistorische Emanzipationsvorstellung voraussetzt und sie auch der Wertkritik unterschiebt. Die Wertkritik bricht jedoch gerade mit dieser Sicht und operiert mit einem doppelten Emanzipationsbegriff. Sie unterscheidet strikt zwischen Emanzipation von der Form und Emanzipation in der Form bzw. zur Form der Wertvergesellschaftung. (4) Eine solche Differenzierung fuehrt aber auch zu einer differenzierten Determinismustheorie. Der Determinismus- Popanz, gegen den die Altlinksradikalen zu Feld ziehen, entsteigt naeher besehen also nicht der Wertkritik, sondern entstammt gerade dem Denkuniversum der Antikritiker selbst und kann auch nur dort existieren.

In dieser Allgemeinheit ist der Zusammenhang vielleicht nicht unmittelbar einsichtig. Er wird sicherlich deutlicher, wenn wir uns zunaechst einmal etwas genauer den spezifischen Denkkontext vergegenwaertigen, dem er an die Adresse der radikalen Formkritik gerichtete pauschale Automatismusvorwurf seine scheinbare Eingaengigkeit verdankt, um dann den wertkritischen Zugang zum Determinismusproblem grob zu umreissen.

Eine Linke, die von einer einheitlichen, letzlich unhistorischen Vorstellung von Emanzipation ausgeht, kann ihre eigene Misere und die Systemintegration aller historischen Emanzipationsbewegungen nach zweierlei Mustern deuten. (5) Zum einen bleibt ihr der direkte Weg in den puren Subjektivismus. Aus dieser Perspektive erscheint der wenig erbauliche Zustand, in dem wir uns heute befinden, als Folge ungluecklicher historischer Zufaelle, des mangelnden Durchsetzungsvermoegens der Revolutionaere und der fiesen Raenke der Gegner. Die Ueberwindung des Kapitalismus war immer moeglich und wird immer moeglich sein; bislang ist der revolutionaere Geist nur ein ums andere mal gescheitert. Fuer die Anhaenger dieser Sichtweise existiert das Problem des Determinismus selbstverstaendlich nicht. Fuer sie ist Determininismus nur eine Erfindung des "Klassenfeindes", und wer als Linker auch nur einen Gedanken auf die Determiniertheit historischer Prozesse verschwendet, ist damit schon der buergerlichen Propaganda auf den Leim gegangen.

Der linke Konsens laesst aber auch fuer die entgegengesetzte Sichtweise Platz, in der dem Subjektivismus nur die Rolle einer Notbremse zukommt. Vor allem bei den linken Erben der kritischen Theorie bildet gerade die Klage ueber die Gewalt des determinierten historischen Prozesses den Dreh- und Angelpunkt ihrer Gesellschaftskritik. Die Vertreter dieser Position distanzieren sich zwar energisch von dem emphatischen Bekenntnis zur "historischen Notwendigkeit", wie es einst der traditionelle Marxismus pflegte; sie stellen jedoch nicht die Existenz determinierter historischer Prozesse in Abrede, sondern werten sie nur diametral anders als die Marxisten der Jahrhundertwende. An die Stelle einer positiven Teleologie tritt eine spiegelverkehrte negative. Engels, Kautsky und Co. erstellten eine Stadientheorie menschlichen Fortschritts und erklaerten die vermeintlich notwendige Abfolge von Urkommunismus, Sklavenwirtschaft, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus zu einem Prozess sukzessiver Vervollkommnung der Menschheit. Die neue Linke Fortschritt-Skepsis folgt dagegen lieber der Diktion in der "Dialektik der Aufklaerung" und sieht in der menschlichen Geschichte eine fatale Zwangslaeufigkeit am Werk. So wenig die Vertreter dieser Position sich darauf einigen koennen, wann genau der Beginn des Marsches ins "Gehaeuse der Hoerigkeit" anzusetzen ist, in der logischen Konsequenz laeuft dieser Gedanke allemal auf das gleiche Ergebnis hinaus: Mittlerweile ist dieser determinierte Prozess irreversibel geworden, das historische Verhaengnis nimmt seinen unumkehrbaren Lauf. Die Beschaeftigung mit dem Aufhebungsproblem eruebrigt sich oder sie wird sogar tabuisiert. (6) Widerstand ist nur noch als ein quasi existentialistischer grundloser Akt moeglich, der sich selber weder erklaeren noch denken kann. Gesellschaftskritik heisst hier gegen die Geschichte leben.

Diese Sicht kommt bezeichnenderweise dem, was der Wertkritik (im Verstaendnis der "Krisis") als Position unterstellt wird, sehr nahe, und nur das kann die Heftigkeit der Abwehr erklaeren. Wenn gerade die Wertkritik bzw. das, was als solche abgehandelt wird, als frevelhaft gilt, dann hat dies vor allem zwei Gruende. Zum einen wird sie deshalb bekaempft, weil sie einen eigenen Gedankengang der Kritiker, den man vorsichtshalber meist lieber nicht bis zum bitteren Ende verfolgt, vermeintlich konsequent weitertreibt; zum anderen geht ihr der subjektivistische Stallgeruch ab, der es den linksradikalen Epigonen der kritischen Theorie ermoeglicht, die Gesellschaftskritik wenigstens als Gestus doch noch zu retten. Auch der merkwuerdige Reformismus-Vorwurf gewinnt in diesem Zusammenhang seinen Sinn. Dahinter verbirgt sich eine projektive Logik: Die linksradikale Verzweiflung an der angeblichen Unaufhebbarkeit der bestehenden Verhaeltnisse hat naemlich selber eine offene Flanke zum Postreformismus. Ins Selbstzufriedene gewendet, liegt sie auch dem neue Realismus gruener Provenienz zugrunde. Der Unterschied zwischen beiden Positionen ist eher auf der Ebene der Haltung als der Einschaetzung angesiedelt. Wo die linksradikalen Gesellschaftskritiker scheinbar radikal bleiben, indem sie sich angeekelt und fingerspreizend von dem, was sie fuer Wirklichkeit halten, abwenden, da greifen die "Pragmatiker" lustvoll zu.

Soweit die marktdemokratisch geouteten Enkel der Frankfurter Schule aus schlechter Gewohnheit ueberhaupt noch so etwas altertuemliches wie eine theoretische Begruendung fuer ihren Uebergang ins Lager der Affirmation liefern, aehnelt ihre Argumentation im Kern fatal der Einschaetzung ihrer linksradikalen Kontrahenten, nur die gezogenen Konsequenzen sind spiegelverkehrt. Die saturierten Ex-Linken konstatieren, dass die Revolutionaere nie das gegebene Heilsversprechen einloesen konnten, um die fuer die vergangenen Emanzipationsbewegungen charakteristische Diskrepanz zwischen systemtranszendentem Anspruch und systemimmanenten Resultat fuer sich apologetisch aufzuloesen. Sie schliessen also massenweise ihren Frieden mit den herrschenden Verhaeltnissen, zeigen sich in vermeintlicher Altersklugheit wild entschlossen, das, was die Linke nicht gewollt, aber mit auf den Weg gebracht hat, naemlich den modernen Kapitalismus, im nachhinein doch noch und endlich positiv zu wollen. Kuenftig, so das phantastische Kalkuel des neuen "Realismus", wird man das fuer die Emanzipation Machbare ohne alles ueberfluessige systemfeindliche Brimborium in reformistischer Selbstbescheidung durchsetzen und der Menschheit dadurch viele unnoetioge Kaempfe und Leiden ersparen.

