Revolution im zweiten Anlauf
Die New Economy ist nur scheintot, schon der nächste Boom kann sie wiederbeleben – als Next Economy
Von Thomas Fischermann
Wer hätte es gedacht? Die Vorzeigeunternehmen der Dotcom-Ära sind wieder da. Da ist zum Beispiel die kleine Firma Google am Stadtrand des kalifornischen Mountain View. Schon in der Eingangshalle sieht es so aus, als habe der Technologiecrash im Frühjahr 2000 nie stattgefunden: Da stehen lustige knallrote Riesensofas, Lavalampen, ein Klavier und eine Holzeisenbahn; in den eigentlichen Arbeitsbereich haben einige Mitarbeiter ihren Nachwuchs mitgebracht, der zwischen all dem Spielzeug herumtobt, und für die Erwachsenen gibt es einen hauseigenen Masseur. Handfeste Produkte stellt hier, wie zu den besten Zeiten der wilden neunziger Jahre, keiner her. Die Firma bietet auf ihrer Web-Seite Wegweiser durchs Internet an, und die sind für jedermann kostenlos. Und trotzdem: Im vergangenen Jahre setzte die Firma nach Analystenschätzungen 100 bis 150 Millionen um, binnen Jahresfrist stieg dieser Umsatz um die Hälfte, und weltweit waren 500 Mitarbeiter beschäftigt. In der Empfangshalle stehen Bewerber in Krawatten und Sportschuhen Schlange. Und Google ist kein Einzelfall. Eine Flugstunde weiter südlich, in Pasadena, macht zum Beispiel das Unternehmen Overture Schlagzeilen in der Wirtschaftspresse: Es schreibt nämlich anhaltende Gewinne, obwohl die Geschäftsidee lautet, Anzeigen im Internet zu platzieren. Dabei war dieses Geschäft längst totgesagt, und nicht mal konventionelle Werbeagenturen kommen in diesen Flautejahren auf einen grünen Zweig. Jetzt will ein wohl bekannter Internet-Riese, der Verzeichnisdienst Yahoo!, die kleine Firma Overture für spektakuläre 1,6 Milliarden Dollar übernehmen. DNA-STRANG: Die guten Eigenschaften der New Economy zeigen sich erst in der zweiten Generation© Anton Markus Pasing für DIE ZEIT www.remote-controlled.de
Die E-Biz-Überraschung titelte das amerikanische Unternehmermagazin Business Week schon euphorisch. „Es war nicht alles Hype.“ Etliche der verloren geglaubten Dotcom-Unternehmen schreiben wieder schwarze Zahlen, im Silicon Valley wie in Deutschland. Die Technologiebranche und ganz besonders die Dienstleister rings um das Internet stellen sich nach der langen Flaute auf ein Comeback ein. Heißt das, dass die in den neunziger Jahren bejubelte Internet-Revolution nun doch noch passiert?
Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte lässt vermuten, dass der große Technologiecrash tatsächlich nicht das letzte Wort zu diesem Thema war. Großbritannien zum Beispiel machte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz ähnliche Erfahrungen mit der so genannten Eisenbahn-Revolution: Ein Unternehmen nach dem nächsten eröffnete damals seine Gleise und Stationen, eine Flutwelle von Spekulationskapital finanzierte mehrere Bahnhöfe pro Stadt und mancherorts gleich doppelte Bahnstrecken. Am Ende wurden Eisenbahnaktien in London sogar auf der Straße gehandelt, und kein Inselbewohner wollte mehr ohne die heißen Papiere dastehen. Bis 1845 die Aktienkurse wegen der offensichtlichen Überkapazitäten zu purzeln begannen, 1847 die Börse kollabierte und Hunderte Bahnunternehmen samt ihren Anlegern Bankrott gingen.
Doch auf den großen viktorianischen Eisenbahncrash folgte wenig später erst recht eine goldene Ära. Für solide geführte Bahnfirmen, Spediteure und Dienstleister gerieten die Jahre nach dem Crash zur Boomzeit, und 65 Jahre später hatte sich das Gleisnetz verzehnfacht. Eigentlich ist so etwas in der Wirtschaftsgeschichte immer wieder passiert. Zum Ende des 18. Jahrhunderts war es der Ausbau der britischen Kanäle, der erst zu einer Spekulationswelle führte und 1793 viele Anleger ruinierte. Doch in den Jahrzehnten danach verdoppelte sich das Kanalnetz und leistete einen wesentlichen Beitrag zur industriellen Revolution. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren es die amerikanischen Automobilhersteller, deren Zahl bis zum Jahr 1909 auf 274 anschwoll – und danach kollabierte. 1955 gab es bloß noch sieben Firmen, aber das Automobil hatte die Welt verändert. Eine Rückbesinnung auf die Old Economy? Das wäre wirklich mal was Neues.
