Der gnadenlose Kunde

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Nassie:

Der gnadenlose Kunde

 
10.07.03 09:19
Milch von Aldi, eine Uhr von Armani - die Deutschen geizen und prassen zugleich. Verlierer sind die Marken aus der zweiten Reihe. Ein Streifzug durch die neue Einkaufswelt

Von Götz Hamann und Marcus Rohwetter

Die Marke. Etwas anderes kommt mir nicht in die Tüte.“ Quer durch die Republik prangt die Botschaft auf Plakaten des Markenverbandes, zu dem Konzerne wie Dr. Oetker, Beiersdorf (Nivea) und Unilever (Iglo, Langnese) gehören. Eigentlich müsste sie lauten: Bitte Marken kaufen, nicht zu Aldi laufen!

Dash, Blendi und Sunil. Kitekat, Flora Soft und Palmin. Früher kannte sie jeder. Heute stehen in jedem Ladenregal einige Markenprodukte, die bessere Zeiten gesehen haben, weil Aldi und Lidl das Land mit Billigware überfluten. In den vergangenen zehn Jahren haben die Discounter ihren Anteil am Lebensmitteleinzelhandel auf 35 Prozent verdoppelt.

Droht ein großes Markensterben? Es wäre eine gefährliche Perspektive für eine Branche, die jährlich 339 Milliarden Euro umsetzt. Die Deutschen hätten ihre „Lust am Konsum“ verloren, sagt Johann Lindenberg, Deutschland-Chef von Unilever und Präsident des Markenverbandes. Ove Gley, Geschäftsführer der Werbeagentur Jung von Matt und Vater der „Geiz ist geil“-Kampagne, interpretiert den Trend weg von der Marke als Folge einer zunehmenden Zügellosigkeit. Die Deutschen seien einfach auf „geilen Schnäppchen-Sex“ aus.

Lustlos oder lustvoll, Hauptsache, billig und in jedem Fall triebgesteuert, so also sind deutsche Verbraucher. Oder?

Ein Irrtum.

Mitten in der Wirtschaftsflaute tritt den Herstellern ein selbstbewusster Konsument entgegen, der die Extreme liebt: Hier treibt ihn die Lust an der Extravaganz – dort der Verzicht. „Das Verhalten der Verbraucher polarisiert sich“, sagt David Bosshart, Trendforscher des Schweizer Gottlieb Duttweiler Instituts. „Grundbedürfnisse werden zu möglichst niedrigen Preisen gedeckt, auf der anderen Seite steht die Suche nach immateriellen Werten durch Konsum.“ Es ist ein Phänomen, das Trendforscher und Werbestrategen schon länger prognostiziert haben. Doch erst jetzt, da die Konsumenten aufs Geld achten und die Hersteller um den Absatz fürchten, beginnt die gnadenlose Auslese.

Für viele Deutsche ist es kein Widerspruch mehr, am Körper ein Häkelkleid von H&M für 9,90 Euro zu tragen, am Handgelenk aber eine Armbanduhr, die mehr als das Hundertfache gekostet hat. 100 Gramm Champagner-Trüffel für vier Euro harmonieren heute mit einer Packung Billig-Salami für 89 Cent. Billig geht. Teuer auch. Was dazwischen liegt, wird weitgehend ignoriert und fliegt aus dem Markt.

Ausgangspunkt ist eine Welt, in der die Mehrheit trotz steigender Arbeitslosigkeit nicht um ihre materielle Existenz fürchten muss. 1962 gaben die Bundesbürger 37 Prozent ihres Monatsbudgets für Essen und Getränke aus, heute sind es keine 13 Prozent. Rechnerisch hat jeder Haushalt eine Waschmaschine, mehr als einen Kühlschrank und 1,5 Fernseher.

Wohin also mit dem Geld? „Echte Bedürfnisse wie Hunger oder Durst kann man befriedigen. Wünsche hingegen sind unendlich“, sagt Trendforscher Bosshart. Das Hamburger BAT-Freizeit-Forschungsinstitut hat in mehreren Umfragen ermittelt: 49 Prozent der Deutschen bezeichnen sich inzwischen als „Erlebniskonsumenten, die sich Außergewöhnliches leisten, auch wenn sie dafür gelegentlich zu viel Geld ausgeben oder gar über ihre Verhältnisse leben“. Bei den 14- bis 29-Jährigen sind es sogar 68 Prozent. Erlebnisse und Erfahrungen zu kaufen sind längst nicht die einzigen Wünsche. Viele Verbraucher hoffen auf Gesundheit, Seelenheil, Schönheit, Einzigartigkeit, Erfolg, Modernität, Bequemlichkeit und Geselligkeit.

