Mit dem Fall des Hauses Enron wird die Vertrauensfrage an die Finanzmärkte gestellt
Selten leuchtete ein Stern so hell am Himmel der US Fortune 500 wie der des Energieunternehmens Enron. Seit dem dramatischen Absturz des Aktienkurses und dem Bankrott des Unternehmens vergeht kein Tag ohne neue Enthüllungen über seine Geschäftspraktiken (und das Versagen von Andersen, deren Wirtschaftsprüfern). In den zahlreichen Artikeln, die über Enron derzeit geschrieben werden, steht meist die individuelle Schuld von Führungskräften im Mittelpunkt. In emotionalisierender Berichterstattung ist vom Verlust der in nun wertlosen Aktien angelegten Pensionsgeldern der Mitarbeiter die Rede. Und wenn von politischen Dimensionen des Debakels gesprochen wird, dann meint man damit meist die allzu engen Beziehungen zwischen Enron und dem Weißen Haus.
Nahezu vergessen erscheint hingegen, warum Enron bis vor nicht allzu langer Zeit als äußerst innovatives Unternehmen galt. Und kaum ein Kommentator macht sich auf, Fragen nach der eigentlichen politischen Dimension des Untergangs des Energieriesen zu stellen. Denn diese Fragen könnten an den Kern der Glaubensgrundsätze des Neoliberalismus rühren.
Das aus einer Fusion von zwei Pipeline-Unternehmen hervorgegangene Unternehmen Enron war nicht nur einfach sehr erfolgreich, sondern deshalb besonders erfolgreich, weil es den Ton bei der Deregulierung der Energiemärkte angeben konnte. Im Energiesektor ging es traditionell darum, Löcher in die Erde zu Bohren, Gas oder Öl zu finden (oder auch nicht) und dieses an Abnehmer zu liefern. Das erforderte große industrielle Anlagen und riskante, langfristige Investitionen; diese Art von Tätigkeit fiel in jene Ecke, die man seit einigen Jahren "alte" Industrien zu nennen pflegt. Enron hingegen gelang es in den letzten Jahren, sich in ein Unternehmen der New Economy umzumodellieren - allerdings nur fast.
Enrons Erfolgsgeschichte begann, als das Unternehmen sich darauf verlegte, anstatt Energie bloß zu produzieren und zu verkaufen, mit dieser zu handeln. Das Unternehmen startete mit Enron Online eine elektronische Handelsplattform, über die Strom, Gas, Kohle und Metalle verkauft wurden. Enron benutzte dazu eigene Anlagen, in vielen Fällen aber auch Anlagen, Frachter, Pipelines anderer Unternehmen. Durch seine Größe konnte das Unternehmen billig einkaufen und den günstigeren Preis an Kunden weiterreichen. Dabei wurde nicht nur mit konkreten Volumen selbst gehandelt, sondern konnte im Stile von Termingeschäften auch auf die zukünftigen Preisentwicklungen von Rohstoffen und Energie gesetzt werden. Eine Spezialität des Unternehmens stellte sogenanntes Risk Management dar, wobei sich Kunden gegen unerwartete Wetterentwicklungen - z.B. ein warmer Winter, oder ein sehr kühler Sommer, was jeweils den Energiebedarf senkt - versichern konnten.
Auf der Basis dieser Geschäftspraxis sprach Enron-Chef Kenneth Lay davon, sein Unternehmen sei "virtuell integriert", zum Unterschied von den "physisch integrierten" Energieunternehmen alten Stils. Die implizite Botschaft lautete: Cool und modern ist, wer mit den Angebots- und Nachfrageschwankungen im Energiesektor Geschäfte macht, alt sieht aus, wer bloß Löcher bohrt und Flüssigkeiten durch Rohre pumpt. Ganz im Einklang mit der "Virtualisierung" der Wirtschaft in der New Economy schien Enron der Zaubertrick der Immaterialisierung der Rohstoffbranche zu gelingen.