Stattdessen ist auf technologisch inspirierte Spekulationsblasen häufig eine Next Economy gefolgt, eine Art Revolution im zweiten Anlauf. Der amerikanische Ökonom Raymond Vernon sprach von der „Reifephase“ neuer Technologien, die venezolanische Soziologin Carlota Perez beschrieb „goldene Zeitalter“, und im Grunde ist immer vom Gleichen die Rede. Die wildesten Experimente sind vorbei, die neue Technik ist allgemeiner verfügbar, meist zu Ausverkaufspreisen, und es finden sich Hunderte neuer Anwendungsfelder. Unternehmer haben aus dem Crash gelernt, welche Geschäftsmodelle nicht funktionieren, und einige verdienen jetzt richtig Geld. Wiederholt sich die Wirtschaftsgeschichte auch im Zeitalter der Bits und Bytes? Erweist sich die Informationsrevolution mit Verspätung doch noch als würdige Nachfolgerin der Industrie, der Eisenbahn- oder der Elektrizitätsrevolution?
So bunt und auffällig sie auch daherkommen mögen: Die Googles, Expedias und die vielen anderen – neuerdings erfolgreichen – Dotcom-Firmen können die Antwort allein nicht liefern. Denn grundlegende Umwälzungen in der Wirtschaft sind mehr als der Erfolg einer Reihe neuer Unternehmensmodelle. Die interessantere Frage lautet, so Microsoft-Gründer Bill Gates, ob die Berge von Computertechnik und die immer enger verflochtenen Datenstränge allmählich auch „der alten Wirtschaft neue Nerven“ verschaffen können. Und ob diese Technologien, wie einst die Eisenbahn oder das Telefonnetz, unsere Art des Wirtschaftens quer durch alle Branchen umkrempeln können. Denn davon wurde zwar in den neunziger Jahren viel geredet, aber passiert ist es nicht.
„Der Anteil der Informationstechnologie an der gesamten Wertschöpfung ist ziemlich klein“, hat Brent Moulton einmal ausgerechnet, ein Ökonom, der beim Bureau of Economic Analysis (BEA) des amerikanischen Kongresses für die Ermittlung des Bruttoinlandsproduktes zuständig ist. Statistiker, Ökonomen und Unternehmensberater haben sich in den vergangenen Jahren an Schätzungen versucht, welche Wirtschaftsbereiche überhaupt von der neuen Technologie profitiert haben – und je nach Rechenart und Daumenstärke kommen sie auf vier, fünf, zwölf, 18 oder sogar 33 Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung. Recht wenig, und das im Heimatland der Computer- und Internet-Technik. Wirklich nützliche Verwendungen der neuen Technik gebe es ohnehin nur in „jenen Branchen, die Informationstechnik entweder herstellen oder besonders intensiv nutzen“, sagt Kevin Stiroh, ein Ökonom bei der Federal Reserve Bank of New York. Der prominente Ökonom Robert Gordon riet aus solchen Gründen schon, man möge den Begriff von der „informationstechnischen Revolution“ bitte streichen.
Auch die Dampfmaschine setzte sich erst nach Jahrzehnten durch
Doch muss es auf Dauer bei diesen enttäuschenden Zahlen bleiben? Es gibt Ökonomen, die in solchen Fragen deutlich mehr Geduld aufbringen als die Herren Moulton, Stiroh und Gordon. Joel Mokyr zum Beispiel, ein Wirtschaftshistoriker an der Northwestern University in der Nähe von Chicago. Er hat sich ein Leben lang mit den frühen industriellen Revolutionen Großbritanniens auseinander gesetzt. „Einige Leute wollten auch schon den Begriff der industriellen Revolution abschaffen“, spottet der Professor und hat eine Überraschung auf Lager. Für ihn ist es ein alter Hut, dass wirtschaftliche Revolutionen im Schneckentempo voranschreiten – und dass zu den Zeiten des Hype, der allgemeinen Technikeuphorie, unterm Strich eher wenig passiert.
