Wall Street-Blues
Wenn ein Mann einen Nagel durch eine Latte schlagen will, dann tut er es ohne Anspruch oder Illusionen. Solange er weiß was er tut, wird er das Holz nicht spalten oder den Nagel verbiegen und die Sache komplett versauen. Aber sobald er die Reichweite seiner Arme und seines Blickwinkels in seinem privaten Umfeld verläßt, befindet er sich in einer anderen Welt, in einer Welt, in der die unmöglichsten Dinge denkbar werden. In der Öffentlichkeit ist nichts klar und einfach, jeder Fehler ist die Schuld eines anderen. Deshalb ziehen so viele Männer die öffentliche Welt vor. Dort gibt es so viel Nebel, daß er das Gefühl hat, hinter jedem Baum eine nur halbbekleidete Nymphe zu sehen oder unter jedem Kopfkissen Bündel von Hundertdollarscheinen.
Viele Industriezweige haben sich au solchen Täuschungen entwickeln können und sind gediehen. Heute schauen wir uns einen davon an. Die Wall Street. Was ist der Zweck der Wall Street? "Kapital effizient zu verteilen", hätte vielleicht ein traditioneller Ökonom gesagt. Aber die Ökonomen fallen oft ihren eigenen dummen Theorien zum Opfer. Ein kommunistischer Ökonom würde höhnen und ausspucken. Die Funktion der Wall Street ist eher, dem Kapitalisten zu helfen, so wie der Lakai dem Ritter hilft – würde er sagen – dem gierigen Hund auf dem Rücken der Arbeiterklasse zu helfen. Man könnte ebenso gut fragen: "Warum gibt es Giraffen?" Die Antwort darauf kann nur lauten: "Weil wir sie noch nicht ausgerottet haben." Alle Tiere – auch die Menschen – existieren nur deshalb, weil sie noch nicht ausgestorben sind. Die Wall Street existiert, weil sie noch nicht verschwunden ist.
Ich bezweifle, daß diese Form des Reduktionismus besonders sinnvoll ist, außer daß er eine gute Grundlage für alles weitere bietet. Ich möchte aus diesem Nebel herauskommen ... in größere Höhen, in denen die Luft klar ist und von wo aus man vielleicht auch etwas sehen kann. Denn das Problem der meisten Anleger ist, daß sie die Wall Street nicht als das erkennen, was sie wirklich ist ... sie stattdessen für eine Art Wunder halten, das seine Form verändert, je nachdem, mit welcher Theorie man an es herantritt. "Wo man steht hängt davon ab, wo man sitzt." Sitzt man im Vorstand von General Motors oder einer anderen geldhungrigen Firma, dann ist der Standpunkt gegenüber der Wall Street ziemlich klar, sie ist dann ein wertvoller und notwendiger Verbündeter. Wenn man in einem der Büros bei Goldman Sachs oder Merrill Lynch sitzt, dann wird man die Wall Street für eine großzügigen und wohlwollenden Arbeitgeber halten, der die eigenen Kinder durch die Privatschulen bringt und der für das Haus in Hampton aufkommt. Und wer ein typischer Investor ist, sieht seinen Aktienmakler an der Wall Street vielleicht so an wie den Familienarzt. Er bietet einen notwendigen und sinnvollen Service. Wie beim Arzt kostet es einen nur einen Telefonanruf und er eilt zur Hilfe. Auch er trägt eine Krawatte und fährt ein schönes Auto. Er ist professionell und er ist da, um einem zu helfen. Sie liegen nicht falsch. Er leistet wirklich wertvolle Dienste. Bevor Sie jedoch ein Dankesschreiben aufsetzen, sollten Sie eine Sache bedenken. Ihr Aktienmakler könnte ein Quacksalber sein.