Vom linksradikalen Standpunkt laesst sich dagegen nur einwenden, dass hier die Not einer waffenlosen Gesellschaftskritik zur Tugend verklaert wird. Diese Kritik ist zwar berechtigt, sie greift aber viel zu kurz. Der bauernschlaue Plan, die List der Geschichte zu ueberlisten, ist deshalb nicht abzulehnen, weil er das ohnehin uebermaechtige System durch seine bereitwillige reformistische Zuarbeitung noch weiter staerkt und jede gesellschaftskritische Intention bereitwillig fahren laesst, sondern weil die ganze Vorstellung vollkommen illusionaer und haltlos ist. Nicht die Verwirklichung des postreformistischen Projekts ist das Gefaehrliche, bedrohlich sind vielmehr die Metamorhosen, die es im Scheitern durchmacht und durchmachen wird. Die Posstreformisten moegen sich noch so lange einreden, dass sie sich um die Erneuerung der reformistischen Option bemuehen; unter Krisenbedingungen werden sie zum Bestandteil der herrschenden Notstandsverwaltungsbestialitaet mutieren, und eine wenig menschenfreundliche Rolle spielen.

Schon der marxistische Versuch, dem Weltgeist in die Karten zu gucken, fiel wenig ueberzeugend aus. Die Postreformisten muessen sich aber noch viel schneller blamieren, denn sie verwechseln bei ihren Kiebitzversuchen dummerweise die abgelegten Karten mit dem aktuellen Blatt. Wenn schon fuer die nicht gerade mit ueberschiessender Reflexionsfaehigkeit gesegneten Postreformisten die merkwuerdige Dialektik von Systemueberwindungs-Anspruch, Emanzipation und Systemintegration sichtbar wird, dann kuendet das gerade vom Ende der historischen Konstellation, die dieses Verhaeltnis hervorgebracht hat. Das dem determinierten Prozess inhaerente emanzipative Potential ist laengst erschoepft. Das Einverstaendnis mit dem durch die Form detreminierten Rahmen kann in der Krisenepoche nur noch das Einverstaendnis mit und die Teilnahme an den anlaufenden Entgesellschaftungs- und Barbarisierungsprozessen zur Folge haben.

An der Krise muss sich nicht nur der Postreformismus mit seinem Bekenntnis zur segenspendenden Wirkung von Markt und Staaat blamieren. Die Misere des warenproduzierenden Weltsystems wirft die wenig erquickliche Scheinalternative - quasiexistentialistischer, grundloser Aufstand gegen die Geschichte oder aber Einverstaendnis mit dem prozessierenden Verhaengnis - ueber den Haufen. Wenn die Determiniertheit der historischen Entwicklung in der buergerlichen Epoche ihren Grund im Selbstlauf der warengesellschaftlichen Logik hat, dann kann die menschliche Geschichte gar nicht fuer immer und ewig in sie geschrieben bleiben. Mit dem Obsoletwerden des wertfoermigen Zusammenhangs muss auch die dadurch gesetzte Determiniertheit obsolet werden. Determiniert ist heute nur mehr der Zerfall des herrschenden Systems, das seine Integrationsfaehigkeit verliert.

Adorno und Horkheimer mussten nur deshalb befuerchten, dass der moderne Kapitalismus auf eine ausweglose historische Endlosschleife fuehren wuerde, weil sie von der schliesslichen Sistierung aller kapitalistischen Widersprueche ausgingen. Ein wertkritischer und gleichzeitig krisentheoretisch zentrierter Ansatz hat eine gaenzliche andere Sichtweise und kann sich daher mit dem blossen Vorzeichenwechsel von einem affirmativen Bezug auf die historische Notwendigkeit des Fortschritts zur desparaten Kritik des unvermeidlichen Verhaengnisses nicht zufrieden geben. Die Wertkritik steht vielmehr vor der Aufgabe, historische Zwangslaeufigkeit selber als etwas Geschichtliches und damit Endliches zu begreifen. Eine Theorie des Determinismus muss den logischen und historischen Gueltigkeitsbereich abstecken, innerhalb dessen von determinierten Prozessen ueberhaupt die Rede sein kann.

Welche Implikationen dieser Wechsel der Perspektive fuer eine Theorie von Emanzipation hat, liegt auf der Hand. Eine kuenftige Befreiungsbewegung wird sich nicht mehr positiv auf irgendwelche historischen Zwangsgesetze beziehen, um diese feierlich zu exekutieren; sie muss vielmehr den Anspruch erheben, die ganze "gesellschaftliche Naturgesetzlichkeit" in einem Akt der kollektiven Notwehr ausser Kraft zu setzen. Eine kuenftige Emanzipationsbewegung wird in dem bolschewistischen Traum, dass die neue Gesellschaft mit der Praezision eines Uhrwerks funktionieren moege, den Alptraum erkennen, den es zu bekaempfen gilt. (7) Sie wird sich schon eher am Vorbild spanischer Anarchisten orientieren, die sich, wie Walter Benjamin zu berichten wusste, in den Tagen des Buergerkriegs die Zeit damit vertrieben haben, auf Turmuhren zu schiessen. Der "Schuss in die Uhr", der mit dem Schiesspulver und dem Chronometer die beiden Basis-Innovationen der Fruehmoderne destruierend miteinander verbindet, koennte ueberhaupt als Bild fuer die kuenftige Umwaelzung stehen.

Dieser Vergleich hat vielleicht nur eine Schwaeche, er legt moeglicherweise die Assoziation nahe, dass die Unterbrechung des Zwangsmechanismus als einmalige, sozusagen punktgenaue revolutionaere Grosstat zu denken waere. das ist aber natuerlich nicht der Fall. Schon die Keime einer noch so bescheidenen emanzipativen Praxis koennen sich unter den Bedingungen der Krise ueberhaupt nur im Kampf gegen die Exekutoren der wertfoermigen Zwangslogik herausbilden. Der metaphorische Schluss vertritt also einen langen, nicht voraussetzungslosen, aber eben auch nicht mehr determinierten gesellschaftlichen Prozess. Die Emanzipation von der Form beinhaltet auch das Ende der Determination in der Historie; sie bedeutet, um die Marxsche Diktion zu bemuehen, den "Abschluss der Vorgeschichte" und den Eintritt in eine menschliche Geschichte, in der die Menschen nicht nur ihre Geschichte selber machen, sondern auch wissen, was sie da tun.