Ein weiterer Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte also. Die Periode von 1760 bis 1830 wurde die „Jahre der Wunder“ genannt. Eine folgenschwere Epoche, in der eine Welle von Erfindungen in die Patentämter schwemmte: Dampfmaschinen, Spinnmaschinen, neue Färbemethoden, automatische Webstühle, die Gasbeleuchtung. Die neuen Verfahren wurden gern in wissenschaftlichen und ökonomischen Zirkeln diskutiert, doch ihre Anwendung blieb trotzdem jahrzehntelang auf einzelne Unternehmen oder Orte beschränkt. In der Produktivitäts- und Wachstumsstatistik war von den Neuerungen nichts zu sehen, und die Reallöhne stiegen erst viel später. Warum eine solch lange „Verdauungsperiode“ für die vielen Patente?
Offenbar war das Problem, dass technologische Umwälzungen eben alles so grundlegend anders machen. Erfindungen wie die Dampfmaschine – und vielleicht heute der Siliziumchip und das Internet – sind so genannte Basistechnologien. Ihre konkreten Anwendungen müssen erst noch gefunden werden, manche frühen Träume müssen sich erst als Luftschlösser herausstellen, und sie erfordern große Investitionen. Ebenso erfordern sie die Aufgabe alter Technik, die auch einmal teuer war. Also braucht es Jahre und Jahrzehnte, Boomphasen und Crashzeiten, bis Neuerungen „in jeden Aspekt des Wirtschaftens eindringen und es uns ermöglichen, Dinge anders und besser zu erledigen“ – so drückt es John Kay aus, der ehemalige Leiter der Saïd Business School in Oxford.
Technische Schwärmer, early adopters und viele übermütige Anleger sorgen da gelegentlich für eine frühe Phase des Hype und müssen bittere Enttäuschungen einstecken. Ihr größter Fehler ist es, zu übersehen, dass ein großer Teil der erwarteten Neuerungen gar nicht technischer Natur ist. „Technologie bringt nur die oberflächlichsten aller Veränderungen hervor“, hat der amerikanische Innovationsexperte Peter Senge einmal kategorisch postuliert. „Technologische Systeme sind soziale Produkte“, erinnert Manuel Castells, ein Soziologe und Internet-Experte an der University of California in Berkeley. Was soll das heißen? Natürlich, die neue Technik – ob Dampfmaschine oder Mikrochip – legt die Grundlage für einen Entwicklungsschub. Doch wenn sie erfunden ist, ist erst noch eine ganze Welle von Folgeinnovationen erforderlich.
Viele dieser Neuerungen sind wiederum technischer Natur, also Aufgaben für Erfinder und Ingenieure. Eine wichtige Klasse von Folgeinnovationen befasst sich etwa mit der Frage, wie Menschen sich mit ihren neuen Geräten arrangieren können: Im Zeitalter der Eisenbahn-Revolution wurden die Bahnübergänge bald mit Warnsignalen ausgestattet und die Personenwagen mit Toiletten ausgestattet, und wenig später boten Personenwagen und Bahnhöfe ihren Besuchern alle erdenklichen Hilfestellungen und Komfortdienste. Doch in der Welt der Bits und Bytes sei diese Phase noch nicht einmal erreicht, klagte der ehemalige Chef des MIT-Computer-Labs, Michael Dertouzos. Er predigte jahrelang seine Idee vom „menschenzentrierten Computerbau“: Geräte, deren Benutzung sich wirklich intuitiv erschließt, die aus einem Kontext selbsttätig auf ihre Aufgaben schließen, die selbstständig hinzulernen und vor allem nicht ständig abstürzen. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie wenig davon bisher umgesetzt ist.
