Das wahre Gesicht der "New Economy"

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Das wahre Gesicht der "New Economy"

 
15.03.02 18:09
Enron: Das wahre Gesicht der "New Economy"

Von Nick Beams


Karl Marx schrieb, dass die Entwicklung des Finanzparasitentums nichts anderes sei als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats (halbkrimineller Elemente) an der Spitze der bürgerlichen Gesellschaft. Eine Charakterisierung, an die man unweigerlich denken muss, wenn man den Zusammenbruch des amerikanischen Energiehandelskonzerns Enron untersucht, gegen den Anfang Dezember nach Kapitel 11 des US-Konkursgesetzes Klage erhoben wurde. Mit einem veranschlagten Gesamtvermögen von 49,8 Milliarden Dollar und Schulden in der Höhe von 31,2 Milliarden Dollar ist Enron die größte Insolvenz in der amerikanischen Unternehmensgeschichte.

Das amerikanische Justizministerium hat eine Untersuchung gegen Enron eingeleitet, um zu klären, welche Rolle Unternehmensvorstand und Firmen-Manager beim Zusammenbruch und den vorangehenden Verschleierungsversuchen gespielt haben.

Unabhängig von den genauen Ergebnissen einer solchen Untersuchung steht ein weiter reichendes Urteil bereits fest. Enron, das auf Platz 7 der Liste der 500 amerikanischen Spitzenunternehmen Fortune 500 stand und in der Finanzpresse, in Regierungs- und Akademikerkreisen hochgelobt wurde, war ein Pfeiler der sogenannten "New Economy", die sich auf das schrankelose Walten des "freien Marktes" stützt. Der Kollaps des Unternehmens hat den Fäulnisprozess und die Korruption offengelegt, die ihr zugrunde liegen.

Gegründet wurde Enron Ende der 80er Jahre durch eine Fusion von zwei Gas-Pipeline-Unternehmen. Es verdankte seinen Aufstieg der Deregulierung der Energiemärkte in den 90er Jahren. 1986 konnte das Unternehmen einen Ertrag von 7,6 Milliarden Dollar vorweisen. Im Jahr 2000 war der Ertrag auf 101 Milliarden Dollar angewachsen und die Marktkapitalisierung des Unternehmens betrug 63 Milliarden Dollar.

Enron hat aber nicht nur die neuen Bedingungen genutzt, die durch die Deregulierung geschaffen wurden. Es hat mittels seiner politischen Beziehungen selbst zu ihrer Entstehung beigetragen. Der Konzernvorsitzende Kenneth Lay soll George W. Bush fast 2 Millionen Dollar gespendet haben und für die Wahlen 2000 gab der Konzern 1 Million Dollar aus. Lay war zwischendurch sogar als Energieminister im Gespräch und galt als wichtigster Berater für Energiepolitik.

Anfang der 90er Jahre gewann Lay als eine der bekanntesten Figuren Wendy L. Gramm, die Frau des Republikanischen Senators von Texas Phil Gramm, für das Unternehmen. Wendy Gramm war in der Regierung von Bush senior für die Warenregulierung zuständig. 1993, nur fünf Wochen nachdem die von ihr geleitete Commodities Futures Trading Commission Energieverträge von der Regulierung befreit hatte, trat sie dem Vorstand von Enron bei.

Die Deregulierung der Energiemärkte erschloss neue Bereiche für die Akkumulierung von Gewinnen, jedoch nicht durch den Bau neuer Einrichtungen und die Versorgung mit Energie, sondern durch Käufe und Verkäufe auf dem Energiemarkt. Enron betätigte sich nicht nur als Zwischenhändler, der zwischen einem Käufer und einem Verkäufer vermittelt und dafür eine Provision erhält. Enron war vielmehr das Äquivalent eines Finanzspekulanten auf dem Energiemarkt: Es handelte mit Energiekontrakten, deren Fälligkeitstermin erst in Monaten oder sogar Jahren liegt.

Innerhalb eines Jahrzehnts war das Untenehmen zu einem der zehn größten US-Unternehmen angewachsen und 20 Prozent des Energiehandels in Europa und der USA lagen in seinen Händen. Der Konzern operierte in etwa 40 Ländern und seine Aktivitäten beschränkten sich nicht nur auf den Energiesektor. Das gleiche Geschäftsmodell übernahm Enron auch für andere Bereiche und ging vom Handel mit Gas und Strom auch zum Handel mit Pulpe, Papier, Wasser und Kommunikation über.

Für ein Unternehmen wie Enron, das seine Gewinne mit derartigen finanziellen Operationen erwirtschaftet, besteht der Schlüssel zum Erfolg in dem ständigen Zufluss von Geldern von Banken und anderen Finanzinstitutionen, um die Hebelwirkung seiner Operationen und damit auch den Unternehmensprofit zu erhöhen. Die Fähigkeit, Schulden im Umfang von zig Milliarden Dollar anzuhäufen, hängt wiederum vom Vertrauen ab - von Publicity, die an den Finanzmärkten den Eindruck erweckt, dass sich eine Investition in das Kredit suchende Unternehmen lohnt, weil es bestimmte Innovationen eingeführt hat.

Publicitykampagne

Enron hätte selbst keine bessere Publicitykampagne organisieren können. Sechs Jahre hintereinander benannte das Magazin Fortune Enron als innovativstes Unternehmen überhaupt und noch im vergangenen August hat es Enron als eine von zehn Wachstumsaktien aufgelistet, die über das ganze Jahrzehnt weitere Wertsteigerung verzeichnen würden. Erst im vergangenen Jahr hat die britische Zeitschrift Economist Enron dafür gelobt, das womöglich "weltweit erfolgreichste Internet-Business aller Unternehmen jeglicher Branche aufgebaut zu haben".