Die Medizin ist eine Wissenschaft ganz eigener Art. Der Fortschritt ist ein Zusatz. Über die Jahre lernen Ärzte, was funktioniert und noch öfter, was nicht funktioniert. Gibt man einem Patienten ausreichend Strychnin, wird er vermutlich seine Rechnung nicht bezahlen. Selbst einem schlechten Doktor stehen die Ergebnisse von Versuch und Irrtum aus Tausenden von Jahren zur Verfügung. Darunter auch einige Jahre, in denen es um echte Forschung und Beobachtung ging. Und doch können die Dinge immer noch scheitern. Es gibt jedoch keinen Grund, warum die Dinge scheitern sollten, außer reine Inkompetenz oder ein diabolischer Drang.
Aber die Finanzindustrie ist nicht wie die medizinische. Beide behaupten, zu positiven Ergebnissen zu kommen. Hinsichtlich der medizinischen Wissenschaften gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln. Einige der Wunder konnten wir mit eigenen Augen erleben. Die Behauptungen aus der Finanzindustrie sind jedoch zum größten Teil Schwindel. Wenn Sie mit ihren Plazierungen an der Wall Street Geld machen wollen, dann müssen Sie sich selbst fragen: Wann wird der Profit kommen? Eine mögliche Quelle sind die anderen Investoren. Wenn die Haufen der anderen Investoren sinken, dann ist es gut möglich, daß ihrer wächst. Das ist es, was die Wall Street verspricht. Fast jede Werbung für Aktienfonds verspricht, daß man es besser machen wird als die Vorläufer. Selbst wenn sie alle fallen, was den tatsächlichen, echten Wert angeht ... sie werden immer noch krähen, daß die "relative Performance" besser ist als die fast aller anderen. Es ist, als würde ein Doktor damit werben, daß seine Patienten leichter den Tod fanden als die Patienten seiner Kollegen. Aber in der Regel ist er klug genug, von einer solchen Behauptung abzusehen. Bei der Medizin gibt es keine Nullsummenspiele. Bis vor kurzem, als sie von der eigenen Gefräßigkeit eingeholt wurden, ist die Lebenserwartung der Amerikaner jedes Jahr gestiegen. Niemand mußte mit 20 sterben, so daß ein anderer bis 80 leben konnte. Alle konnten länger leben.
Die Wall Street behauptet jedoch, daß das Investieren so etwas sei wie die Gesundheitsvorsorge. Es sei kein Nullsummenspiel. Es muß nicht der eine Anleger "sterben", um einem anderen zu ermöglichen, Gewinne zu erzielen. Wir können alle reich werden. Das ist natürlich so, als würde man behaupten, daß wir alle überdurchschnittlich sein könnten. "Reich" ist ein relativer Wert, kein absoluter. Verglichen mit dem Rest der Welt sind die meisten Amerikaner heute schon reich. Aber der Rest der Welt lebt nicht nebenan und er fährt auch nicht mit einem dicken Mercedes an unserem Haus vorbei zur Arbeit. Wir vergleichen uns mit unseren Nachbarn – die alle über die Wall Street investieren und die auch darauf bestehen, daß ihre Anlagen schneller steigen als unsere. Stellen sie sich einmal vor, in einem Jahr verdoppeln sich die Investitionen aller Leute außer die eines einzigen Dummkopfs, dessen Portfolio um nur zehn Prozent wächst. Zehn Prozent sind immer noch ein guter Ertrag. Und dennoch würde sich der arme Mann wie ein vollständiger Versager fühlen. Er kann von Glück sprechen, wenn seine Frau ihn nicht wegen des Tennistrainers sitzen läßt.