Häufig sitzen die interessantesten Erfinder einer Next Economy aber gar nicht mehr in den Labors und Designstudios. Eine Innovation steht und fällt mit der sinnvollen Anwendung neuer Technik, und deshalb findet man viele Neuerer jetzt eben dort – überall, wo die neue Technik angewendet wird. Es sind soziale, kulturelle und wirtschaftliche Innovationen. Im Internet-Zeitalter können die Neuerer zum Beispiel Unternehmer auf der Suche nach der optimalen Betriebsorganisation sein: Findige Chefs, die neue Arten der Teamarbeit ausprobieren, die durch die Technik erst möglich werden, oder bessere Arten der Speicherung und Vermittlung von Betriebswissen. Richter können dazu gehören, die die Rechtsprechung mit Grundsatzurteilen auf neue Zeiten einstellen („Fallen Radioübertragungen im Internet unter das Rundfunkgesetz?“); auch Politiker, die Hemmnisse abbauen oder neue Regelwerke verabschieden. Nicht zu vergessen sind die Verbraucher: Sie finden im Laufe der Zeit heraus, welche Dienste der neuen Ära ihnen wirklich nützlich sind. Vielleicht kaufen sie Bücher und Klingeltöne fürs Handy wirklich am liebsten im Internet, Gemüse aber weiterhin im Supermarkt. Oder sie kaufen auch das Gemüse online, aber sie lassen es sich in den Kiosk an der Ecke liefern, um nicht den ganzen Tag auf den Paketdienst warten zu müssen. Wenn sie sich entspannen wollen, bleiben sie vielleicht weiterhin vor dem Fernseher sitzen, aber die Nachrichten lassen sie sich per SMS aufs Mobiltelefon schicken oder vom Radiowecker vorlesen. Die Erfahrung lehrt, dass am Ende bisweilen etwas völlig anderes herauskommt, als es sich die Erfinder – die technischen Eliten – gedacht hatten. Alexander Graham Bell wollte aus seinem „sprechenden Telegrafen“ jedenfalls eine Übertragungsanlage für Symphonien und Opern bauen.
Zu den Neuerern gehören nicht zuletzt auch die Skeptiker. Der Historiker Theodore Roszak von der California State University hat dem digitalen Zeitalter bereits eine „neue Ära der Maschinenstürmerei“ angekündigt. Der ehemalige Sun-Microsystems-Chefentwickler Bill Joy, ausgerechnet, sympathisierte öffentlich mit dem Bombenleger Theodore Kaczynski – dem so genannten Unabomber wollte die Welt vor der drohenden Herrschaft der Maschinen warnen. Lobbyisten aller Art, vom Branchenverband bis zur Gewerkschaft, warnen vor den Folgen der neuen Technik und versuchen, Verbote zum Schutz ihrer Pfründe durchzudrücken. Kein Wunder: Wie kann man erwarten, dass innovative Technologien ohne Debatte auf breiter Front unterstützt werden?
Keine Technik gedeiht von allein, sodass die Gesellschaft öffentliche Güter bereitstellen muss. Sie reichen vom Abbau rechtlicher Hemmnisse bis zur Regulierung der neuen Wirtschaft, von Grundsatzurteilen der Gerichte bis zur Entschädigung sozialer Technikopfer in einem Wohlfahrtsstaat. Diese wesentlichen Neuerungen sind nach aller Erfahrung deutlich langwieriger als die Einfälle genialer Erfinder in ihren Labors.
Die meisten Technologien werden erst über- und dann unterschätzt
Nur in der kurzen Phase des Technologiefiebers der späten neunziger Jahre gelang es irgendwie allen Beteiligten, solche Hemmnisse und Bedenken komplett zu verdrängen. Unternehmer und Kunden, Kleinaktionäre und Risikokapitalisten glaubten gemeinsam an eine neue Wirtschaft, die in Windeseile in Garagen, zwischen Pizzaschachteln und vielen Kaffeetassen entstehen sollte. Und obwohl viel dummes Zeug geredet wurde, waren die Macher der Dotcom-Ära hoch intelligente Leistungsträger, frisch von den besten Universitäten. Viele waren radikal gesinnt, sie probierten neue Arbeitsweisen und nie dagewesene Geschäftsmodelle aus. Sie träumten auch von einer lustigeren Arbeitswelt, aber gearbeitet haben die meisten trotzdem hart. Viele Büros der New Economy hatten gleich auch ein paar Matratzen an der Wand stehen.