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Fussnoten:

(1) Dieses Denkverbot fuehrt zu einer ausgesprochen merkwuerdigen Kapitalismusvorstellung. Als Gegner des Kapitals koennen die Linksradikalen natuerlich die realen Phaenomene, die eine Krisenhaftigkeit der herrschenden Form dokumentieren, nicht in Abrede stellen. Massenarbeitslosigkeit, oekologische Verheerungen und soziale Zersetzungsprozesse duerfen in dieser Sichtweise aber der kapitalistischen Verwertungsbewegung per se nichts anhaben koennen. Das Kapital soll, auch wenn es immer weniger "lebendige Arbeitssubstanz" produktiv vernutzt, ad infinitum weiter akkumulieren koennen. Das Kapital soll sich ungestraft von seinen natuerlichen und humanen Voraussetzungen emanzipieren. In dieser Interpretation verwandelt sich das Kapital offensichtlich aus einem gesellschaftlichen Verhaeltnis in eine von der gesellschaftlichen Wirklichkeit letztlich gar nicht mehr tangierte metaphysische Kraft.

(2) Es faellt schwer, den geschichtlichen "point of no return" genau anzugeben. Er duerfte irgendwo zwischen der grossen Pestwelle in der Mitte des 14. Jahrhunderts und der Franzoesichen Revolution anzusiedeln sein.

(3) Die restlose Metamorphose aller Menschen in Verwertungs- und Rechtsmonaden kann nicht gelingen. Auch unter kapitalistischen Bedingungen bleiben Lebensbereiche uebrig, die sich der warengesellschaftlichen Zurichtung sperren. Innerhalb der Warengesellschaft koennen sie aber nur als Reservate und Schattenreiche existieren. Zu denken ist in diesem Zusammenhang vor allem an die Geschlechterproblematik und den abgespaltenen, weiblich besetzten Bereich.

(4) Unter kapitalistischem Vorzeichen sind zwei diametral entgegengesetzte Versionen von Befreiung denkbar. Die oppositionellen Bestrebungen koennen auf die Verwandlung aller Menschen in gleichberechtigte Warensubjektivitaet und Staatsbuergerlichkeit abzielen. Innerhalb der deterministischen Form eingeschrieben und Teil der deterministischen Logik warengesellschaftlicher Entwicklung ist natuerlich nur die erste Variante. Die Emanzipation von der Form impliziert hingegen gerade den Bruch mit determinierten Verhaeltnissen. Diese beiden Spielarten lassen sich nicht nur logisch auseinanderhalten, sondern auch historisch zuordnen. Solange die Warengesellschaft noch im aufsteigen begriffen und der Durchsetzung der kapitalistischen Form selber noch ein emanzipatives Moment inhaerent war, musste Befreiung letztlich Befreiung zur Form bedeuten, weil sich die widerstaendigen Momente in der Oppositiopn gegen die vom Wert getragene Vergesellschaftungsdynamik nicht behaupten konnten. In der Absturzphase kehrt sich dieses Verhaeltnis um. Emanzipation kann nur Emanzipation von der Form heissen.

(5) Die beiden Sichtweisen schliessen sich zwar streng logisch aus, dennoch amalgiert sie der hoechst inkohaerente linke Alltagsverstand fuer gewoehnlich, ohne dass ihm dieser Widerspruch auch nur auffallen wuerde.

(6) Diesen Standpunkt vertritt explizit die Freiburger Zeitschrift "Kritik und Krise". Das Verdikt gegen jede Art von Revolutionstheorie ist in dieser Publikation zu einer Art ceterum censeo geworden.

(7) Dieser Wechsel in der Perspektive von Emanzipation gilt aber nicht nur fuer die Beschaeftigung mit den Zukunftsfragen, sondern auch fuer das Geschichtsverstaendnis. Immer wenn sich die aktuellen historischen Aufgaben, vor denen die Menschen stehen, grundlegend veraendern, veraendert sich auch ihr Bild der Vergangenheit; und auch in diesem Zusammenhang muss sich das wiederholen. Eine theoretische Stroemung, die den Bruch mit der Determiniertheit anvisiert, wird beim Blick zurueck weder die historische Notwendigkeit im Stil der Hegelschen Geschichtsphilosophie besigen koennen, noch wird sie fuer die Vergangenheit das Problem, mit dem sie selber zu kaempfen hat, eskamotieren. Die moderne Geschichtswissenschaft hat einer dritten Postion gluecklicherweise schon vorgearbeitet; und wenn man die zeitgeistbedingte Neigung zu einem haltlosen Geschichtsrelativismus beiseite schiebt, zeichnen sich die Umrisse dieser Position bereits ab: Die menschliche Geschichte laesst sich in ihrer Gesmtheit weder als ein von einem ursprunglichen Suendenfall an determinierter Prozess fassen, noch ist davon auszugehen, dass das Moment von Nicht-Determiniertheit einem stetig voranschreitenden Auszehrungsprozess unterliegen wuerde. Der Charakter einer Zwangslogik kommt vornehmlich in der jeweiligen Binnenentwicklung der aufeinanderfolgenden Fetisch-Formationen zum Tragen. Ihre extremste Ausformung hat diese Logik sicherlich in der Entfaltung der buergerlichen Form zur einzigen und universellen Fetischgestalt angenommen. In den Uebergangsphasen, in denen eine Fetischform zerfaellt, bevor sich ein neues Fetischsystem gesettlet hat, weicht der Zwangscharakter indes mehr oder weniger auf. In diesen historschen Uebergangsphasen (etwa in der fruehen Neuzeit) waeren auch grundlegend andere Weichenstellungen moeglich gewesen. Wuerde die Evolution noch einmal im Saurierzeitalter beginnen, so wuerde sie garntiert nicht noch einmal den Menschen, die angebliche Kroenung der Schoepfung, hervorbringen. Und koennten wir die menschliche Geschichte zurueckdrehen und ab Christi Geburt oder ab dem Jahr 1000 n. Chr. wieder ablaufen lassen, so wuerde die Entwicklung genausowenig schnurstracks wieder zu dem uns vertrauten westlichen Kapitalismus fuehren. Das heisst aber weder, dass es keine Gesetze der Evolution gibt, noch heisst es, dass die menschliche Geschichte, solange sie unter der Herrschaft von Fetischverhaeltnissen steht, keinen verobjektivierten Gesetzen der zweiten Natur unterliegt.
verdi:

preisfuchs,Du darfst nicht "langer Text" in die

 
21.08.01 22:59
Überschrift bringen!Das klickt doch keine Sau an(zumal bei diesem langweiligen Mist und dieser Uhrzeit).

Beim Thema "IN SIEBEN TAGEN SCHULDENFREI!" kannst Du sonen Text ins Board stellen!
Oder natürlich immer beim Thema "SEX"(nach dem "AUTO" ja unser zweitliebstes Thema)!

Auf ein Neues!

gruss verdi
Kicky:

Die Situation der Schwarzen in Kolumbien sehrlang

 
22.08.01 01:05
Die Situation der Schwarzen in Kolumbien
Yonis Perea

Seitdem er im Alter von 10 Jahren Waise wurde und vor der Gewalt floh, ist er „Mann im Haus“. Die vielen Erniedrigungen, die er als Straßenverkäufer erlitt, haben ihn dazu bewegt, sich einer der vielen Jugendbanden Cali anschloss. Heute 15 Jahre alt lebt er zwischen Gewalt und Tod und weiß, dass sein Leben jederzeit vorbei sein kann. Seine Situation ähnelt der von Tausenden von Jugendlichen im Armenviertel Aguablanca. Man fürchtet sie, verfolgt sie, tötet sie.