Bei der ganzen Sache handelt es sich offensichtlich um Betrug ... mindestens die Hälfte der Spieler wird selbst unter den besten Voraussetzungen enttäuscht daraus hervorgehen. Al Gore war entsetzt, daß die Hälfte aller Schüler unter dem Durchschnitt lag. Anleger sind alarmiert, wenn in guten Zeiten die Hälfte von ihnen unter dem Durchschnitt bleibt ... in schlechten Zeiten sind sie einfach nur noch angewidert, wenn sie alle Geld verlieren. Und im Laufe der Zeit sind sie alle dazu bestimmt, Geld zu verlieren (verglichen mit dem Markt selbst), denn die Kosten, die das Wall Street Casino verursacht, müssen auch bezahlt werden. Makler, Analysten, Finanziers, Fondsmanager, Kontenmanager – all die Zwischenhändler, die die Wall Street am Laufen halten – schöpfen so lange Gehälter und Pensionen wie sie Luft schöpfen. Auch dieses Geld muß aus den Taschen der Anleger kommen, so daß auf lange Sicht die Erträge der Anleger immer unter den tatsächlichen Erträgen aus den Anlagen selbst bleiben müssen. Und viele, darunter die meisten der kleinen Fische, werden tatsächlich Geld verlieren. Und doch setzen sie immer weiter ihr Vertrauen in die Wall Street – denn sie glauben jedes Wort der Hetze – und jedes Mal schlagen sie so hart auf dem Boden der Tatsachen auf, als wären sie aus dem 23. Stock gesprungen. Es muß sehr deprimierend für die Anleger sein. Aber für die Spekulanten ist es die größte Show der Welt. Das Investieren ist nicht nur keine Wissenschaft, es ist nicht einmal eine Kunst. Es ist, als überfiele man einen Schnapsladen oder als verführte man die Frau des Chefs. Manchmal kommt man damit durch. Manchmal nicht. Man steht jedoch ganz allgemein besser da, wenn man es nicht tut. Nichts löst so einfach ein Versagen aus wie Erfolg. Sobald man auf die Idee kommt, daß man ein selten gewiefter Bursche sein muß, wenn man einen solchen Job ausführen kann, wird man schon den nächsten planen. Und dann wird die Polizei kommen.
Der typische Investor am öffentlichen Markt hat keine Ahnung, was er tut. Sein Geld in eine Aktie oder in einen Aktienfonds zu stecken, bringt ihm für eine Weile Zufriedenheit. Er hält sich für Kirk Kerkorian, der auf General Motors setzt oder für Warren Buffett, der sich klug in einer Versicherungsfirma bewegt. "Ich habe Google gekauft", sagt er zu seiner Frau. Seine Brust schwillt. Er spürt die Krone der Überlegenheit auf seinem Kopf, denn er hat den mächtigsten und geheiligsten Ritus unserer Zeit vollzogen. Er ist an die Wall Street gezogen wie Sir Galahad oder Camelot. Er hat keine Ahnung von der Not, die ihn erwartet ... oder davon, daß er kein Held ist, sondern nur ein armer Bursche ... ein kleines Staubkörnchen auf den weißen Schuhen an der Wall Street.
Die ganze Sache wäre deprimierend, wenn sie nicht auch etwas Komisches an sich hätte. Die Wall Street tut nichts Böses, sie tut nur ihre Arbeit – sie bringt die Dummköpfe um ihr Geld. Die Wurzel des Problems liegt in der Natur des Investierens selbst – zumindest in der öffentlichen Variante, die von den meisten Anlegern praktiziert wird und die von der Wall Street herausgefordert wird. Die Idee dahinter ist, daß ein Mann reich werden kann, ohne daß er dafür arbeitet, eine geniale Einsicht hat oder studiert. Alles was er dafür tun muß ist, sein Geld zu Wall Street zu bringen und ... Rumms! – durch irgendeinen Zauber, der nicht vollständig erfaßt werden kann, kommt es verzehnfacht zu ihm zurück. Er muß seinen Börsenmakler so ansehen wie die Christen Jesus auf dem Hochzeitsfest angesehen haben. Er wirft seinen Hefeteig über den Hudson oder den East River ... und er kommt vermehrt als dickes Geld zu ihm zurück.