Das ist auch der Grund, warum es für Optimisten eine ganz eigene Lesart des Technologiecrashs im Frühjahr 2000 gibt: Es war der Abschluss eines gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Experiments rings um die neuen Technologien – eine Art Generalprobe für die Next Economy. Big Bubbles seien eigentlich ein „Knopf zum schnellen Vorspulen des Experimentierens“, hat der marktliberale amerikanische Autor Brink Lindsey einmal geschrieben. Womit das letzte Wort an den Science-Fiction-Autor und Technologieexperten Arthur C. Clarke geht. „Die kurzfristigen Auswirkungen einer neuen Technik werden meist überschätzt“, hat der einmal geschrieben, „und die langfristigen unterschätzt man.“
Zeit.de
Die New Economy ist nur scheintot, schon der nächste Boom kann sie wiederbeleben – als Next Economy
Von Thomas Fischermann
Wer hätte es gedacht? Die Vorzeigeunternehmen der Dotcom-Ära sind wieder da. Da ist zum Beispiel die kleine Firma Google am Stadtrand des kalifornischen Mountain View. Schon in der Eingangshalle sieht es so aus, als habe der Technologiecrash im Frühjahr 2000 nie stattgefunden: Da stehen lustige knallrote Riesensofas, Lavalampen, ein Klavier und eine Holzeisenbahn; in den eigentlichen Arbeitsbereich haben einige Mitarbeiter ihren Nachwuchs mitgebracht, der zwischen all dem Spielzeug herumtobt, und für die Erwachsenen gibt es einen hauseigenen Masseur. Handfeste Produkte stellt hier, wie zu den besten Zeiten der wilden neunziger Jahre, keiner her. Die Firma bietet auf ihrer Web-Seite Wegweiser durchs Internet an, und die sind für jedermann kostenlos. Und trotzdem: Im vergangenen Jahre setzte die Firma nach Analystenschätzungen 100 bis 150 Millionen um, binnen Jahresfrist stieg dieser Umsatz um die Hälfte, und weltweit waren 500 Mitarbeiter beschäftigt. In der Empfangshalle stehen Bewerber in Krawatten und Sportschuhen Schlange. Und Google ist kein Einzelfall. Eine Flugstunde weiter südlich, in Pasadena, macht zum Beispiel das Unternehmen Overture Schlagzeilen in der Wirtschaftspresse: Es schreibt nämlich anhaltende Gewinne, obwohl die Geschäftsidee lautet, Anzeigen im Internet zu platzieren. Dabei war dieses Geschäft längst totgesagt, und nicht mal konventionelle Werbeagenturen kommen in diesen Flautejahren auf einen grünen Zweig. Jetzt will ein wohl bekannter Internet-Riese, der Verzeichnisdienst Yahoo!, die kleine Firma Overture für spektakuläre 1,6 Milliarden Dollar übernehmen. DNA-STRANG: Die guten Eigenschaften der New Economy zeigen sich erst in der zweiten Generation© Anton Markus Pasing für DIE ZEIT www.remote-controlled.de
Die E-Biz-Überraschung titelte das amerikanische Unternehmermagazin Business Week schon euphorisch. „Es war nicht alles Hype.“ Etliche der verloren geglaubten Dotcom-Unternehmen schreiben wieder schwarze Zahlen, im Silicon Valley wie in Deutschland. Die Technologiebranche und ganz besonders die Dienstleister rings um das Internet stellen sich nach der langen Flaute auf ein Comeback ein. Heißt das, dass die in den neunziger Jahren bejubelte Internet-Revolution nun doch noch passiert?
Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte lässt vermuten, dass der große Technologiecrash tatsächlich nicht das letzte Wort zu diesem Thema war. Großbritannien zum Beispiel machte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz ähnliche Erfahrungen mit der so genannten Eisenbahn-Revolution: Ein Unternehmen nach dem nächsten eröffnete damals seine Gleise und Stationen, eine Flutwelle von Spekulationskapital finanzierte mehrere Bahnhöfe pro Stadt und mancherorts gleich doppelte Bahnstrecken. Am Ende wurden Eisenbahnaktien in London sogar auf der Straße gehandelt, und kein Inselbewohner wollte mehr ohne die heißen Papiere dastehen. Bis 1845 die Aktienkurse wegen der offensichtlichen Überkapazitäten zu purzeln begannen, 1847 die Börse kollabierte und Hunderte Bahnunternehmen samt ihren Anlegern Bankrott gingen.
Doch auf den großen viktorianischen Eisenbahncrash folgte wenig später erst recht eine goldene Ära. Für solide geführte Bahnfirmen, Spediteure und Dienstleister gerieten die Jahre nach dem Crash zur Boomzeit, und 65 Jahre später hatte sich das Gleisnetz verzehnfacht. Eigentlich ist so etwas in der Wirtschaftsgeschichte immer wieder passiert. Zum Ende des 18. Jahrhunderts war es der Ausbau der britischen Kanäle, der erst zu einer Spekulationswelle führte und 1793 viele Anleger ruinierte. Doch in den Jahrzehnten danach verdoppelte sich das Kanalnetz und leistete einen wesentlichen Beitrag zur industriellen Revolution. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren es die amerikanischen Automobilhersteller, deren Zahl bis zum Jahr 1909 auf 274 anschwoll – und danach kollabierte. 1955 gab es bloß noch sieben Firmen, aber das Automobil hatte die Welt verändert. Eine Rückbesinnung auf die Old Economy? Das wäre wirklich mal was Neues.