Estabana Valencia

aus der Ortschaft Palenque (Karibikküste), verkauft Früchte auf der Straße und an den Stränden Cartagenas. Arbeitet 16 Stunden am Tag und verdient dennoch nicht genug, um ihre Familie zu ernähren. Vor einigen Jahren erschien ihr Foto in einer Tourismusbroschüre, die in der ganzen Welt verbreitet wurde. Jetzt, wo sie alt ist und nicht mehr aufrecht gehen kann, verfolgt sie die Polizei, beschlagnahmt ihre Produkte, verhaftet sie und lässt sie nicht arbeiten. Das touristische Cartagena verfolgt das reale Cartagena, auch wenn es dieses gelegentlich als Teil der Folklore benötigt.

Domingo Córdoba

aus dem Departement Chocó. Arbeitete 30 Jahre lang als Staatsangestellter. Zuerst im Unternehmen für Straßenbau, danach in einer Alkoholfabrik. Als der Betrieb zugemacht wurde, ging er in Frührente. Hat seit 46 Monaten und einigen Tagen seine Pension nicht erhalten. Zuerst verkaufte er die Haushaltsgeräte, danach das Haus selbst. Inzwischen hat er nichts mehr und leidet Hunger mit seiner Familie, die bei Verwandten untergekommen ist. Für ihn, einen alten und müden Mann, gibt es keine Perspektiven in dieser Gesellschaft mehr, die ihn zu einer überflüssigen Existenz gemacht hat.

Enrique Murillo

lebt seit 2 Jahren in einer der zahlreichen, aus Plastik und Karton gebauten Hütten auf den Hügeln von Medellín, die so vielen Vertriebenen als Zufluchtsort dienen. Nostalgisch erinnert er sich an die kleine Finca in Urabá, die ihm früher genug zum Leben bot. Er musste fliehen, als Armee und Paramilitärs die Region überfielen. Heute hat er keine Hoffnung mehr, jemals zurückzukehren. Den Berichten derjenigen zufolge, die als letzte geflohen sind, hat seine Finca heute neue Besitzer. Das Land, das einmal ihm gehörte, dient heute dem Anbau von Exportbananen und der Viehzucht. Das ist das Gesetz der Gewalt, es sind die Zeiten des Paramilitarismus.

Nach offiziellen Zahlen gibt es in Kolumbien 10,5 Millionen Menschen afrokolumbianischer Abstammung (26% der Bevölkerung), die über das ganze Land verteilt sind. Obwohl sie an der Pazifikküste die absolute Mehrheit stellen (90% der Bevölkerung, etwa eine Million Menschen), leben die meisten Afro-Kolumbianer in den Städten. Nach Angaben der letzten Volkszählung von 1993 lebten in Cali 1.064.648 Schwarze, in Bogotá 900.717, in Barranquilla 689.974, in Cartagena 598.307, in Medellín 376.589 und in Santa Marta 218.238.

Die Nachfahren der Afrikaner, die von den Europäern entführt wurden, um als Sklaven in Bergwerken und auf Plantagen zu arbeiten, waren seit ihrer Ankunft Opfer von Ausbeutung und Unterdrückung - eine Situation, die sich mit der Unabhängigkeit nur geringfügig änderte. Trotz des beständigen Kampfs eines Teils der schwarzen Gemeinschften, ihre Autonomie zu bewahren und als Ethnie anerkannt zu werden, besteht in der Gesellschaft eine ethnozentristische Sichtweise fort, die die schwarze Geschichte genau wie die anderer „Minderheiten“ unsichtbar macht, den schwarzen Beitrag zur Herausbildung des Landes leugnet und ihre Rechte ignoriert.

Das „Weiss-Machen“ (blanqueamiento) der Beziehungen und Gebräuche, das v. a. die Sklaverei rechtfertigen sollte, ist bis heute Zeichen des Fortschritts, der Anerkennung und der Ordnung. Indígena oder schwarz zu sein wird immer noch als Pseudonym für Faulheit, Unfähigkeit, Schmutzigkeit, Gefährlichkeit oder Dummheit verwendet. Das real existierende Kolumbien wehrt sich, seine Diversität zu akzeptiert, v. a. weil dies tiefschürfende soziale Veränderungen nach sich ziehen würde. In letzter Zeit wurden zwar Gesetze verabschiedet und man sprach viel von den ethnischen Gruppen, aber in der Praxis unternahmen die sozialen Akteure, darunter auch die ethnischen Gruppen selbst, wenig, um das „multiethnische und -kulturelle Kolumbien“ aufzubauen, von dem in Erklärungen und Gesetzen so viel die Rede ist. Selbst in der Linken und den revolutionären Organisationen, die die kulturelle Autonomie von Schwarzen und Indígenas mit politischen Kampagnen zu unterstützen versuchte, fehlt es immer wieder an Verständnis für die Diskriminierung, die die Angehörigen von Minderheiten täglich erleben. Der weiße Blick macht auch vor den Linken nicht Halt.


Armutssituation - einige Zahlen

In Anbetracht dieser Situation überrascht es wohl kaum, dass die von den ethnischen Gruppen bewohnten Regionen die höchsten Armutsraten besitzen. Die Statistiken verweisen darauf, dass die Lebensverhältnisse der Afrokolumbianer deutlich unter dem Bevölkerungsdurchschnitt liegen und weit von jenen Parametern entfernt sind, die im internationalen Rahmen als Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben gelten.

So können 80% der Schwarzen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen und leben in absoluter Armut. Ihr durchschnittliches Prokopfeinkommen beträgt nur ein Drittel jener 1500 US-Dollar jährlich, die den nationalen Durchschnitt darstellen. 75% der Schwarzen bezieht Einkommen unterhalb des gesetzlich festgelegten Mindestlohns. Ihre Lebenserwartung beträgt nur 55 Jahre (der Landesdurschnitt liegt bei 65 Jahren). Die Kindersterblichkeit in einigen Pazifikregionen erreicht 191 Todesfälle auf 1000 Lebendgeburten, was deutlich über dem Landesdurchschnitt von 39 Todesfällen liegt. Aufgrund der schlechten Gesundheitsversorgung und fehlender Trinkwasseranschlüsse, Kanalisationen und Müllentsorgung werden die schwarzen Gemeinde von Cholera, Malaria, Typhus, Hepathitis und Durchfall- und Atemwegserkrankungen besonders stark Heim gesucht. Verschärft wird diese Situation durch die schwere Krise des Gesundheitssystems, die als Folge der neoliberalen Regierungspolitik immer geringere Mittel zur Verfügung gestellt bekommt. Zudem hat nur ein kleiner Teil der schwarzen Bevölkerung überhaupt Zugang zum Sozialsystem. An der Pazifikküste existiert nur in drei von 42 Gemeinden ein öffentliches Gesundheitswesen, an der Atlantikküste in 61 von 183 Gemeinden.