Das Unternehmen war im Begriff, noch einen Schritt weiter zu gehen. Es wollte seine Handelsplattform für eine kontrollierte Zahl anderer Anbieter öffnen. Auch dieser Schritt steht völlig im Einklang mit der New-Economy-Denkweise. Anstatt selbst nur mit Energie zu handeln, ist es potenziell noch weit lukrativer, die Plattform zu besitzen, auf der ein Großteil der Energie gehandelt wird.
Weil das Geschäft mit der Energie so gut lief, baute Enron unter großen Kosten auch eine Handelsplattform für Breitbandkommunikation auf. Doch da begann es bereits kräftig im Gebälk zu krachen. Es zeigte sich, dass das Geschäft mit Breitbandkommunikation nicht nur virtuell ist. Enron musste erst einmal investieren, ca. $ 1,2 Milliarden. Praktisch im gleichen Moment begannen die Internetaktien einzubrechen. Auch mit dem virtuell integrierten Energiegeschäft gab es Schwierigkeiten. Ein großes Gaskraftwerk in Indien wurde zum Zankapfel mit der Regionalregierung. Enrons Verhalten in dem Konflikt brachte das Unternehmen auf den Radarschirm der Globalisierungskritiker.
Schlechte Presse setzte ein und der Aktienkurs begann zu sinken, auch wenn im Frühjahr 2001 die Gewinne noch zu stimmen schienen. Die Betonung liegt hier wirklich auf dem "Anschein", denn wie sich nun herausstellt, besteht großer Anlass zur Vermutung, dass Enron zu diesem Zeitpunkt bereits im großen Stil Verluste in Nebenunternehmen versteckte. Die Verluste im Breitbandgeschäft waren allerdings offensichtlich. Der Börsenkurs sank, weil Enron davon betroffen wurde, was für jedes New-Economy-Unternehmen die gefährlichste aller Bedrohungen darstellt: der Verlust des Vertrauens der Investoren.
Der Umstand, dass Enron gescheitert ist, und das möglicherweise unter kriminellen Machenschaften, einschließlich der "kreativen Buchführung" zur künstlichen Stützung des Börsenkurses, bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Ideen falsch waren, die das Unternehmen eine Zeit lang als formidablen Innovator erscheinen ließen. Nicht umsonst zeigte sich nach der Enron-Pleite die Investmentbank UBS Warburg so begierig, die Energiehandelsplattform zu übernehmen. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass der Trend zur Deregulierung umgekehrt wird. Deshalb wird es aus einer "modernen" kapitalistischen Sichtweise weiterhin eine gute Option sein, Handelsplattformen für Energie zu betreiben, anstatt nur Löcher in die Erde zu bohren. Ob allerdings die Masse der Konsumenten dadurch einen besseren Deal erhält, ist eine andere Frage, der separat - in einem anderen Artikel - nachgegangen werden müsste. Es gibt jedoch Anzeichen, dass Enron Energiepreise künstlich hochgehalten hat, nicht zuletzt auch im Zusammenhang der kalifornischen Energiekrise.
Verlust des Vertrauens
Und hier kommen wir zur Frage der eigentlichen politischen Dimension des Enron-Debakels. Die starke Fokussierung auf die politischen Beziehungen zu Bush und Cheney in den Medien erscheint mehr und mehr wie ein Ablenkungsmanöver. Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Demokraten im US-Kongress sich diese Chance nicht entgehen lassen werden, die Pulverspur zu Bush zurückzuverfolgen, wenn es da etwas zu verfolgen gibt. Doch sollte man sich durch die so offensichtliche Nähe zwischen "Kenny Boy" und "W" nichts vormachen lassen. Die Beiträge zu der Finanzierung der Wahlkampagnen des Präsidenten waren unter geltenden Gesetzen nicht illegal und es ist auch jedem klar, dass sich Firmen davon Einfluss auf politische Richtungsgebung erwarten. Doch wie gesagt, wenn es etwas zu finden gibt, die neun Untersuchungsausschüsse, die es jetzt bereits gibt, werden es finden.
