Das Wesen der Dinge Die neue E-Klasse
Erwachsene Männer schmusen mit ihrem Benz-Cabriolet, lesen vor den Augen schmachtender Bettgenossinnen Daimler-Prospekte oder rücken heimlich verrenkte Dreizacksterne über dem Kühlergrill einer Mercedes-Limo gerade: Kein Mensch benimmt sich so. Irgendetwas muss also anders sein an der neuen E- Klasse, die Mercedes-Benz mit diesen blödsinnigen Liebesbekundungen bewirbt.
Das Ding hat zunächst einmal vier Augen statt zwei. Das wirkt aber nicht gefährlich oder angriffslustig, im Gegenteil: Es strahlt eine gewisse narzisstische Ruhe aus – die Gelassenheit eines geradezu prometheischen Gefährts, das weiß, dass es so schnell keiner überholt. Die neue E-Klasse – „das Auto, das alles kann, was wir können“ (Mercedes-Benz)– ist eine Art Frankensteinsches Monster, aufs Zeitalter des automobilen High-Tech-Futurismus übertragen: ein von seinen Schöpfern entfesselter Titan, dessen „4-Zonen- Thermotronic“ mit „4-Quadranten-Solarsensor“ sich gegen die göttliche Klima- Allmacht auflehnt, während das neuartige elektrohydraulische Bremssystem SBCTM (Sensotronic Brake Control) sowie die semiaktive Luftfederung AIRMATIC DC („Sie fahren wie auf Wolken“) den Drang nach absoluter Freiheit verkörpern.
Die neue E-Klasse will dein Freund sein. Das romantische Ideal des Alleskönners hat aber auch eine Kehrseite. Die Autohersteller präsentieren ihren Frankenstein als Fortschrittsfetisch, als ironisch zur Anbetung freigegebenes Wesen, das sich wie seine Schöpfer als Wohltäter der Menschheit wähnt. Doch die Freiheit des entfesselten Titanen kann sich schnell als Ohnmacht des Schuldverstrickten erweisen, zumal wenn andere Titanen im Weg sind: Es bleiben dunkle Punkte in der strahlenden Psyche des E-Klasse-Wesens. Was mit dem notorischen Helfersyndrom begann, könnte die Überbetonung des Rationalitätsprinzips zur Hybris steigern. In dieser Zweischneidigkeit verkörpert die neue E-Klasse auch ein Stück Dialektik der Aufklärung, ein obsessives Element in der Fiktion absoluter Naturbeherrschung – und somit eine Warnung, den dicken Daimler-Katalog endlich wegzulegen. Es gibt Wichtigeres im Leben. Ernsthaft.
Quelle:SZ