Da muß irgendeine Wissenschaft hinter stecken, denkt er sich ... eine angesammelte Weisheit wie im Periodensystem der Elemente oder in den Logarithmentafeln, die die Wissenschaftler bereits vor Jahren entwickelt haben und die ihm heute – so wie Penicillin oder Chinin – zur Verfügung steht. Aber es ist nicht so. Stattdessen ist das gesamte Gebäude an der Wall Street auf einer Lüge errichtet – der Lüge, daß man etwas bekommen kann, ohne etwas dafür zu tun. Was man stattdessen bekommt, ist nichts für etwas. Aber es braucht so lange, das herauszufinden, daß man hereingelegt wurde – wenn man auch schon hereingefallen ist.
Das soll nicht heißen, daß man an der Wall Street kein Geld machen kann. Man kann, sogar haufenweise. Aber die sicherste Möglichkeit ist, selbst in der Anlageindustrie zu stecken ... indem man den Bauern und Lumpen "Anlagen" anbietet, die sie kaufen müssen. Dann können auch sie sechsstellige Gewinne machen ... zusammen mit den anderen Vorteilen, daß man sich ein Haus in Hampton leisten kann, ein Apartment in Manhattan oder mindestens einmal im Jahr Urlaub in Europa. Man kann sogar als einfacher Anleger Geld an der Wall Street machen. Aber dazu muß man wesentlich mehr tun, als einfach nur "am Markt zu sein". Sie müssen mit ihren Anlagen so umgehen, als schlügen sie einen Nagel in eine Latte. Sie dürfen sie nicht als eine öffentliche Anlage betrachten, sondern als eine persönliche Anlage. Sie werden sich die Firma und nicht die Aktie genauer ansehen müssen. Sie werden sehr gründlich recherchieren und nachdenken müssen ... oder sie müssen jemandem ihre Aufmerksamkeit schenken, der das für sie tut. Um es kurz zu machen, sie werden es sich verdienen müssen.
Quelle: in-stock.de
...be invested
Der Einsame Samariter
Wenn ein Mann einen Nagel durch eine Latte schlagen will, dann tut er es ohne Anspruch oder Illusionen. Solange er weiß was er tut, wird er das Holz nicht spalten oder den Nagel verbiegen und die Sache komplett versauen. Aber sobald er die Reichweite seiner Arme und seines Blickwinkels in seinem privaten Umfeld verläßt, befindet er sich in einer anderen Welt, in einer Welt, in der die unmöglichsten Dinge denkbar werden. In der Öffentlichkeit ist nichts klar und einfach, jeder Fehler ist die Schuld eines anderen. Deshalb ziehen so viele Männer die öffentliche Welt vor. Dort gibt es so viel Nebel, daß er das Gefühl hat, hinter jedem Baum eine nur halbbekleidete Nymphe zu sehen oder unter jedem Kopfkissen Bündel von Hundertdollarscheinen.
Viele Industriezweige haben sich au solchen Täuschungen entwickeln können und sind gediehen. Heute schauen wir uns einen davon an. Die Wall Street. Was ist der Zweck der Wall Street? "Kapital effizient zu verteilen", hätte vielleicht ein traditioneller Ökonom gesagt. Aber die Ökonomen fallen oft ihren eigenen dummen Theorien zum Opfer. Ein kommunistischer Ökonom würde höhnen und ausspucken. Die Funktion der Wall Street ist eher, dem Kapitalisten zu helfen, so wie der Lakai dem Ritter hilft – würde er sagen – dem gierigen Hund auf dem Rücken der Arbeiterklasse zu helfen. Man könnte ebenso gut fragen: "Warum gibt es Giraffen?" Die Antwort darauf kann nur lauten: "Weil wir sie noch nicht ausgerottet haben." Alle Tiere – auch die Menschen – existieren nur deshalb, weil sie noch nicht ausgestorben sind. Die Wall Street existiert, weil sie noch nicht verschwunden ist.