Weit weniger im Rampenlicht steht jedoch die Sache mit den Pensionen. Unter den Käufern von Enron-Aktien befanden sich nämlich nicht nur rund 30.000 Enron-Mitarbeiter, die nun mit weitgehend leeren Händen dastehen, im großen Stil eingekauft haben sich auch Pensionsfonds, so z.B. der Pensionsfonds der öffentlich Bediensteten der Stadt New York. Das sind teilweise genau jene Feuerwehrleute und Polizisten, die in den letzten Monaten so häufig als die Helden von Ground Zero gepriesen wurden und die nun ein deutliches Stück weniger wohlhabend geworden sind.
An dieser Stelle ist der Zusammenbruch von Enron kein individueller Fall mehr, sondern berührt den Kern des Neoliberalismus. Ideologen des Neoliberalismus haben es in den letzten 20 Jahren erfolgreich verstanden, eine antistaatliche Denkweise zu propagieren Der Staat wird - vor allem, aber nicht nur, in Nordamerika - mit der Verschleuderung von Steuergeldern in Form von Sozialleistungen an die Verlierer der Gesellschaft assoziiert, die Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes via Steuern wird als eine Bestrafung der Tüchtigen verstanden. Nach dem neoliberalen Modell muss der Staat zurückgedrängt werden. An die Stelle der Idee des Bürgers tritt die Idee des Shareholders. Anstatt einer staatlichen Pension vertraut man seinem eigenem Geschick bei der Anlage in Aktien. Bei amerikanischen Unternehmen, vor allem in der High-Tech-Branche, ist es üblich, dass Angestellte einen hohen Prozentsatz ihrer Pensionen in Aktien des eigenen Unternehmens angelegt haben.
Doch Aktienkurse sind verletzlich. Die Regulation der Finanzmärkte ist, um es milde auszudrücken, unzulänglich. Die Wirtschaftsprüfungsunternehmen in den USA z.B. unterstehen keiner Aufsichtsbehörde, sondern kontrollieren sich gegenseitig. Mit einer derartig laschen Auffassung von Regulation sollte es nun vorbei sein, argumentiert z.B. Paul Krugman in der New York Times. Und auch in der deutschsprachigen Wirtschaftspresse regen sich langsam Stimmen von Kommentatoren, die das Problem (beinahe) auf den Punkt bringen. "... wenn das Vertrauen in das Rechtssystem fehlt, kann der Markt nicht gedeihen", schreibt Lucas Zeise in der Financial Times Deutschland.
Es ist allerdings nicht nur der Markt, der nicht gedeiht, wenn das Vertrauen in die Institutionen nicht gegeben ist, es ist vor allem eine große Zahl von immer mehr arbeitenden Menschen weltweit, deren langfristige finanzielle Zukunft von risikoreichen Aktienmärkten abhängig ist. Was es bedeutet, von wankelmütiger "Investorenlaune" abhängig zu sein, lässt sich gerade am Beispiel Argentiniens verfolgen. Dort hat die Arbeiterklasse längst alles verloren, so dass es nicht mehr lohnt, sie weiter auszubeuten. Nun sind also die Ersparnisse und Pensionen der Mittelklasse an der Reihe, was zu den jüngsten politischen Unruhen geführt hat.
Die brisante Frage ist nun: Wenn der Enron-Virus weiter um sich greift, werden wir dann alle zu Argentiniern? Andersherum gefragt, wie viele Mitspieler braucht das neoliberale Kasino, um für das erlauchte Management noch interessant zu sein? Reicht eine Mittelschicht von 50%? Oder genügen 30%? Oder kann man 85% der Bevölkerung eines Landes an die Brotgrenze treiben und trotzdem noch lukrative Spekulationsblasen erzeugen? Wenn es sich aber allzu weit herumspricht, dass sich Arbeit in einem wie auch immer selbstbestimmten oder abhängigem Angestelltenverhältnis nicht mehr lohnt, an welcher Stelle bricht dann die Motivation für uns Mitspieler zusammen? Denn dann könnten wir doch gleich alle Kettenbriefschreiber werden, Pyramidenspiele starten oder gefälschtes Viagra übers Internet verkaufen.