Auch der Analphabetismus der afrokolumbianischen Bevölkerung ist mit 43% auf dem Land und 20% in den Städten höher als sonst in der Gesellschaft (23% auf dem Land, 7,3% in den Städten). In den ländlichen Regionen der Pazifikküste erreicht die Grundschulerziehung nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung, ein sekundäres Erziehungssystem funktioniert gar nicht. Nur 2 von 100 schwarzen Jugendlichen, die an der Paziffikküste das höhere Schulwesen beenden, gehen auch auf die Universität. 95% der Familien können die Studiengebühren nicht bezahlen.

Und schließlich ist auch die Art der Erziehung in Frage zu stellen. Das Erziehungswesen in Kolumbien ist homogenisierend, es ignoriert die Beiträge und die Realität der ethnischen Gruppen. Nicht einmal in den Regionen, in denen diese die Mehrheit darstellen, gibt es Programme, die die soziokulturellen Eigenheiten, Notwendigkeiten und Interessen der schwarzen Gemeinschaften berücksichtigen.


Beschäftigung

Ein hoher Prozentsatz der schwarzen Bevölkerung verdingt sich als unqualifizierte Arbeitskraft in ungeschützten und extrem schlechte bezahlten Beschäftigungsverhältnissen. An der Pazifikküste, wo die Bevölkerung noch nicht von Paramilitärs vertrieben wurde, leben die Schwarzen auf Subsistenzniveau und arbeiten als Goldsucher, Kleinbauern, Fischer oder Holzfäller. Dort, wo die Bevölkerung nicht mehr über das eigene Land verfügt, wie in Urabá, Tumaco und im Rest des Landes, wo der Grundbesitz in den Händen weniger konzentriert ist, verdienen die meisten ihr Geld als Landarbeiter in der Agroindustrie - Bananen, Zuckerrohr, afrikanische Palme - oder in Bergwerken für Kohle, Nickel und Gold.

In den Städten hingegen finden Schwarze meist nur auf dem Bau, als Müllentsorger, Straßenfeger oder in der informellen Wirtschaft (Müllrecycling auf unterstem Niveau, Straßenverkäufer, Glücksspiel etc.) eine Arbeit. Afrokolumbianer mit höherer Bildung werden meist nur vom Staat angestellt. Besonders ausgeprägt ist dies an der Pazifikküste. Dort jedoch setzt die staatliche Verwaltung, wie schon erwähnt, ihre Lohn- und Pensionszahlungen oft jahrelang aus.

In der Privatwirtschaft ist die Präsenz von Afrokolumbianern sehr gering. Das hat dazu geführt, dass es in einigen Einkaufszentren von Cali, Medellín und Bogotá Protestaktionen gegen Rassismus gab. Auch transnationale Unternehmen in der Kohle- und Ölförderung wurden erst durch Proteste dazu gezwungen, Afrokolumbianer zu beschäftigen.


Die Auswirkungen des Neoliberalismus auf die schwarze Bevölkerung

Der Einbruch der nationalen Wirtschaft, der durch die von Weltbank und transnationalen Unternehmen erzwungenen neoliberalen Maßnahmen verursacht wurde, haben die Lebensverhältnisse der ärmsten Bevölkerungsschichten deutlich verschlechtert. Während zur Lösung der Armutsprobleme eigentlich soziale Investitionen notwendig wären, haben die IWF-Rezepte v. a. die Verringerung der öffentlichen Ausgaben, die Privatisierung der Sozialversorgung und die Schließung von Staatsbetrieben beinhaltet. Die Tendenz, dass sich der kolumbianische Staat immer stärker darauf beschränkt, Infrastruktur für das Kapital bereit zu stellen sowie Sicherheit und Rentabilität von Investitionen zu gewährleisten, hat die soziale Last für die Communities vergrößert.

Inzwischen dürfte etwa die Hälfte der Afrokolumbianer in Kolumbien keine Arbeit mehr haben. Diejenigen, die vom Staat abhängig sind, sind von den Haushaltssperren betroffen, die zahlreichen Institutionen verhängt haben. Eine derartige Situation findet man sowohl im Chocó, als auch in Cauca, Nariño und an der Atlantikküste. Wenn man weiß, dass selbst in Buenaventura, wo 60% der kolumbianischen Außenhandels abgewickelt wird, wegen der Regierungskorruption und falscher Steuerpolitik seit Monaten keine Löhne mehr gezahlt werden können, kann man sich vorstellen, wie die Lage in der ärmeren Regionen aussehen muss.


Globalisierung und Gewalt

Die durch das neoliberale Modell erzeugte Konkurrenz hat die wirtschafltichen Eliten des Landes dazu gezwungen, sich auf jene Sektoren des Weltmarkts zu konzentrieren, wo man aufgrund komparativer Vorteile eine Chance zu besitzen glaubt. Man setzt dabei weder auf den industriellen Bereich, der aufgrund technologischer Rückständigkeit und fehlender Infrastruktur keine echten Entwicklungschancen bietet, noch auf den traditionellen agroindustriellen Sektor, wo die internationale Konkurrenz zu groß ist, sondern konzentrierte sich auf den Drogenhandel, die (Über-) Ausbeutung von Resourcen und den Bau von Großprojekten, die die internationale Warenzirkulation garantieren (Verkehrsprojekte etc.).

Früher beruhte das Wirtschaftsmodell auf der Importsubstituierung und der Stärkung interner Märkte. Die Entwicklungszentren waren hierbei die zentrale Andenregion zwischen Cali, Medellín und Bogotá sowie einige Küstenstädte, die über Überseehäfen verfügten. Der Rest des Landes, der fast ausschließlich von den ethnischen „Minderheiten“, Kleinbauern und Kolonisatoren bewohnt wurde, fand kaum Berücksichtigung. Heute, wo die Eliten verzweifelt nach einer Lücke auf dem Weltmarkt suchen, stellt man fest, dass die natürlichen Resourcen - Biodiversität (Artenvielfalt), fossile Brennstoffe (Öl und Kohle), wertvolle Metalle usw. - hauptsächlich in den bisher marginalisierten Regionen zu finden sind und auch der Drogenhandel sowie die möglichen infrastrukturellen Großprojekte (interozeanische Verkehrsverbindung, Panamericana-Straße) den Randgebieten enorme strategische Bedeutung verleihen. In dieser neuen Situation werden die bisher marginalisierten ethnischen „Minderheiten“ und Kleinbauern zu Opfern brutaler Offensiven. Zynischerweise zielt die paramilitärische Gewalt in manchen Regionen auf die massive Vertreibung der Bevölkerung, in anderen „nur“ auf die Zerschlagung sozialer Organisationen ab. Dort, wo man das Know-How der Schwarzen und Indígenas braucht, also in jenen Regionen, deren Biodiversität für gentechnologische Zwecke genutzt werden soll, ist das Vorgehen des Paramilitarismus selektiver. Man setzt nicht auf Massenvertreibungen, sondern auf die Beseitigung widerständischer Gruppen.

