DAX - Wetterwechsel? (EurAmS)
02.10.2002 08:56:00
Der DAX verliert deutlich stärker als Dow und Co. Der Finanzplatz Deutschland steckt in der Krise. Neben Risiken bietet dies für Anleger aber auch Chancen. Denn viele Aktien sind so günstig wie seit Jahren nicht mehr
von Tobias Meister, Holger Wiedemann und Joachim Spiering, Euro am Sonntag 39/02
Sogar die Fahrten ins Bordell werden weniger", sagt ein Droschkenbesitzer. Selbst die alteingesessenen Taxifahrer sind von den Folgen der Börsen- und Stimmungsflaute in der Frankfurter City überrascht. Auch kleine Lustbarkeiten fallen flach. Commerzbanker dürfen Bahnfahrten unter zwei Stunden nur noch in der zweiten Klasse genießen, Flüge unter fünf Stunden werden nicht mehr in der Business Class, sondern der Holzklasse gebucht. Bei der Deutschen Bank soll eine interne Vorgabe kursieren, dass Geschäftstreffen wenn möglich nicht zur Essenszeit abgehalten werden.
Bitter für Banker, die bei ihren Mittags-Meetings gerne mal eine Flasche Château Latour für 600 Euro geköpft haben. "Seit Februar geht es bergab, einigen Leuten geht offenbar das Geld aus", beobachtet Frank Plöger, Chef von Feinkost Plöger.
Nicht nur Geld und Lust fehlen. Nach 30 Monaten Kurskrise haben selbst hartgesottene Händler den Mut verloren. Besonders verunsichert sie, dass der DAX seit Jahresanfang schlechter abschneidet als der Dow- Jones-Index, das Weltbörsenbarometer in New York. Während der DAX in den vergangenen neun Monaten 43 Prozent verlor, konnte sich der große US-Bruder mit lediglich 23 relativ gut halten. Keine Frage: Der DAX ist zum Prügelknaben der nationalen und internationalen Investment-Szene geworden. Doch woran liegt das?
Verschwörungstheorien machen die Runde. Der DAX, heißt es auf dem Frankfurter Parkett, habe ein spezifisches Problem: Ausländische Anleger, vor allem Amerikaner, würden sich derzeit scharenweise von ihren deutschen Aktien trennen. Das Image des Finanzplatzes Deutschland habe in den vergangenen Monaten schwer gelitten. So habe beispielsweise die Behandlung des Irak-Themas im Wahlkampf von Rot-Grün das Ansehen Deutschlands in den USA beeinträchtigt.
Zudem steckt das Land inzwischen in einem Reformstau wie zum Ende der Kohl-Ära. Die Folge: Die Konjuktur lahmt, beim Wirtschafts-Wachstum hinkt Deutschland den anderen europäischen Ländern hinterher. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass ausländische Investoren ihre Engagements reduzieren. Japanische und US-amerikanische Fondsmanager haben den Anteil deutscher Aktien in ihren Depots seit März 2000 zurückgefahren.
Daraus gleich ein spezifisches DAX-Problem zu stricken wäre allerdings voreilig. Der Abfluss der Gelder lässt sich damit begründen, dass Ausländer ihre Investments auf Normalmaß zurückführen, nachdem die Positionen während des DAX-Booms vor dem März 2000 stark ausgedehnt worden waren. So haben US-Fondsmanager die Depotanteile deutscher Aktien von März bis Dezember 2000 auf durchschnittlich 3,7 Prozent halbiert, seither aber nahezu unverändert gelassen.
Für das schlechte Abschneiden des DAX gegenüber dem Dow dürften andere Gründe entscheidend sein. Wer beide Indizes vergleicht, erkennt, dass der DAX mit seiner Häufung von Technologiewerten wie Siemens, Epcos, Infineon, Deutscher Telekom und SAP wesentlich riskanter gewichtet ist als der Dow, wo defensive Werte wie der Ölgigant Exxon und der Pharmariese Johnson & Johnson den Ton angeben.
Mittlerweile sind die Kurse so tief gefallen, dass manche Adressen zudem verkaufen müssen, um ihren laufenden Verpflichtungen nachkommen zu können. Die Baisse nährt sich so selbst. Der Chef der Allianz Lebensversicherung, Gerhard Rupprecht, hat eingeräumt, dass die Reserven der Gesellschaft bei einem DAX-Stand von 3200 Zählern auf null sänken. Folge: Der Lebensversicherer hat die Aktienquote in seinen Depots bereits auf ein Fünftel reduziert. Wie lange der Abgabedruck aus der Versicherungsbranche noch anhält, ist schwer abzuschätzen. Aus fundamentaler Sicht müsste jetzt allerdings das Ende der Talfahrt kommen. Denn: Beim aktuellen Kursniveau gibt es den ganzen DAX zum Buchwert.