Selten leuchtete ein Stern so hell am Himmel der US Fortune 500 wie der des Energieunternehmens Enron. Seit dem dramatischen Absturz des Aktienkurses und dem Bankrott des Unternehmens vergeht kein Tag ohne neue Enthüllungen über seine Geschäftspraktiken (und das Versagen von Andersen, deren Wirtschaftsprüfern). In den zahlreichen Artikeln, die über Enron derzeit geschrieben werden, steht meist die individuelle Schuld von Führungskräften im Mittelpunkt. In emotionalisierender Berichterstattung ist vom Verlust der in nun wertlosen Aktien angelegten Pensionsgeldern der Mitarbeiter die Rede. Und wenn von politischen Dimensionen des Debakels gesprochen wird, dann meint man damit meist die allzu engen Beziehungen zwischen Enron und dem Weißen Haus.
Nahezu vergessen erscheint hingegen, warum Enron bis vor nicht allzu langer Zeit als äußerst innovatives Unternehmen galt. Und kaum ein Kommentator macht sich auf, Fragen nach der eigentlichen politischen Dimension des Untergangs des Energieriesen zu stellen. Denn diese Fragen könnten an den Kern der Glaubensgrundsätze des Neoliberalismus rühren.
Das aus einer Fusion von zwei Pipeline-Unternehmen hervorgegangene Unternehmen Enron war nicht nur einfach sehr erfolgreich, sondern deshalb besonders erfolgreich, weil es den Ton bei der Deregulierung der Energiemärkte angeben konnte. Im Energiesektor ging es traditionell darum, Löcher in die Erde zu Bohren, Gas oder Öl zu finden (oder auch nicht) und dieses an Abnehmer zu liefern. Das erforderte große industrielle Anlagen und riskante, langfristige Investitionen; diese Art von Tätigkeit fiel in jene Ecke, die man seit einigen Jahren "alte" Industrien zu nennen pflegt. Enron hingegen gelang es in den letzten Jahren, sich in ein Unternehmen der New Economy umzumodellieren - allerdings nur fast.
Enrons Erfolgsgeschichte begann, als das Unternehmen sich darauf verlegte, anstatt Energie bloß zu produzieren und zu verkaufen, mit dieser zu handeln. Das Unternehmen startete mit Enron Online eine elektronische Handelsplattform, über die Strom, Gas, Kohle und Metalle verkauft wurden. Enron benutzte dazu eigene Anlagen, in vielen Fällen aber auch Anlagen, Frachter, Pipelines anderer Unternehmen. Durch seine Größe konnte das Unternehmen billig einkaufen und den günstigeren Preis an Kunden weiterreichen. Dabei wurde nicht nur mit konkreten Volumen selbst gehandelt, sondern konnte im Stile von Termingeschäften auch auf die zukünftigen Preisentwicklungen von Rohstoffen und Energie gesetzt werden. Eine Spezialität des Unternehmens stellte sogenanntes Risk Management dar, wobei sich Kunden gegen unerwartete Wetterentwicklungen - z.B. ein warmer Winter, oder ein sehr kühler Sommer, was jeweils den Energiebedarf senkt - versichern konnten.
Auf der Basis dieser Geschäftspraxis sprach Enron-Chef Kenneth Lay davon, sein Unternehmen sei "virtuell integriert", zum Unterschied von den "physisch integrierten" Energieunternehmen alten Stils. Die implizite Botschaft lautete: Cool und modern ist, wer mit den Angebots- und Nachfrageschwankungen im Energiesektor Geschäfte macht, alt sieht aus, wer bloß Löcher bohrt und Flüssigkeiten durch Rohre pumpt. Ganz im Einklang mit der "Virtualisierung" der Wirtschaft in der New Economy schien Enron der Zaubertrick der Immaterialisierung der Rohstoffbranche zu gelingen.