Von genereller Konsum-Unlust kann also keine Rede sein. Aber nur die Hersteller von Markenartikeln, die glaubhaft versprechen, ihre Waren könnten zumindest einen Wunsch wirklich erfüllen, werden zu den Siegermarken gehören.


Gott auf vier Rädern. Wären Autos bloß ein Transportmittel – sie sähen wie Kisten auf vier Rädern aus. Stattdessen belegen die Verkaufszahlen den Trend zu Fahrzeugen, die auf persönliche Vorlieben zugeschnitten sind. In den ersten vier Monaten des Jahres haben die Deutschen 28 Prozent mehr Geländewagen gekauft, etwa den Toyota RAV4 oder den BMWX5. Steigenden Absatz meldeten auch die Hersteller von so genannten Minivans (Opel Zafira), Vans (VW Sharan), Luxusklasseautos (Mercedes S-Klasse) und Sportwagen (BMW Z4). Früher war hierzulande der VW Golf das Maß der Dinge – heute kämpfen die Von-jedem-ein-bisschen-Autos verzweifelt um Marktanteile.

Eines der erfolgreichsten Nischenautos ist zwei Meter fünfzig kurz und hat sich binnen viereinhalb Jahren in den westeuropäischen Großstädten etabliert: der Smart. Andere Hersteller wie Kia und Daewoo, die den deutschen Markt erobern wollten, scheiterten hingegen kläglich, weil sie einfach das Bestehende nur billig kopierten.

Doch Smart hatte anfangs Probleme. Die Erfinder wollten das zu DaimlerChrysler gehörende Auto als Ökomarke und Teil eines umfassenden Mobilitätsgedankens positionieren, aber „das war zu intellektuell. Es hat jedenfalls nicht gut funktioniert“, sagt Marketingchef Philipp Schiemer. Die Wende kam, als man auf die Kunden hörte. Smart schnitt das Auto auf jene drei Käufergruppen zu, die den Wagen interessant fanden: Geschäftsleute (etwa für ihre Pizza-Liefer-Flotte), Familien (als Zweitwagen) und junge Berufstätige. Individualität auf Rädern, in drei Modellen und mehr als 400 Ausstattungsvarianten. Bei jedem zweiten Smart sitzt ein Mann am Steuer – andere Kleinwagen werden fast nur von Frauen gefahren. Umfragen zeigen, wie unterschiedlich der Smart gesehen wird: Einige Besitzer assoziieren mit ihm teure Luxusstereoanlagen von Bang & Olufsen, andere kultige Billigmöbel von Ikea.

So ist es Smart gelungen, an drei vollkommen unterschiedliche Zielgruppen europaweit mehr als 120000 Autos zu verkaufen. Trotz Konsumflaute hat das Unternehmen nach eigenen Angaben auch im April und Mai wieder Rekorde erzielt. Allein vom neu eingeführten Smart-Roadster wurden in nur sechs Wochen 5000 Stück abgesetzt.


Essen ohne Mühe. Eines der wenigen Wachstumssegmente bei Lebensmitteln ist Tiefkühlkost. Aufreißen, Aufwärmen, Aufessen – nach Angaben des Deutschen Tiefkühl-Instituts ist der Pro-Kopf-Verbrauch in den vergangenen fünf Jahren um fast ein Drittel gestiegen – auf 34,5 Kilo im Jahr. Der Trend zum Gefrierfach-Essen ist unübersehbar.

Schon Ende der sechziger Jahre brachte Iglo den Gefrierfisch Iglo Schlemmerfilet auf den Markt. In ihrer Werbung positioniert sich die Firma entsprechend dem Selbstverständnis moderner Konsumenten: „Iglo. So isst man heute!“ Nicht unbedingt besser, aber auf jeden Fall bequemer. Auch andere Marken nutzen den Trend. Wagner und Dr. Oetker streiten um die Vorherrschaft bei Tiefkühlpizza. Frosta proklamiert das „Reinheitsgebot“ für sein Gefriergemüse und verzichtet auf Geschmacksverstärker. Der Wettbewerb in den Kühltruhen wird härter.

Doch Convenience-Food bleibt schon fast das einzige Nahrungsmittel-Segment, in dem Unternehmen noch Wachstumschancen sehen. Viele Deutsche halten Essen für das Grundbedürfnis überhaupt, und das will billig gestillt sein. Lebensmittel, sagt Unilever-Chef Lindenberg, seien hierzulande „zehn Prozent billiger als in Frankreich, 24 Prozent billiger als in England, rund ein Drittel günstiger als in der Schweiz“. Und auch der Staat hat längst festgelegt, wie viel gesunde und vitaminreiche Ernährung kosten darf: 4,60 Euro am Tag. Damit muss ein Sozialhilfeempfänger in Hamburg Frühstück, Mittag- und Abendessen finanzieren.