Eine Karte der Gewalt in Kolumbien zeigt die eindeutige Verbindung von strategischen Großprojekten / natürlichen Resourcen einerseits und paramilitärischer Gewalt / Zerschlagung der Communities andererseits. Einige Beispiele:


Urabá, Tumaco, Buenaventura und Pazifikküste: Die wichtigsten Wirtschaftsinteressen in dieser Region sind die Ausbeutung von Edelholzen, die Erweiterung agroindustrieller Palmen- und Bananenpflanzungen, Krebsfarmen, Tourismus, die Modernisierung der Überseehäfen, den Ausbau der Panamericana-Straße und der Drogenexport. Die Verantwortlichen der Gewalt sind hier die Drogenhändlerringe um Carlos Castaño (offizieller Paramilitärkommandant) und die Carteles de Norte y Centro del Valle (die Familien Urdinola, Loaiza und Henao), die in den Verbänden FEDEGAN bzw. AUGURA zusammengeschlossenen Viehzüchter bzw. Bananenunternehmer sowie die Familien Varela, Astorga und Lloreda (letzterer war bis Mitte des Jahres Verteidigungsminister) in Tumaco.

Mittlerer und hoher Atrato, San Juan / Chocó und andere Zonen Westkolumbiens: Hier konzentrieren sich die Wirtschaftsinteressen auf Edelhölzer, Biodiversität und Rohstoffe wie Gold etc. Das Edelholz wurde lange Zeit direkt durch Unternehmen wie TRIPLEX PIZANO oder CARTON COLOMBIA (Smurniff) ausgebeutet. In Anbetracht der von den schwarzen Communities und Umweltschützern vorgebrachten Proteste sind die Unternehmen dazu übergegangen, die Verantwortung für den Holzschlag auf Unternehmen aus der Region abzuwälzen. Die großen Minenunternehmen wie CHOCO-PACIFICO sind unterdessen aus der Region verschwunden und haben neuen Personen Platz gemacht, die oft in Verbindung mit den Drogenhändlern aus der Region Cali stehen. Bei der Ausbeutung der Biodiversität schließlich werden verschiedene Strategien kombiniert. Eine von ihnen beruht auf der Zusammenarbeit mit NGOs, mit denen Schwarzen und Indígenas aus der Region zum Teil bereitwillig zusammenarbeiten. Zu bemerken ist dabei jedoch, dass die Communities keine echte Kontrolle über die Projekte ausüben. Gleichzeitig bemüht sich die kolumbianische Regierung auf internationalen Veranstaltunggen darum, die natürlichen Resourcen des Landes regelrecht zu verschachern. Besonders gefährlich sind Einrichtungen wie COLOMBO-AMERICANA BIOANDES, die schon mehrmals Abkommen zur Ausbeutung der Resourcen angeboten hat.

Atlantikküste und Süden von Bolivar: Auf den Inseln Tierra Bomba und Barú sind die Einheimischen gezwungen worden, touristischen Großprojekten Platz zu machen, wo sich Ausländer und Oberschicht später einmal erholen sollen. Eine ähnliche Situation gibt es in Coveñas sowie in Acandí und Sapzurro. Außerdem wurden im Golf von Marrosquillo und in der Gegen von Tolú, San Onofre und San Antero zahlreiche Aktivisten von lokalen Volksorganisationen ermordet. Die Anschläge reihen sich in eine Offensive ein, die in Kooperation mit Transnationalen wie BRITISH PETROLEUM in jenen Regionen vorangetrieben wird, wo es Erdölvorkommen gibt oder die von Pipelines durchquert werden. In diesem Fall hängen die Angriffe damit zusammen, dass sich in der Region die Ölverschiffungshäfen von Coveñas befinden, über die auch das Öl der BP exportiert wird. Im Süden des Departements Bolívar, wo 80% der kolumbianischen Goldvorkommen vermutet werden und das ebenfalls eine starke schwarze Bevölkerungspräsenz hat, verstecken sich hinter dem Paramilitarismus und den Massenvertreibungen die transnationalen Interessen von SUR AMERICAN GOLD, AMERICAN BARRICK, FISHER WATH, LA BRISTOL etc. sowie die einheimischen Unternehmen MINERALCO, MINEROS DE ANTIOQUIA und verschiedene Gruppen um den Smaragd-Zar Victor Carranza. Auch die Absichten der Großgrundbesitzer spielen in der Region eine wichtige Rolle.


In all diesen Gebieten, die für das Kapital von Interesse scheinen, wird Terror angewandt, um Vertreibungen durchzusetzen, und überall können die gewalttätigen Aktionen auf Unterstützung aus dem Staatsapparat zählen. Das neoliberale Modell, das in Kolumbien mit Hilfe der Paramilitärs durchgesetzt wird, hat eine Verarmung der Bevölkerung, ökologische Zerstörung und den Ethnozid an den „Minderheiten“ zur Folge. Damit wird jede Perspektive auf Veränderung, wie sie die sozialen Organisationen und Communities hegten, als in Gesetzestexten erstmals die afrokolumbianischen Gemeinden als selbständige Entscheidungsinstanzen anerkannt wurden, zunichte gemacht. Das „Gesetz 70“, das die Autonomie der schwarzen Gemeinden regelt, ist in Anbetracht der realen Vorgehensweise von Staat und Oligarchie in den Territorien der Communities nichts als Augenwischerei. Verfassungsrechtlich sind die Besitzansprüche der schwarzen Gemeinden festgehalten worden, aber in der Praxis werden die Bewohner vertrieben, das soziale Geflecht zerstört und autonome Organisierungsformen angegriffen, um jede Opposition im Keim zu ersticken.

Dazu kommt außerdem das Problem fehlender sozialer Investitionen. In diesem machiavellischen Plan scheint es so, als sollte die systematische Marginalisierung durch den Staat das erreichen, was die Gewalt allein nicht bewirken kann: die Abwanderung der Afrokolumbianer in die Elendsviertel der Großstädte. Das multiethnische und -kulturelle Kolumbien, das Ende des 20. Jahrhunderts in der neuen Verfassung festgehalten worden ist, ist nichts als ein leeres Versprechen. Die Rechte der Communities werden beständig verletzt, der Staat setzt seine ethnozentristische Politik fort. Existentierende Widersprüche zwischen Neoliberalismus-Globalisierung und den Rechten der „Minderheiten“ werden weiterhin mit Gewalt „gelöst“. Aus diesem Grund sind Ziele wie der Neuaufbau der Gesellschaft und ein Frieden mit sozialer Gerechtigkeit noch weit entfernt. Durchgesetzt werden können sie nur durch die Organisierung und die Aktionen der Communities selbst.

Die afrokolumbianischen Communities wissen das und leisten auf dem Land und in der Stadt erstaunlichen Widerstand. Die Wurzeln dieser Kämpfe liegt im Widerstand von Leuten wie Carlos Ramos, El Tío Américo, Rafael Valencia, Felix Murillo und den Bauern am Atrato-Fluss. Ihre Opfer werden nicht umsonst sein.


Rafael Vázquez kommt aus der Community-Arbeit und ist einer der Sprecher der ELN in Europa

preisfuchs:

kicky warst du schon einmal in kolumbien?