Das heißt: Würde man alle 30 DAX-Unternehmen auflösen, die Mitarbeiter entlassen, und Grundstücke, Gebäude, Maschinen und sonstige Vermögenswerte verkaufen, dann erhielten die Aktionäre wohl mehr als den aktuellen Börsenwert ausbezahlt. Börsianer sind sich einig: Reihenweise DAX-Unternehmen unterhalb ihres bilanziellen Materialwerts - das kollektive Erreichen der Buchwertmarke deutet auf eine starke Übertreibung nach unten hin. "Normalerweise sollte das den Tiefststand für die Börsenkurse markieren", erläutert Werner Bader, Aktienstratege bei der Landesbank Baden-Württemberg. Fallen die Kurse nachhaltig unter den Buchwert und sind diese realistisch, dann schlägt die Stunde der Raider. Das sind Investoren, die Firmen aufkaufen, um sie scheibchenweise zu veräußern.
Alles nur graue Theorie? Nicht ganz. In der Börsengeschichte gab es immer wieder Depressionsphasen, in denen Schnäppchenjäger nach diesem Muster große Vermögen gebildet haben. Etwa die 80er-Jahre, als Corporate Raider wie Kohlberg, Kravis und Roberts (KKR) in den USA ganze Branchen durch Aufkauf und Zerschlagung umpflügten und dabei Milliarden-Werte, die nicht in den Bilanzansätzen berücksichtigt waren, zu Tage förderten. Am Mittwoch verkaufte Siemens einige Töchter. Im Paket unter anderem Kranhersteller Gottwald und Teile der Netzwerksparte ICN. Käufer: KKR. Wert des Deals: knapp 1,7 Milliarden Euro.
Wem diese Räubermethoden zu abwegig erscheinen, der kann sich auch an Value-Investor Warren Buffett halten. In den 70er-Jahren legte der Börsenaltmeister den Grundstein für sein Milliarden-Imperium, indem er systematisch in unterbewertete Unternehmen, so zum Beispiel in Coca-Cola und McDonald?s, investierte. Buffett ließ sich vom Buchwert leiten. Damals während der Phase von Ölpreis-Schocks und hoher Inflation konnte man "einen Dollar Unternehmens-Wert für 60 Cents kaufen", erinnert Buffett die Aktionäre seiner Holding Berkshire Hathaway im jüngsten Rechenschaftsbericht. Dass solche Kurs-Untertreibungen langfristig genauso korrigiert werden wie die Übertreibungen der Bubble-Phasen, sieht der Weise von Omaha in seinen über 40 Jahren Anlageerfahrung immer wieder bestätigt. Den genauen Zeitpunkt einer Korrektur vorauszubestimmen sei dagegen unmöglich und - für langfristig orientierte Anleger - letztendlich auch müßig.
Nicht nur die Unterschreitung der magischen Buchwert-Schwelle deutet darauf hin, dass der DAX zurzeit weit unter Wert gehandelt wird. Die Absetzbewegung am Aktienmarkt treibt immer mehr Kapital in Investments, die etwas Sicherheit versprechen. Ganz oben in der Anlegergunst stehen Immobilien-, Geldmarkt- und Rentenfonds, die Rekordzuflüsse verzeichnen. Nur: Je mehr Kapital in die sicheren Häfen flüchtet, umso kleiner werden hier die Erträge der Anleger. So sank die Umlaufrendite am deutschen Anleihenmarkt vergangene Woche auf 4,11 Prozent und liegt damit nur noch knapp über ihrem 52-Wochen-Tief vom November 2001.
Im Vergleich dazu kann sich die Dividenden-Rendite der Aktien von DAX-Unternehmen schon wieder sehen lassen. Aktuell weisen 13 der 30 Titel eine Dividendenverzinsung aus, die über dem kurzfristigen Leitzins der EZB von 3,25 Prozent liegt. Auch der Vergleich von DAX-Dividendenrendite mit der Rendite zehnjähriger Anleihen macht klar, dass wir uns auf einem extremen Niveau bewegen. "Vergleichbare Dividendenschnäppchen konnten Anleger nur nach den Terroranschlägen vom vergangenen September und während des Börsencrash von 1987 machen" ,weiß Werner Bader von der Landesbank Baden-Württemberg.
Warum also Wühltischpreise für solide deutscher Industrie-Unternehmen? "Die Börse ist in eine Angstspirale geraten", konstatiert Martin Weber, Professor für Finanzwirtschaft an der Uni Mannheim. Trotzdem rechnen viele Börsianer jetzt mit einer kurzfristigen Erholung. Gut möglich also, dass die Frankfurter Banker demnächst auch mal wieder Taxi fahren können.