Mit besserer Qualität, dem klassischen Argument der Markenprodukte, sind längst nicht alle zu überzeugen. Vier von zehn Deutschen glauben nicht, dass Markennahrung besser ist als No-Name-Ware von Ja! (Rewe), Tip (Extra) oder Gut & Günstig (Edeka). Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Aachener Marktforschungsunternehmens Dialego. „Lebensmittelskandale treffen ja immer auch die Markenhersteller“, sagt Wolfgang Twardawa vom Marktforschungsunternehmen GfK. So kam beim Nitrofen-Skandal vor gut einem Jahr heraus, dass sogar Ökoputenfleisch vergiftet worden war.


Balsam für die Seele. Was hiesige Verbraucher an den Nahrungsmitteln sparen, geben sie für Schönheit und Gesundheit wieder aus. So stiegen im ersten Quartal 2003 die Ausgaben für Cremes, Heilmittel und Kosmetika, obwohl der Einzelhandelsumsatz insgesamt sank. Es gehe Verbrauchern „mehr denn je um existenzielle Lebens-Chancen“, glaubt die Freiburger Marktforschungsfirma ifm. „Wer nicht gut aussieht, verliert.“ Schönheit, Gesundheit und Wohlbefinden sind zum Megatrend der Gesellschaft geworden – und damit zur Megachance für Markenprodukte. Man hat ja im Leben nur einmal die Möglichkeit, Haarausfall oder Falten vorzubeugen.

Vertreiben die Hersteller ihre Heil versprechenden Produkte über Apotheken, haben sie ihre Kunden im Griff. Dort erwartet niemand ein Schnäppchen. Eine Rolle Vitamin-C-Brausetabletten von Hermes kostet beim Apotheker 2,90 Euro, viermal so viel wie das No-Name-Vitamin aus dem Drogeriemarkt. Und das, obwohl der Wirkstoff in beiden Fällen der gleiche ist: Ascorbinsäure.

Immer neue Produkte kommen auf den Markt, die immer wieder das alte Versprechen abgeben – gesünder, leistungsfähiger und entspannter zu machen. So enthält das neue „Wellness“-Wasser von Nestlé Ginseng und Kräuteressenzen, denen das Unternehmen „vitalisierende Wirkung“ andichtet. Aloe-vera-Extrakte, lange vor allem in Hautcremes zu finden, gibt es nun im Jogurt von Onken – immerhin hilft der eingedickte Aloe-Saft laut Brockhaus gegen Verstopfung. Und die Zauberblumen Ylang Ylang und Patschuli adeln das Duschgel von Palmolive zum „Anti-Stress“-Produkt.

Ob Kunden bereit sind, den höheren Preis einer Marke zu bezahlen, ist für GfK-Forscher Wolfgang Twardawa „eine Frage des Risikos“. So gebe es bei Babynahrung neben Alete und Hipp kaum Platz für Namenlose – wer will schon riskieren, seinem Kind nicht das Beste zu geben? Das Spiel mit dem realen oder eingebildeten Risiko rechnet sich für Markenhersteller fast immer. Es sei denn, die Stiftung Warentest durchkreuzt ihre Pläne. Beispiel Sonnencreme: Obwohl Sonnenbaden ein hohes Risiko birgt, nämlich Hautkrebs, gehört es fast zur Allgemeinbildung, dass billige Cremes bei Tests besser abschneiden als manches Markenprodukt. Und dann wird es für eine Helena Rubinstein Golden Defense Sun Milk zum Problem, siebenmal teurer zu sein als die Hausmarke der Drogeriekette Rossmann.


Die zweite Haut. Konsequentes Billigsein macht einige Firmennamen sogar selbst zur Marke – wie den schwedischen Bekleidungs-Discounter H&M. Er zieht Topmodels wie Heidi Klum (die schon für Edelmarken wie Givenchy posiert hat) seine preiswerten Klamotten an und lässt sie von Plakatwänden herunterschmachten. Die Folge: im Jahresvergleich plus 12 Prozent Umsatz, plus 28 Prozent Gewinn bis Ende Mai. Täglich werden die Filialen mit neuer Ware beliefert, die Kette kann sofort auf modische Trends reagieren und lässt laut der Unternehmensberatung McKinsey seine Konkurrenten „klar hinter sich, wenn es um Innovation und ein attraktives Preis-Leistungs-Verhältnis geht“.