Stattdessen ist auf technologisch inspirierte Spekulationsblasen häufig eine Next Economy gefolgt, eine Art Revolution im zweiten Anlauf. Der amerikanische Ökonom Raymond Vernon sprach von der „Reifephase“ neuer Technologien, die venezolanische Soziologin Carlota Perez beschrieb „goldene Zeitalter“, und im Grunde ist immer vom Gleichen die Rede. Die wildesten Experimente sind vorbei, die neue Technik ist allgemeiner verfügbar, meist zu Ausverkaufspreisen, und es finden sich Hunderte neuer Anwendungsfelder. Unternehmer haben aus dem Crash gelernt, welche Geschäftsmodelle nicht funktionieren, und einige verdienen jetzt richtig Geld. Wiederholt sich die Wirtschaftsgeschichte auch im Zeitalter der Bits und Bytes? Erweist sich die Informationsrevolution mit Verspätung doch noch als würdige Nachfolgerin der Industrie, der Eisenbahn- oder der Elektrizitätsrevolution?
So bunt und auffällig sie auch daherkommen mögen: Die Googles, Expedias und die vielen anderen – neuerdings erfolgreichen – Dotcom-Firmen können die Antwort allein nicht liefern. Denn grundlegende Umwälzungen in der Wirtschaft sind mehr als der Erfolg einer Reihe neuer Unternehmensmodelle. Die interessantere Frage lautet, so Microsoft-Gründer Bill Gates, ob die Berge von Computertechnik und die immer enger verflochtenen Datenstränge allmählich auch „der alten Wirtschaft neue Nerven“ verschaffen können. Und ob diese Technologien, wie einst die Eisenbahn oder das Telefonnetz, unsere Art des Wirtschaftens quer durch alle Branchen umkrempeln können. Denn davon wurde zwar in den neunziger Jahren viel geredet, aber passiert ist es nicht.
„Der Anteil der Informationstechnologie an der gesamten Wertschöpfung ist ziemlich klein“, hat Brent Moulton einmal ausgerechnet, ein Ökonom, der beim Bureau of Economic Analysis (BEA) des amerikanischen Kongresses für die Ermittlung des Bruttoinlandsproduktes zuständig ist. Statistiker, Ökonomen und Unternehmensberater haben sich in den vergangenen Jahren an Schätzungen versucht, welche Wirtschaftsbereiche überhaupt von der neuen Technologie profitiert haben – und je nach Rechenart und Daumenstärke kommen sie auf vier, fünf, zwölf, 18 oder sogar 33 Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung. Recht wenig, und das im Heimatland der Computer- und Internet-Technik. Wirklich nützliche Verwendungen der neuen Technik gebe es ohnehin nur in „jenen Branchen, die Informationstechnik entweder herstellen oder besonders intensiv nutzen“, sagt Kevin Stiroh, ein Ökonom bei der Federal Reserve Bank of New York. Der prominente Ökonom Robert Gordon riet aus solchen Gründen schon, man möge den Begriff von der „informationstechnischen Revolution“ bitte streichen.
Auch die Dampfmaschine setzte sich erst nach Jahrzehnten durch
Doch muss es auf Dauer bei diesen enttäuschenden Zahlen bleiben? Es gibt Ökonomen, die in solchen Fragen deutlich mehr Geduld aufbringen als die Herren Moulton, Stiroh und Gordon. Joel Mokyr zum Beispiel, ein Wirtschaftshistoriker an der Northwestern University in der Nähe von Chicago. Er hat sich ein Leben lang mit den frühen industriellen Revolutionen Großbritanniens auseinander gesetzt. „Einige Leute wollten auch schon den Begriff der industriellen Revolution abschaffen“, spottet der Professor und hat eine Überraschung auf Lager. Für ihn ist es ein alter Hut, dass wirtschaftliche Revolutionen im Schneckentempo voranschreiten – und dass zu den Zeiten des Hype, der allgemeinen Technikeuphorie, unterm Strich eher wenig passiert.