Ich bezweifle, daß diese Form des Reduktionismus besonders sinnvoll ist, außer daß er eine gute Grundlage für alles weitere bietet. Ich möchte aus diesem Nebel herauskommen ... in größere Höhen, in denen die Luft klar ist und von wo aus man vielleicht auch etwas sehen kann. Denn das Problem der meisten Anleger ist, daß sie die Wall Street nicht als das erkennen, was sie wirklich ist ... sie stattdessen für eine Art Wunder halten, das seine Form verändert, je nachdem, mit welcher Theorie man an es herantritt. "Wo man steht hängt davon ab, wo man sitzt." Sitzt man im Vorstand von General Motors oder einer anderen geldhungrigen Firma, dann ist der Standpunkt gegenüber der Wall Street ziemlich klar, sie ist dann ein wertvoller und notwendiger Verbündeter. Wenn man in einem der Büros bei Goldman Sachs oder Merrill Lynch sitzt, dann wird man die Wall Street für eine großzügigen und wohlwollenden Arbeitgeber halten, der die eigenen Kinder durch die Privatschulen bringt und der für das Haus in Hampton aufkommt. Und wer ein typischer Investor ist, sieht seinen Aktienmakler an der Wall Street vielleicht so an wie den Familienarzt. Er bietet einen notwendigen und sinnvollen Service. Wie beim Arzt kostet es einen nur einen Telefonanruf und er eilt zur Hilfe. Auch er trägt eine Krawatte und fährt ein schönes Auto. Er ist professionell und er ist da, um einem zu helfen. Sie liegen nicht falsch. Er leistet wirklich wertvolle Dienste. Bevor Sie jedoch ein Dankesschreiben aufsetzen, sollten Sie eine Sache bedenken. Ihr Aktienmakler könnte ein Quacksalber sein.
Die Medizin ist eine Wissenschaft ganz eigener Art. Der Fortschritt ist ein Zusatz. Über die Jahre lernen Ärzte, was funktioniert und noch öfter, was nicht funktioniert. Gibt man einem Patienten ausreichend Strychnin, wird er vermutlich seine Rechnung nicht bezahlen. Selbst einem schlechten Doktor stehen die Ergebnisse von Versuch und Irrtum aus Tausenden von Jahren zur Verfügung. Darunter auch einige Jahre, in denen es um echte Forschung und Beobachtung ging. Und doch können die Dinge immer noch scheitern. Es gibt jedoch keinen Grund, warum die Dinge scheitern sollten, außer reine Inkompetenz oder ein diabolischer Drang.
Aber die Finanzindustrie ist nicht wie die medizinische. Beide behaupten, zu positiven Ergebnissen zu kommen. Hinsichtlich der medizinischen Wissenschaften gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln. Einige der Wunder konnten wir mit eigenen Augen erleben. Die Behauptungen aus der Finanzindustrie sind jedoch zum größten Teil Schwindel. Wenn Sie mit ihren Plazierungen an der Wall Street Geld machen wollen, dann müssen Sie sich selbst fragen: Wann wird der Profit kommen? Eine mögliche Quelle sind die anderen Investoren. Wenn die Haufen der anderen Investoren sinken, dann ist es gut möglich, daß ihrer wächst. Das ist es, was die Wall Street verspricht. Fast jede Werbung für Aktienfonds verspricht, daß man es besser machen wird als die Vorläufer. Selbst wenn sie alle fallen, was den tatsächlichen, echten Wert angeht ... sie werden immer noch krähen, daß die "relative Performance" besser ist als die fast aller anderen. Es ist, als würde ein Doktor damit werben, daß seine Patienten leichter den Tod fanden als die Patienten seiner Kollegen. Aber in der Regel ist er klug genug, von einer solchen Behauptung abzusehen. Bei der Medizin gibt es keine Nullsummenspiele. Bis vor kurzem, als sie von der eigenen Gefräßigkeit eingeholt wurden, ist die Lebenserwartung der Amerikaner jedes Jahr gestiegen. Niemand mußte mit 20 sterben, so daß ein anderer bis 80 leben konnte. Alle konnten länger leben.