 
22.08.01 09:59
der bruder meiner schwägerin ist da missionar.
guter bericht und meines erachtens besser wie die sonstigen sex schnullis. der das lesen will wird es tun, der andere soll ruhig weiter zu blond und anna posten.
lieber etwas lesen das lang ist und sich lohnt zu lesen als lulli kurz und sinnlos.
josua1123:

"Wir haben die Gabel erfunden" (noch länger)

 
22.08.01 10:13
Der Text ist zwar etwas lang aber er brennt mir unter den Nägeln

Interview. Der Schriftsteller Andrej Kurkov über Schweine, Wodka, Zimt und das fehlende Nationalbewusstsein in seinem großen, unbekannten Land: der Ukraine.

profil: Herr Kurkov, in einem Ihrer Romane wird ein sowjetischer Geheimdienstagent losgeschickt, um herauszufinden, welche "heiligen Dinge" das Wesen der Ukrainer ausmachen. Was würden Sie ihm da raten?
Kurkov: Das Wichtigste ist immer, die nationale Droge zu suchen. Jede Nation hat etwas, das sie glücklich macht, egal, wie schlimm die Umstände sind.

profil: Also Wodka. Der unterscheidet sich aber wohl kaum vom russischen.
Kurkov: Aber nein! Das wäre viel zu einfach. Wodka kommt nie allein. In Russland gibt es zum Wodka Salzgurken. In der Ukraine gibt es immer Wodka und Schweinespeck. Das hat einen emotionalen Wert und verrät schon das Wichtigste: Hier gibt es Viehzucht, hier leben Experten in Sachen entwickelter Landwirtschaft.

profil: Die Witze über die Ukrainer und ihre Schweine sind also begründet?
Kurkov: Das sind keine Witze, das ist die Wahrheit. Sogar auf einem Empfang der ukrainischen Botschaft in der Schweiz liegen auf den Silbertabletts Brötchen mit Schweinespeck.

profil: Bei den Russen gehören zum Wodka die philosophischen Küchengespräche. Bei den Ukrainern auch?
Kurkov: Die Russen sind gewohnt, Orte zu missbrauchen. Die Ukrainer sind traditioneller und tun in der Küche, was sich gehört: essen. In ihrer Mentalität sind sie stabiler, logischer. Sie mögen Grenzen. In gewissem Sinn sind sie deutscher als die Russen.

profil: Das heißt: westlicher?
Kurkov: Deutsch in der Art, dass sie ihre Nachbarn nicht so mögen. In jedem Dorf gibt es Streit um 20 Zentimeter Grundstücksgrenze.


profil: Wo findet dann die Philosophie statt?
Kurkov: Es gibt keine Philosophie in der Ukraine. Es gibt ein einfaches, natürliches Leben. Der Kartoffelkeller ist das Bankkonto: Wenn man etwas braucht, holt man Kartoffeln aus dem Keller und geht sich damit ein Paar Schuhe kaufen.

profil: Es geht also ums Essen?
Kurkov: Natürlich. Immer. Essen ist Kult. Dieses Land hat eine beinahe genetische Angst vor dem Hungertod, 1933 und 1947 gab es zwei Hungersnöte. Millionen sind elend gestorben. Von damals stammt der bis heute existierende Hass der Dörfler auf die Stadt. Die Städter wussten gar nicht, dass draußen Hunger herrscht. Die Ernte wurde auf Stalins Befehl geraubt und in die Städte geschafft, die Polizei bewachte die Stadtgrenzen und jagte die Hungernden fort. Heute ist man glücklich, wenn etwas wächst. Obwohl kein Ukrainer das je zugeben würde. Es gehört zum guten Ton zu jammern.

profil: Reicht das schon, um darauf eine Nation aufzubauen?
Kurkov: Als die Ukraine unabhängig wurde, haben nationalistische Pseudowissenschafter versucht, die Geschichte neu zu schreiben. Ein Buch behauptete, die Ukrainer wären die "wahren Arier" und kämen vom Himalaya, fünf Auflagen waren ausverkauft. In der Stadt Lwow ging die Fama um, Jesus Christus wäre Ukrainer gewesen. Und anderswo wurde behauptet, dass Troja die ukrainische Hauptstadt war.

profil: Das verrät eine ziemlich verzweifelte Sehnsucht nach Größe.
Kurkov: Die Ukrainer waren immer unterdrückt. Sie hatten nie ihre eigene Aristokratie, die Herrschaft war immer polnisch oder russisch. Wir hatten immer das Gefühl, jemand Fremder experimentiert mit uns. Sogar die Unabhängigkeit heißt in den Zeitungen heute "das Experiment der Unabhängigkeit".

profil: Ein Untertanenvolk?
Kurkov: Es ist noch nicht so lange her, dass hier die Leibeigenschaft aufgehoben wurde. Die Menschen haben gelernt, die Dinge hinzunehmen, wie sie kommen. Unter Gorbatschow gab es ein Referendum über die Unabhängigkeit - 90 Prozent waren dagegen. Ein paar Jahre später gab es noch eins - da waren 90 Prozent dafür.

profil: Wie kommt das?
Kurkov: Der Ukraine fehlen die Helden. Wir hatten keine Könige, keinen Robin Hood. Die wichtigsten Ukrainer regierten nicht die Ukraine, sondern die Sowjetunion: Tschernenko, Breschnew, Chruschtschow. Den Menschen fehlen deswegen die Orientierungspunkte. Weil es nie eine ruhmreiche Geschichte gab, gibt es auch keine ruhmreiche Gegenwart.

profil: Aber Sie haben den Nationaldichter, Taras Schewtschenko, um den ein Kult betrieben wird.
Kurkov: Ja, aber das ist eine zwiespältige Geschichte. Schewtschenko war das Kind ukrainischer Leibeigener, konnte gut zeichnen und wurde von russischen Aristokraten nach Petersburg gebracht, wo sie ihm die Ausbildung an der Kunsthochschule finanzierten. Schewtschenko schrieb Romane auf Russisch und Gedichte auf Ukrainisch, die ziemlich antirussisch und antisemitisch waren.

profil: Aus russischer Sicht könnte man sagen: wie undankbar.
Kurkov: Ein Ukrainer würde sagen: wie mutig.

profil: Gäbe es die Ukrainer ohne die Russen überhaupt?
Kurkov: Natürlich nicht. Das Wichtigste ist, sich von den Russen zu unterscheiden.

profil: Sie als Angehöriger der russischen Minderheit sind also kein Ukrainer?
Kurkov: Das Hauptproblem ist, dass "Ukrainer" eine Ethnie bezeichnet und nicht die Nation. Juden, Krim-Tataren oder Russen gehören nicht dazu. Psychologisch gesehen bin ich also Ukrainer zweiter Klasse. In einer Zeitung hieß es einmal, ich sei zwar ein respektabler Schriftsteller, aber mit ukrainischer Literatur hätte ich nichts zu tun. Einmal war ich mit einer Musikkapelle von Krim-Tataren in Frankreich, um die ukrainische Kultur zu repräsentieren. Sie können sich vorstellen, was da hier los war.

profil: Die Abgrenzung durch die Sprache scheint das Wichtigste zu sein.
Kurkov: Ja. Ich war Redakteur im Staatsverlag, Abteilung ausländische Literatur. Jeder hatte da ein sechsbändiges Lexikon auf dem Tisch, mit sämtlichen ukrainischen Dialektwörtern. Der Auftrag war, bei allen Übersetzungen jenes Wort zu finden, das vom Russischen so weit wie möglich entfernt ist, auch wenn es seit hunderten Jahren kein Mensch mehr kennt. Mit dem Wortschatz, den ich da lernte, kann ich heute jeden richtigen Ukrainer vor den Kopf stoßen.