Ein weiterer Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte also. Die Periode von 1760 bis 1830 wurde die „Jahre der Wunder“ genannt. Eine folgenschwere Epoche, in der eine Welle von Erfindungen in die Patentämter schwemmte: Dampfmaschinen, Spinnmaschinen, neue Färbemethoden, automatische Webstühle, die Gasbeleuchtung. Die neuen Verfahren wurden gern in wissenschaftlichen und ökonomischen Zirkeln diskutiert, doch ihre Anwendung blieb trotzdem jahrzehntelang auf einzelne Unternehmen oder Orte beschränkt. In der Produktivitäts- und Wachstumsstatistik war von den Neuerungen nichts zu sehen, und die Reallöhne stiegen erst viel später. Warum eine solch lange „Verdauungsperiode“ für die vielen Patente?
Offenbar war das Problem, dass technologische Umwälzungen eben alles so grundlegend anders machen. Erfindungen wie die Dampfmaschine – und vielleicht heute der Siliziumchip und das Internet – sind so genannte Basistechnologien. Ihre konkreten Anwendungen müssen erst noch gefunden werden, manche frühen Träume müssen sich erst als Luftschlösser herausstellen, und sie erfordern große Investitionen. Ebenso erfordern sie die Aufgabe alter Technik, die auch einmal teuer war. Also braucht es Jahre und Jahrzehnte, Boomphasen und Crashzeiten, bis Neuerungen „in jeden Aspekt des Wirtschaftens eindringen und es uns ermöglichen, Dinge anders und besser zu erledigen“ – so drückt es John Kay aus, der ehemalige Leiter der Saïd Business School in Oxford.
Technische Schwärmer, early adopters und viele übermütige Anleger sorgen da gelegentlich für eine frühe Phase des Hype und müssen bittere Enttäuschungen einstecken. Ihr größter Fehler ist es, zu übersehen, dass ein großer Teil der erwarteten Neuerungen gar nicht technischer Natur ist. „Technologie bringt nur die oberflächlichsten aller Veränderungen hervor“, hat der amerikanische Innovationsexperte Peter Senge einmal kategorisch postuliert. „Technologische Systeme sind soziale Produkte“, erinnert Manuel Castells, ein Soziologe und Internet-Experte an der University of California in Berkeley. Was soll das heißen? Natürlich, die neue Technik – ob Dampfmaschine oder Mikrochip – legt die Grundlage für einen Entwicklungsschub. Doch wenn sie erfunden ist, ist erst noch eine ganze Welle von Folgeinnovationen erforderlich.
Viele dieser Neuerungen sind wiederum technischer Natur, also Aufgaben für Erfinder und Ingenieure. Eine wichtige Klasse von Folgeinnovationen befasst sich etwa mit der Frage, wie Menschen sich mit ihren neuen Geräten arrangieren können: Im Zeitalter der Eisenbahn-Revolution wurden die Bahnübergänge bald mit Warnsignalen ausgestattet und die Personenwagen mit Toiletten ausgestattet, und wenig später boten Personenwagen und Bahnhöfe ihren Besuchern alle erdenklichen Hilfestellungen und Komfortdienste. Doch in der Welt der Bits und Bytes sei diese Phase noch nicht einmal erreicht, klagte der ehemalige Chef des MIT-Computer-Labs, Michael Dertouzos. Er predigte jahrelang seine Idee vom „menschenzentrierten Computerbau“: Geräte, deren Benutzung sich wirklich intuitiv erschließt, die aus einem Kontext selbsttätig auf ihre Aufgaben schließen, die selbstständig hinzulernen und vor allem nicht ständig abstürzen. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie wenig davon bisher umgesetzt ist.