Die Wall Street behauptet jedoch, daß das Investieren so etwas sei wie die Gesundheitsvorsorge. Es sei kein Nullsummenspiel. Es muß nicht der eine Anleger "sterben", um einem anderen zu ermöglichen, Gewinne zu erzielen. Wir können alle reich werden. Das ist natürlich so, als würde man behaupten, daß wir alle überdurchschnittlich sein könnten. "Reich" ist ein relativer Wert, kein absoluter. Verglichen mit dem Rest der Welt sind die meisten Amerikaner heute schon reich. Aber der Rest der Welt lebt nicht nebenan und er fährt auch nicht mit einem dicken Mercedes an unserem Haus vorbei zur Arbeit. Wir vergleichen uns mit unseren Nachbarn – die alle über die Wall Street investieren und die auch darauf bestehen, daß ihre Anlagen schneller steigen als unsere. Stellen sie sich einmal vor, in einem Jahr verdoppeln sich die Investitionen aller Leute außer die eines einzigen Dummkopfs, dessen Portfolio um nur zehn Prozent wächst. Zehn Prozent sind immer noch ein guter Ertrag. Und dennoch würde sich der arme Mann wie ein vollständiger Versager fühlen. Er kann von Glück sprechen, wenn seine Frau ihn nicht wegen des Tennistrainers sitzen läßt.
Bei der ganzen Sache handelt es sich offensichtlich um Betrug ... mindestens die Hälfte der Spieler wird selbst unter den besten Voraussetzungen enttäuscht daraus hervorgehen. Al Gore war entsetzt, daß die Hälfte aller Schüler unter dem Durchschnitt lag. Anleger sind alarmiert, wenn in guten Zeiten die Hälfte von ihnen unter dem Durchschnitt bleibt ... in schlechten Zeiten sind sie einfach nur noch angewidert, wenn sie alle Geld verlieren. Und im Laufe der Zeit sind sie alle dazu bestimmt, Geld zu verlieren (verglichen mit dem Markt selbst), denn die Kosten, die das Wall Street Casino verursacht, müssen auch bezahlt werden. Makler, Analysten, Finanziers, Fondsmanager, Kontenmanager – all die Zwischenhändler, die die Wall Street am Laufen halten – schöpfen so lange Gehälter und Pensionen wie sie Luft schöpfen. Auch dieses Geld muß aus den Taschen der Anleger kommen, so daß auf lange Sicht die Erträge der Anleger immer unter den tatsächlichen Erträgen aus den Anlagen selbst bleiben müssen. Und viele, darunter die meisten der kleinen Fische, werden tatsächlich Geld verlieren. Und doch setzen sie immer weiter ihr Vertrauen in die Wall Street – denn sie glauben jedes Wort der Hetze – und jedes Mal schlagen sie so hart auf dem Boden der Tatsachen auf, als wären sie aus dem 23. Stock gesprungen. Es muß sehr deprimierend für die Anleger sein. Aber für die Spekulanten ist es die größte Show der Welt. Das Investieren ist nicht nur keine Wissenschaft, es ist nicht einmal eine Kunst. Es ist, als überfiele man einen Schnapsladen oder als verführte man die Frau des Chefs. Manchmal kommt man damit durch. Manchmal nicht. Man steht jedoch ganz allgemein besser da, wenn man es nicht tut. Nichts löst so einfach ein Versagen aus wie Erfolg. Sobald man auf die Idee kommt, daß man ein selten gewiefter Bursche sein muß, wenn man einen solchen Job ausführen kann, wird man schon den nächsten planen. Und dann wird die Polizei kommen.