Das Unternehmen war im Begriff, noch einen Schritt weiter zu gehen. Es wollte seine Handelsplattform für eine kontrollierte Zahl anderer Anbieter öffnen. Auch dieser Schritt steht völlig im Einklang mit der New-Economy-Denkweise. Anstatt selbst nur mit Energie zu handeln, ist es potenziell noch weit lukrativer, die Plattform zu besitzen, auf der ein Großteil der Energie gehandelt wird.
Weil das Geschäft mit der Energie so gut lief, baute Enron unter großen Kosten auch eine Handelsplattform für Breitbandkommunikation auf. Doch da begann es bereits kräftig im Gebälk zu krachen. Es zeigte sich, dass das Geschäft mit Breitbandkommunikation nicht nur virtuell ist. Enron musste erst einmal investieren, ca. $ 1,2 Milliarden. Praktisch im gleichen Moment begannen die Internetaktien einzubrechen. Auch mit dem virtuell integrierten Energiegeschäft gab es Schwierigkeiten. Ein großes Gaskraftwerk in Indien wurde zum Zankapfel mit der Regionalregierung. Enrons Verhalten in dem Konflikt brachte das Unternehmen auf den Radarschirm der Globalisierungskritiker.
Schlechte Presse setzte ein und der Aktienkurs begann zu sinken, auch wenn im Frühjahr 2001 die Gewinne noch zu stimmen schienen. Die Betonung liegt hier wirklich auf dem "Anschein", denn wie sich nun herausstellt, besteht großer Anlass zur Vermutung, dass Enron zu diesem Zeitpunkt bereits im großen Stil Verluste in Nebenunternehmen versteckte. Die Verluste im Breitbandgeschäft waren allerdings offensichtlich. Der Börsenkurs sank, weil Enron davon betroffen wurde, was für jedes New-Economy-Unternehmen die gefährlichste aller Bedrohungen darstellt: der Verlust des Vertrauens der Investoren.
Der Umstand, dass Enron gescheitert ist, und das möglicherweise unter kriminellen Machenschaften, einschließlich der "kreativen Buchführung" zur künstlichen Stützung des Börsenkurses, bedeutet nicht notwendigerweise, dass die Ideen falsch waren, die das Unternehmen eine Zeit lang als formidablen Innovator erscheinen ließen. Nicht umsonst zeigte sich nach der Enron-Pleite die Investmentbank UBS Warburg so begierig, die Energiehandelsplattform zu übernehmen. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass der Trend zur Deregulierung umgekehrt wird. Deshalb wird es aus einer "modernen" kapitalistischen Sichtweise weiterhin eine gute Option sein, Handelsplattformen für Energie zu betreiben, anstatt nur Löcher in die Erde zu bohren. Ob allerdings die Masse der Konsumenten dadurch einen besseren Deal erhält, ist eine andere Frage, der separat - in einem anderen Artikel - nachgegangen werden müsste. Es gibt jedoch Anzeichen, dass Enron Energiepreise künstlich hochgehalten hat, nicht zuletzt auch im Zusammenhang der kalifornischen Energiekrise.
Verlust des Vertrauens
Und hier kommen wir zur Frage der eigentlichen politischen Dimension des Enron-Debakels. Die starke Fokussierung auf die politischen Beziehungen zu Bush und Cheney in den Medien erscheint mehr und mehr wie ein Ablenkungsmanöver. Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Demokraten im US-Kongress sich diese Chance nicht entgehen lassen werden, die Pulverspur zu Bush zurückzuverfolgen, wenn es da etwas zu verfolgen gibt. Doch sollte man sich durch die so offensichtliche Nähe zwischen "Kenny Boy" und "W" nichts vormachen lassen. Die Beiträge zu der Finanzierung der Wahlkampagnen des Präsidenten waren unter geltenden Gesetzen nicht illegal und es ist auch jedem klar, dass sich Firmen davon Einfluss auf politische Richtungsgebung erwarten. Doch wie gesagt, wenn es etwas zu finden gibt, die neun Untersuchungsausschüsse, die es jetzt bereits gibt, werden es finden.