Häufig sitzen die interessantesten Erfinder einer Next Economy aber gar nicht mehr in den Labors und Designstudios. Eine Innovation steht und fällt mit der sinnvollen Anwendung neuer Technik, und deshalb findet man viele Neuerer jetzt eben dort – überall, wo die neue Technik angewendet wird. Es sind soziale, kulturelle und wirtschaftliche Innovationen. Im Internet-Zeitalter können die Neuerer zum Beispiel Unternehmer auf der Suche nach der optimalen Betriebsorganisation sein: Findige Chefs, die neue Arten der Teamarbeit ausprobieren, die durch die Technik erst möglich werden, oder bessere Arten der Speicherung und Vermittlung von Betriebswissen. Richter können dazu gehören, die die Rechtsprechung mit Grundsatzurteilen auf neue Zeiten einstellen („Fallen Radioübertragungen im Internet unter das Rundfunkgesetz?“); auch Politiker, die Hemmnisse abbauen oder neue Regelwerke verabschieden. Nicht zu vergessen sind die Verbraucher: Sie finden im Laufe der Zeit heraus, welche Dienste der neuen Ära ihnen wirklich nützlich sind. Vielleicht kaufen sie Bücher und Klingeltöne fürs Handy wirklich am liebsten im Internet, Gemüse aber weiterhin im Supermarkt. Oder sie kaufen auch das Gemüse online, aber sie lassen es sich in den Kiosk an der Ecke liefern, um nicht den ganzen Tag auf den Paketdienst warten zu müssen. Wenn sie sich entspannen wollen, bleiben sie vielleicht weiterhin vor dem Fernseher sitzen, aber die Nachrichten lassen sie sich per SMS aufs Mobiltelefon schicken oder vom Radiowecker vorlesen. Die Erfahrung lehrt, dass am Ende bisweilen etwas völlig anderes herauskommt, als es sich die Erfinder – die technischen Eliten – gedacht hatten. Alexander Graham Bell wollte aus seinem „sprechenden Telegrafen“ jedenfalls eine Übertragungsanlage für Symphonien und Opern bauen.
Zu den Neuerern gehören nicht zuletzt auch die Skeptiker. Der Historiker Theodore Roszak von der California State University hat dem digitalen Zeitalter bereits eine „neue Ära der Maschinenstürmerei“ angekündigt. Der ehemalige Sun-Microsystems-Chefentwickler Bill Joy, ausgerechnet, sympathisierte öffentlich mit dem Bombenleger Theodore Kaczynski – dem so genannten Unabomber wollte die Welt vor der drohenden Herrschaft der Maschinen warnen. Lobbyisten aller Art, vom Branchenverband bis zur Gewerkschaft, warnen vor den Folgen der neuen Technik und versuchen, Verbote zum Schutz ihrer Pfründe durchzudrücken. Kein Wunder: Wie kann man erwarten, dass innovative Technologien ohne Debatte auf breiter Front unterstützt werden?
Keine Technik gedeiht von allein, sodass die Gesellschaft öffentliche Güter bereitstellen muss. Sie reichen vom Abbau rechtlicher Hemmnisse bis zur Regulierung der neuen Wirtschaft, von Grundsatzurteilen der Gerichte bis zur Entschädigung sozialer Technikopfer in einem Wohlfahrtsstaat. Diese wesentlichen Neuerungen sind nach aller Erfahrung deutlich langwieriger als die Einfälle genialer Erfinder in ihren Labors.
Die meisten Technologien werden erst über- und dann unterschätzt
Nur in der kurzen Phase des Technologiefiebers der späten neunziger Jahre gelang es irgendwie allen Beteiligten, solche Hemmnisse und Bedenken komplett zu verdrängen. Unternehmer und Kunden, Kleinaktionäre und Risikokapitalisten glaubten gemeinsam an eine neue Wirtschaft, die in Windeseile in Garagen, zwischen Pizzaschachteln und vielen Kaffeetassen entstehen sollte. Und obwohl viel dummes Zeug geredet wurde, waren die Macher der Dotcom-Ära hoch intelligente Leistungsträger, frisch von den besten Universitäten. Viele waren radikal gesinnt, sie probierten neue Arbeitsweisen und nie dagewesene Geschäftsmodelle aus. Sie träumten auch von einer lustigeren Arbeitswelt, aber gearbeitet haben die meisten trotzdem hart. Viele Büros der New Economy hatten gleich auch ein paar Matratzen an der Wand stehen.
Das ist auch der Grund, warum es für Optimisten eine ganz eigene Lesart des Technologiecrashs im Frühjahr 2000 gibt: Es war der Abschluss eines gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Experiments rings um die neuen Technologien – eine Art Generalprobe für die Next Economy. Big Bubbles seien eigentlich ein „Knopf zum schnellen Vorspulen des Experimentierens“, hat der marktliberale amerikanische Autor Brink Lindsey einmal geschrieben. Womit das letzte Wort an den Science-Fiction-Autor und Technologieexperten Arthur C. Clarke geht. „Die kurzfristigen Auswirkungen einer neuen Technik werden meist überschätzt“, hat der einmal geschrieben, „und die langfristigen unterschätzt man.“
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