profil: Die Russen verspotten die ukrainische Sprache als kindlichen Dialekt …
Kurkov: Die meisten, die glauben, dass sie ukrainisch sprechen, sprechen eigentlich Surzhak. Das ist die Mischsprache der städtischen Vororte, von Gemeindebediensteten, Polizisten, Straßenkehrern. Surzhak ist ein Statuskennzeichen - die Russen machen sich drüber lustig, und die Ukrainer genieren sich für ihre ungebildeten Verwandten.

profil: Wo liegt, aus ukrainischer Perspektive betrachtet, Europa?
Kurkov: Sehr weit weg. Der Westen ist Amerika, Europa ist Deutschland.

profil: Die EU ist doch schon sehr nah, umso mehr als Polen demnächst beitreten wird.
Kurkov: Umso schlimmer. Die Polen kennt man schon, und die mag man nicht. Die Ukrainer sind kein Entdeckervolk. Geografie ist eine suspekte Wissenschaft.

profil: Vom Westen erwartet man sich gar nichts?
Kurkov: Es gibt bloß drei Arten von Reisenden: Frauen, die nach Deutschland heiraten, illegale Arbeiter, die in Tschechien, Polen oder der Slowakei Geld verdienen, und Händler, die in der Türkei billigen Ramsch einkaufen. Sie suchen dort nur ein bisschen Verdienst. Ihre Mentalität ändert sich dadurch nicht - auch dort wird auf sie heruntergeschaut, auch dort müssen sie Angst haben.

profil: Es mangelt also an Selbstbewusstsein?
Kurkov: Und wie. Es gibt nicht einmal eine staatliche Propaganda, die versucht, Selbstbewusstsein vorzutäuschen. Wir haben eine Fernsehserie, die heißt: "Es ist nicht alles schlecht bei uns zu Hause". In Amerika steckt der optimistische Patriotismus sogar im Unbewussten. Wenn wir nur ein bisschen davon hätten, ginge es dem Land schon viel besser.

profil: Und die Politik?
Kurkov: Wir haben keine Politiker. Die Nationalisten der ersten Jahre hatten zwar Ambitionen, aber verstanden nichts von Wirtschaft. Man gab ihnen ein paar Ministerien, dort durften sie Sprache und Folklore hüten. Die Macht hat man den Geschäftsleuten überlassen. Die kümmern sich um ihr privates Business und tun nicht einmal so, als bewege sich das Land in irgendeine Richtung.

profil: Wieso lassen sich die Leute das alles gefallen?
Kurkov: Wir sind eine Bevölkerung, aber kein Staat. Niemals käme die Westukraine auf die Idee, sich mit der Ostukraine zusammenzutun, um für eine bessere Ukraine zu kämpfen. Jede Familie baut ihre eigene private Ukraine auf ihrem halben Hektar Grund. Im Kommunismus gab es zumindest Parteikarrieren - wenn sich der Traktorfahrer im Dorf hervortat, gab man ihm das Gefühl, er sei Teil einer großen Sache. Ein Auswahlsystem für Talente braucht derzeit niemand. Weil alle guten Posten von Freunden und Verwandten besetzt sind und es immer Freunde und Verwandte gibt, die noch keinen guten Posten haben.

profil: Gibt es Nostalgie nach der Sowjetunion?
Kurkov: Niemand hat sich bemüht, sich etwas Neues auszudenken. Die Menschen an der Macht blieben dieselben, der Sekretär der KP, verantwortlich für kommunistische Ideologie, wurde der erste Präsident der unabhängigen Ukraine. Die ukrainische Verfassung wird nicht einmal wahrgenommen. Da steht zum Beispiel die kostenlose Gesundheitsversorgung drin. Versuchen Sie mal, die zu kriegen. Im Spital sagen sie Ihnen, welche Pillen Sie kaufen sollen und was die Operation kostet. Die Leute waren früher dran gewöhnt, umsonst zu arbeiten und Dinge umsonst zu bekommen. Plötzlich merkten sie, dass sie immer noch umsonst arbeiten, aber nichts mehr bekommen.

profil: Sie scheinen trotzdem gern hier zu leben?
Kurkov: Lieber als in Russland. Kiew ist viel freundlicher, viel weniger aggressiv als Moskau. Ich bin vielleicht zu streng. Aber es tut mir leid, dass wir nur auf die weltweit schlimmste Korruption stolz sein können und dass die größte politische Errungenschaft darin besteht, dass uns der Papst besuchen kommt.

profil: Wie ist es, um die Welt zu reisen und jedem erklären zu müssen, woher man kommt?
Kurkov: Dann sage ich: Tschernobyl.

profil: Mit dem seltsamen Dreizack auf dem Staatswappen kann niemand etwas anfangen. Was bedeutet der?
Kurkov: Dass die Ukrainer die Gabel erfunden haben. So wie sie auch behaupten, dass sie den Fernseher erfunden haben, bloß hat ihnen der Westen die Erfindung geklaut. Im Ernst: Keiner weiß, was der Dreizack bedeutet. Er wurde nur ausgewählt, weil er zuvor als bourgeois-nationalistisches Symbol verboten gewesen ist. Dasselbe gilt für die blau-gelbe Fahne.

profil: Die bedeutet aber etwas?
Kurkov: Das Gelb des Getreides und das Blau des Himmels. Die Leute, die sich das ausgedacht haben, brauchten nicht viel Fantasie, die haben sich bloß umgeschaut. Als eine Art "natürliche Fahne" ist das wohl das Richtige für uns.

profil: Womit wir wieder bei den Nahrungsmitteln wären. Wie ist das übrigens mit dem russischen Tee? Ist der jetzt auch verpönt?
Kurkov: In der Westukraine trinkt man Kaffee. In der Ostukraine trinkt man russischen Tee. Ukrainischen Tee gibt es nicht.

profil: In Ihrem Roman "Petrowitsch" riecht die ukrainische Seele nach Zimt. Warum?
Kurkov: Ich habe ein Bild für den Nationalcharakter gesucht. Zimt ist ein freundlicher Geruch. Nicht scharf, nicht unangenehm, vielseitig verwendbar. Er bedeutet Frieden, Freundlichkeit, Weihnachten, kleines Glück bei den Keksen. Man kann ihn nicht überdosieren.

profil: Und man verwendet Zimt tatsächlich ausgiebig?
Kurkov: Ja. Bloß kommt auch der Zimt aus Polen.

Interview: Sibylle Hamann

Andrej Kurkov, 40, ist der bei weitem erfolgreichste ukrainische Schriftsteller der Gegenwart. Er ist russischer Abstammung und schreibt auf Russisch. Seine Romane, darunter "Picknick auf dem Eis", "Ein Freund des Verblichenen" oder "Petrowitsch", wurden in viele Sprachen übersetzt und erschienen auf Deutsch im Diogenes-Verlag


Danke an die Ukraine
wie würde ich sonst meine Spagetti essen?

:-)

jo.
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