Weit weniger im Rampenlicht steht jedoch die Sache mit den Pensionen. Unter den Käufern von Enron-Aktien befanden sich nämlich nicht nur rund 30.000 Enron-Mitarbeiter, die nun mit weitgehend leeren Händen dastehen, im großen Stil eingekauft haben sich auch Pensionsfonds, so z.B. der Pensionsfonds der öffentlich Bediensteten der Stadt New York. Das sind teilweise genau jene Feuerwehrleute und Polizisten, die in den letzten Monaten so häufig als die Helden von Ground Zero gepriesen wurden und die nun ein deutliches Stück weniger wohlhabend geworden sind.
An dieser Stelle ist der Zusammenbruch von Enron kein individueller Fall mehr, sondern berührt den Kern des Neoliberalismus. Ideologen des Neoliberalismus haben es in den letzten 20 Jahren erfolgreich verstanden, eine antistaatliche Denkweise zu propagieren Der Staat wird - vor allem, aber nicht nur, in Nordamerika - mit der Verschleuderung von Steuergeldern in Form von Sozialleistungen an die Verlierer der Gesellschaft assoziiert, die Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes via Steuern wird als eine Bestrafung der Tüchtigen verstanden. Nach dem neoliberalen Modell muss der Staat zurückgedrängt werden. An die Stelle der Idee des Bürgers tritt die Idee des Shareholders. Anstatt einer staatlichen Pension vertraut man seinem eigenem Geschick bei der Anlage in Aktien. Bei amerikanischen Unternehmen, vor allem in der High-Tech-Branche, ist es üblich, dass Angestellte einen hohen Prozentsatz ihrer Pensionen in Aktien des eigenen Unternehmens angelegt haben.
Doch Aktienkurse sind verletzlich. Die Regulation der Finanzmärkte ist, um es milde auszudrücken, unzulänglich. Die Wirtschaftsprüfungsunternehmen in den USA z.B. unterstehen keiner Aufsichtsbehörde, sondern kontrollieren sich gegenseitig. Mit einer derartig laschen Auffassung von Regulation sollte es nun vorbei sein, argumentiert z.B. Paul Krugman in der New York Times. Und auch in der deutschsprachigen Wirtschaftspresse regen sich langsam Stimmen von Kommentatoren, die das Problem (beinahe) auf den Punkt bringen. "... wenn das Vertrauen in das Rechtssystem fehlt, kann der Markt nicht gedeihen", schreibt Lucas Zeise in der Financial Times Deutschland.
Es ist allerdings nicht nur der Markt, der nicht gedeiht, wenn das Vertrauen in die Institutionen nicht gegeben ist, es ist vor allem eine große Zahl von immer mehr arbeitenden Menschen weltweit, deren langfristige finanzielle Zukunft von risikoreichen Aktienmärkten abhängig ist. Was es bedeutet, von wankelmütiger "Investorenlaune" abhängig zu sein, lässt sich gerade am Beispiel Argentiniens verfolgen. Dort hat die Arbeiterklasse längst alles verloren, so dass es nicht mehr lohnt, sie weiter auszubeuten. Nun sind also die Ersparnisse und Pensionen der Mittelklasse an der Reihe, was zu den jüngsten politischen Unruhen geführt hat.
Die brisante Frage ist nun: Wenn der Enron-Virus weiter um sich greift, werden wir dann alle zu Argentiniern? Andersherum gefragt, wie viele Mitspieler braucht das neoliberale Kasino, um für das erlauchte Management noch interessant zu sein? Reicht eine Mittelschicht von 50%? Oder genügen 30%? Oder kann man 85% der Bevölkerung eines Landes an die Brotgrenze treiben und trotzdem noch lukrative Spekulationsblasen erzeugen? Wenn es sich aber allzu weit herumspricht, dass sich Arbeit in einem wie auch immer selbstbestimmten oder abhängigem Angestelltenverhältnis nicht mehr lohnt, an welcher Stelle bricht dann die Motivation für uns Mitspieler zusammen? Denn dann könnten wir doch gleich alle Kettenbriefschreiber werden, Pyramidenspiele starten oder gefälschtes Viagra übers Internet verkaufen.