Durch den Verzicht auf fremde Markenkleider hält sich H&M außerdem eine Menge Ärger vom Hals. Denn nichts hassen Markendesigner mehr, als wenn ihre Kleider unter Niveau verkauft werden. So liegt Dolce & Gabbana (D&G) aus Mailand mit dem deutschen Kaufhof im Clinch. Vor einigen Monaten hatte das Warenhaus eine „neue Zusammenarbeit“ verkündet und D&G-Hemden in Anzeigen beworben. Doch der italienische Edelschneider behauptet, es habe „niemals eine Verkaufskooperation mit Kaufhof gegeben“. Hat sich das Warenhaus etwa im Ausland eingedeckt und den Markennamen ausgebeutet? Kaufhof bleibt bei seiner Darstellung, D&G hat den Fall seiner Rechtsabteilung übergeben.


Kontrollierte Selbstzerstörung. Auf den Kunden, der immer selbstbewusster entscheidet, für welche Produkte er einen hohen Preis zahlt, reagieren manche Hersteller mit teils kontrollierter, teils panischer Selbstzerstörung. Niedrigere Preise, mehr Inhalt, Gratiszugaben – so versuchen zunehmend auch beste Adressen, Kunden zu gewinnen. Bei Kellog’s Smacks Frühstücksflocken sind schon mal 100 Gramm mehr in der Schachtel, Bounty-Küchentücher gibt’s zum selben Preis, dafür aber mit elf Prozent mehr Blättern auf der Rolle. Und „Plus 1 Riegel meeeehr Inhalt“ heißt es jetzt auch auf den Vorratspackungen von Mars und Snickers. „Die Spirale an Preis-Promotions unterspült die Wertschätzung der Marke beim Konsumenten“, warnt Unilever-Chef Lindenberg. „Kurzfristig kann man damit natürlich Umsatz machen. Aber langfristig ist das für Marken keine wertschöpfende Strategie.“

In anderen Fällen haben Markenhersteller gesellschaftliche Trends längst akzeptiert: Der Nahrungsmittelriese Nestlé trennt sich von einigen seiner einstmals schillernden Namen – zum Beispiel von Bärenmarke und Glücksklee. Auch Unilever und Procter & Gamble beschränken sich. Noch Ende der neunziger Jahre bewarb Unilever weltweit rund 1600 verschiedene Marken – heute sind es bloß noch 745, Tendenz fallend. Von den jetzt noch 60 Unilever-Marken in Deutschland soll in den kommenden Jahren jede zweite verschwinden. Lipton Tea im Beutel gibt es schon nicht mehr, und Unox soll zu Knorr werden.


Endlich verzichten. Nach Meinung von Trendforscher Bosshart ist Reduktion der richtige Weg. Der Verbraucher fühle sich von der heutigen Auswahl überfordert. „Beim Fernsehen ist das doch genauso“, sagt er. „Hat man 10 Sender, will man 20. Hat man 20, will man 50 – aber dann zappt man nur herum und ärgert sich, dass man nichts gefunden hat.“ Die Menschen seien der unendlichen Wahlmöglichkeiten überdrüssig. Ein Indikator dafür ist der Erfolg von Büchern wie Simplify your Life, das schon 250000 Deutsche gekauft haben und das seit 66 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste steht.

In einer breit angelegten Untersuchung hat der Schweizer Zukunftsforscher Andreas Giger den Willen zum Weniger nachgewiesen. Seit sieben Jahren befragt er 750 ausgewählte Trendsetter. Das jüngste Ergebnis: In den kommenden Jahren wollen sie ihre Konsumausgaben fast um ein Fünftel senken.

Für Mittelklasse-Marken ist in so einer Welt kaum noch Platz. Die Zahlen der GfK belegen: Zwischen 1998 und 2002 ist der Marktanteil der Spitzenmarken über alle Sortimente hinweg fast konstant geblieben. Der Sieg der No-Names ging fast ausschließlich zulasten der Marken aus der zweiten und dritten Reihe und wird durch das Verhalten zahlreicher Einzelhändler noch verstärkt. „Der hat ja auch keine Gummiregale“, sagt Twardawa. „Er räumt nicht die Top-Marken raus, wenn er seine No-Name-Produkte unterbringen will, sondern die nicht so starken Produkte.“ Auf Deutsch: Es lebe Persil! Es lebe das namenlose Waschmittel! Aber was ist mit Spee und Dash? Oder Sunil, der Nummer vier am Markt? Quer durch alle Warengruppen droht Marken unterhalb der Spitze, dass sie noch stärker unter Druck geraten. Harte Zeiten – selbst für Kraftprotze wie Meister Proper und den Weißen Riesen.

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