02.10.2002 08:56:00
Der DAX verliert deutlich stärker als Dow und Co. Der Finanzplatz Deutschland steckt in der Krise. Neben Risiken bietet dies für Anleger aber auch Chancen. Denn viele Aktien sind so günstig wie seit Jahren nicht mehr
von Tobias Meister, Holger Wiedemann und Joachim Spiering, Euro am Sonntag 39/02
Sogar die Fahrten ins Bordell werden weniger", sagt ein Droschkenbesitzer. Selbst die alteingesessenen Taxifahrer sind von den Folgen der Börsen- und Stimmungsflaute in der Frankfurter City überrascht. Auch kleine Lustbarkeiten fallen flach. Commerzbanker dürfen Bahnfahrten unter zwei Stunden nur noch in der zweiten Klasse genießen, Flüge unter fünf Stunden werden nicht mehr in der Business Class, sondern der Holzklasse gebucht. Bei der Deutschen Bank soll eine interne Vorgabe kursieren, dass Geschäftstreffen wenn möglich nicht zur Essenszeit abgehalten werden.
Bitter für Banker, die bei ihren Mittags-Meetings gerne mal eine Flasche Château Latour für 600 Euro geköpft haben. "Seit Februar geht es bergab, einigen Leuten geht offenbar das Geld aus", beobachtet Frank Plöger, Chef von Feinkost Plöger.
Nicht nur Geld und Lust fehlen. Nach 30 Monaten Kurskrise haben selbst hartgesottene Händler den Mut verloren. Besonders verunsichert sie, dass der DAX seit Jahresanfang schlechter abschneidet als der Dow- Jones-Index, das Weltbörsenbarometer in New York. Während der DAX in den vergangenen neun Monaten 43 Prozent verlor, konnte sich der große US-Bruder mit lediglich 23 relativ gut halten. Keine Frage: Der DAX ist zum Prügelknaben der nationalen und internationalen Investment-Szene geworden. Doch woran liegt das?
Verschwörungstheorien machen die Runde. Der DAX, heißt es auf dem Frankfurter Parkett, habe ein spezifisches Problem: Ausländische Anleger, vor allem Amerikaner, würden sich derzeit scharenweise von ihren deutschen Aktien trennen. Das Image des Finanzplatzes Deutschland habe in den vergangenen Monaten schwer gelitten. So habe beispielsweise die Behandlung des Irak-Themas im Wahlkampf von Rot-Grün das Ansehen Deutschlands in den USA beeinträchtigt.
Zudem steckt das Land inzwischen in einem Reformstau wie zum Ende der Kohl-Ära. Die Folge: Die Konjuktur lahmt, beim Wirtschafts-Wachstum hinkt Deutschland den anderen europäischen Ländern hinterher. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass ausländische Investoren ihre Engagements reduzieren. Japanische und US-amerikanische Fondsmanager haben den Anteil deutscher Aktien in ihren Depots seit März 2000 zurückgefahren.
Daraus gleich ein spezifisches DAX-Problem zu stricken wäre allerdings voreilig. Der Abfluss der Gelder lässt sich damit begründen, dass Ausländer ihre Investments auf Normalmaß zurückführen, nachdem die Positionen während des DAX-Booms vor dem März 2000 stark ausgedehnt worden waren. So haben US-Fondsmanager die Depotanteile deutscher Aktien von März bis Dezember 2000 auf durchschnittlich 3,7 Prozent halbiert, seither aber nahezu unverändert gelassen.
Für das schlechte Abschneiden des DAX gegenüber dem Dow dürften andere Gründe entscheidend sein. Wer beide Indizes vergleicht, erkennt, dass der DAX mit seiner Häufung von Technologiewerten wie Siemens, Epcos, Infineon, Deutscher Telekom und SAP wesentlich riskanter gewichtet ist als der Dow, wo defensive Werte wie der Ölgigant Exxon und der Pharmariese Johnson & Johnson den Ton angeben.
Mittlerweile sind die Kurse so tief gefallen, dass manche Adressen zudem verkaufen müssen, um ihren laufenden Verpflichtungen nachkommen zu können. Die Baisse nährt sich so selbst. Der Chef der Allianz Lebensversicherung, Gerhard Rupprecht, hat eingeräumt, dass die Reserven der Gesellschaft bei einem DAX-Stand von 3200 Zählern auf null sänken. Folge: Der Lebensversicherer hat die Aktienquote in seinen Depots bereits auf ein Fünftel reduziert. Wie lange der Abgabedruck aus der Versicherungsbranche noch anhält, ist schwer abzuschätzen. Aus fundamentaler Sicht müsste jetzt allerdings das Ende der Talfahrt kommen. Denn: Beim aktuellen Kursniveau gibt es den ganzen DAX zum Buchwert.