Der typische Investor am öffentlichen Markt hat keine Ahnung, was er tut. Sein Geld in eine Aktie oder in einen Aktienfonds zu stecken, bringt ihm für eine Weile Zufriedenheit. Er hält sich für Kirk Kerkorian, der auf General Motors setzt oder für Warren Buffett, der sich klug in einer Versicherungsfirma bewegt. "Ich habe Google gekauft", sagt er zu seiner Frau. Seine Brust schwillt. Er spürt die Krone der Überlegenheit auf seinem Kopf, denn er hat den mächtigsten und geheiligsten Ritus unserer Zeit vollzogen. Er ist an die Wall Street gezogen wie Sir Galahad oder Camelot. Er hat keine Ahnung von der Not, die ihn erwartet ... oder davon, daß er kein Held ist, sondern nur ein armer Bursche ... ein kleines Staubkörnchen auf den weißen Schuhen an der Wall Street.
Die ganze Sache wäre deprimierend, wenn sie nicht auch etwas Komisches an sich hätte. Die Wall Street tut nichts Böses, sie tut nur ihre Arbeit – sie bringt die Dummköpfe um ihr Geld. Die Wurzel des Problems liegt in der Natur des Investierens selbst – zumindest in der öffentlichen Variante, die von den meisten Anlegern praktiziert wird und die von der Wall Street herausgefordert wird. Die Idee dahinter ist, daß ein Mann reich werden kann, ohne daß er dafür arbeitet, eine geniale Einsicht hat oder studiert. Alles was er dafür tun muß ist, sein Geld zu Wall Street zu bringen und ... Rumms! – durch irgendeinen Zauber, der nicht vollständig erfaßt werden kann, kommt es verzehnfacht zu ihm zurück. Er muß seinen Börsenmakler so ansehen wie die Christen Jesus auf dem Hochzeitsfest angesehen haben. Er wirft seinen Hefeteig über den Hudson oder den East River ... und er kommt vermehrt als dickes Geld zu ihm zurück.
Da muß irgendeine Wissenschaft hinter stecken, denkt er sich ... eine angesammelte Weisheit wie im Periodensystem der Elemente oder in den Logarithmentafeln, die die Wissenschaftler bereits vor Jahren entwickelt haben und die ihm heute – so wie Penicillin oder Chinin – zur Verfügung steht. Aber es ist nicht so. Stattdessen ist das gesamte Gebäude an der Wall Street auf einer Lüge errichtet – der Lüge, daß man etwas bekommen kann, ohne etwas dafür zu tun. Was man stattdessen bekommt, ist nichts für etwas. Aber es braucht so lange, das herauszufinden, daß man hereingelegt wurde – wenn man auch schon hereingefallen ist.
Das soll nicht heißen, daß man an der Wall Street kein Geld machen kann. Man kann, sogar haufenweise. Aber die sicherste Möglichkeit ist, selbst in der Anlageindustrie zu stecken ... indem man den Bauern und Lumpen "Anlagen" anbietet, die sie kaufen müssen. Dann können auch sie sechsstellige Gewinne machen ... zusammen mit den anderen Vorteilen, daß man sich ein Haus in Hampton leisten kann, ein Apartment in Manhattan oder mindestens einmal im Jahr Urlaub in Europa. Man kann sogar als einfacher Anleger Geld an der Wall Street machen. Aber dazu muß man wesentlich mehr tun, als einfach nur "am Markt zu sein". Sie müssen mit ihren Anlagen so umgehen, als schlügen sie einen Nagel in eine Latte. Sie dürfen sie nicht als eine öffentliche Anlage betrachten, sondern als eine persönliche Anlage. Sie werden sich die Firma und nicht die Aktie genauer ansehen müssen. Sie werden sehr gründlich recherchieren und nachdenken müssen ... oder sie müssen jemandem ihre Aufmerksamkeit schenken, der das für sie tut. Um es kurz zu machen, sie werden es sich verdienen müssen.
Quelle: in-stock.de
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Der Einsame Samariter