Das heißt: Würde man alle 30 DAX-Unternehmen auflösen, die Mitarbeiter entlassen, und Grundstücke, Gebäude, Maschinen und sonstige Vermögenswerte verkaufen, dann erhielten die Aktionäre wohl mehr als den aktuellen Börsenwert ausbezahlt. Börsianer sind sich einig: Reihenweise DAX-Unternehmen unterhalb ihres bilanziellen Materialwerts - das kollektive Erreichen der Buchwertmarke deutet auf eine starke Übertreibung nach unten hin. "Normalerweise sollte das den Tiefststand für die Börsenkurse markieren", erläutert Werner Bader, Aktienstratege bei der Landesbank Baden-Württemberg. Fallen die Kurse nachhaltig unter den Buchwert und sind diese realistisch, dann schlägt die Stunde der Raider. Das sind Investoren, die Firmen aufkaufen, um sie scheibchenweise zu veräußern.
Alles nur graue Theorie? Nicht ganz. In der Börsengeschichte gab es immer wieder Depressionsphasen, in denen Schnäppchenjäger nach diesem Muster große Vermögen gebildet haben. Etwa die 80er-Jahre, als Corporate Raider wie Kohlberg, Kravis und Roberts (KKR) in den USA ganze Branchen durch Aufkauf und Zerschlagung umpflügten und dabei Milliarden-Werte, die nicht in den Bilanzansätzen berücksichtigt waren, zu Tage förderten. Am Mittwoch verkaufte Siemens einige Töchter. Im Paket unter anderem Kranhersteller Gottwald und Teile der Netzwerksparte ICN. Käufer: KKR. Wert des Deals: knapp 1,7 Milliarden Euro.
Wem diese Räubermethoden zu abwegig erscheinen, der kann sich auch an Value-Investor Warren Buffett halten. In den 70er-Jahren legte der Börsenaltmeister den Grundstein für sein Milliarden-Imperium, indem er systematisch in unterbewertete Unternehmen, so zum Beispiel in Coca-Cola und McDonald?s, investierte. Buffett ließ sich vom Buchwert leiten. Damals während der Phase von Ölpreis-Schocks und hoher Inflation konnte man "einen Dollar Unternehmens-Wert für 60 Cents kaufen", erinnert Buffett die Aktionäre seiner Holding Berkshire Hathaway im jüngsten Rechenschaftsbericht. Dass solche Kurs-Untertreibungen langfristig genauso korrigiert werden wie die Übertreibungen der Bubble-Phasen, sieht der Weise von Omaha in seinen über 40 Jahren Anlageerfahrung immer wieder bestätigt. Den genauen Zeitpunkt einer Korrektur vorauszubestimmen sei dagegen unmöglich und - für langfristig orientierte Anleger - letztendlich auch müßig.
Nicht nur die Unterschreitung der magischen Buchwert-Schwelle deutet darauf hin, dass der DAX zurzeit weit unter Wert gehandelt wird. Die Absetzbewegung am Aktienmarkt treibt immer mehr Kapital in Investments, die etwas Sicherheit versprechen. Ganz oben in der Anlegergunst stehen Immobilien-, Geldmarkt- und Rentenfonds, die Rekordzuflüsse verzeichnen. Nur: Je mehr Kapital in die sicheren Häfen flüchtet, umso kleiner werden hier die Erträge der Anleger. So sank die Umlaufrendite am deutschen Anleihenmarkt vergangene Woche auf 4,11 Prozent und liegt damit nur noch knapp über ihrem 52-Wochen-Tief vom November 2001.
Im Vergleich dazu kann sich die Dividenden-Rendite der Aktien von DAX-Unternehmen schon wieder sehen lassen. Aktuell weisen 13 der 30 Titel eine Dividendenverzinsung aus, die über dem kurzfristigen Leitzins der EZB von 3,25 Prozent liegt. Auch der Vergleich von DAX-Dividendenrendite mit der Rendite zehnjähriger Anleihen macht klar, dass wir uns auf einem extremen Niveau bewegen. "Vergleichbare Dividendenschnäppchen konnten Anleger nur nach den Terroranschlägen vom vergangenen September und während des Börsencrash von 1987 machen" ,weiß Werner Bader von der Landesbank Baden-Württemberg.
Warum also Wühltischpreise für solide deutscher Industrie-Unternehmen? "Die Börse ist in eine Angstspirale geraten", konstatiert Martin Weber, Professor für Finanzwirtschaft an der Uni Mannheim. Trotzdem rechnen viele Börsianer jetzt mit einer kurzfristigen Erholung. Gut möglich also, dass die Frankfurter Banker demnächst auch mal wieder Taxi fahren können.