Die Publicitykampagne ging aber noch weiter. Die Financial Times berichtete am 4. Dezember: "In den Büchern verschiedener Gurus wird das Unternehmen als vorbildliches Beispiel für gutes Management hervorgehoben, es wird als ‚Führer der Revolution' (Gary Hamel, 2000) bezeichnet, das ‚kreative Zerstörung' betreibe (Richard Foster und Sarah Kaplan, 2001), eine ‚Strategie mithilfe einfacher Regeln' entwickle (Kathy Eisenhardt und Donald Sull, 2001), das den ‚Krieg um Talente' (Ed Michaels, 1998) gewinne und ‚auf der Straße navigiert, die zur nächsten Economy führt' (James Critin; das Buch sollte im Februar 2002 veröffentlicht werden und wird nun wahrscheinlich überarbeitet werden)."

Hamel bringt den großen Rummel, der um das Unternehmen gemacht wurde, auf den Punkt: "Mehr als jedes andere Unternehmen auf der Welt hat Enron die Fähigkeit zur permanenten Innovation institutionalisiert... (Enron ist) eine Organisation, in der sich Tausende von Beschäftigten als potentielle Revolutionäre betrachten."

Neben guter Publicity sind auch gute politische Verbindungen, die ein günstiges Gesetzesklima schaffen, unbezahlbar. In dieser Hinsicht mangelte es Enron keineswegs. Der Vorsitzende Kenneth Lay hatte enge Kontakte zur Familie Bush und war einer der wichtigsten Leute, um Gelder für George Bush senior in den 80er Jahren aufzutreiben. Als George W. Bush 1994 Gouverneur von Texas wurde, wurde Lay Vorsitzender des Business Council des Gouverneurs.

Diese Verbindungen gewannen als Stellenwert, als Bush in diesem Jahr US-Präsident wurde. In einem Bericht der New York Times vom 3. Juni heißt es: "Mindestens drei Topberater des Weißen Hauses, die die Energiepolitik von Präsident Bush mit ausgearbeitet haben, waren Aktionäre des Unternehmens Enron oder erhielten Geldzuwendungen von dem großen Energiehandelskonzern mit Sitz in Texas, der eine aggressive Lobby führte, um die Politik der Bush-Regierung in Energiefragen zu beeinflussen."

Karl Rove, wichtigster politischer Berater von Bush, Lawrence Lindsey, Wirtschaftsberater von Bush und I. Lewis Libby, Leiter des Mitarbeiterstabs von Vizepräsident Cheney, waren alle Aktionäre von Enron. Lindsey erhielt im vergangenen Jahr von Enron 50.000 Dollar für Beraterdienste, während für die Aktien von Rove ein Wert von zwischen 100.000 und 250.000 Dollar veranschlagt wird.

Wie andere Verfechter des "freien Marktes" war Lay glühender Anhänger der sogenannten "Transparenz". In der obskuren Finanzwelt, in der sich die Bedeutung von Worten so häufig in ihr Gegenteil kehrt, bedeutet Transparenz im Allgemeinen, dass es keine Kontrolle und Regulierungsmaßnahmen von Seiten der Regierung gibt, und dass die wichtigsten Teilnehmer und ihre Machenschaften während ihrer Jagd nach Profit nicht überwacht werden.

Bei der Bilanzierung von Enron und den veröffentlichen Unternehmenszahlen kann man ganz sicherlich nicht von Transparenz sprechen. In Buchhalterkreisen gibt es ein Sprichwort, dass der Zweck der Bilanzierung häufiger darin besteht, zu verschleiern als aufzudecken. Enron entwickelte sich zu einem wahren Experten in der Kunst des Verschleierns. Wie Lay schließlich selbst zugeben musste, waren die Bilanzen des Unternehmens "undurchsichtig und schwer verständlich."

Solange ein Gewinnzuwachs berichtet wurde, kamen wenige Fragen über die Methoden von Enron auf, am wenigsten von Seiten des Rechnungsprüfers des Unternehmens Arthur Andersen. Auch die amerikanische Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission (SEC) verhielt sich ruhig.

Telekommunikation-Aktien sacken in den Keller

Das Rad der Enron-Operationen begann sich erst Anfang dieses Jahres langsamer zu drehen, als die Investitionen sich als Fehlschlag erwiesen. Mit dem Zusammenbruch des Telekommunikationssektors erwiesen sich die Investitionen von Enron in der Faseroptik und anderen Telekommunikationsbereichen als sehr teuer.

Dann kam es, kaum sechs Monate, nachdem man ihn zum Nachfolger von Lay befördert hatte, zum plötzlichen Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden Jeff Skilling. Skilling war am engsten mit der Umwandlung des Unternehmens vom Pipelinebesitzer zum riskanten Teilnehmer an der New Economy verbunden.

Die finanziellen Probleme erreichten Mitte Oktober einen kritischen Punkt, als das Unternehmen einen Verlust von 638 Millionen Dollar meldete. Aber noch entscheidender war die Offenlegung, dass das Eigenkapital des Unternehmens im dritten Quartal aufgrund von Partnerschaftsabkommen, für die der Finanzchef des Unternehmens Andrew Fastow verantwortlich war, um 1,2 Milliarden Dollar zurückgegangen war.

Die Alarmglocken wurden durch die Tatsache in Bewegung gesetzt, dass die Abschreibungen aus der Quartals-Ertragsbilanz nicht ersichtlich waren. Der Grund hierfür waren außerbilanzielle Partnerschaften, die man eingegangen war, um die Schulden des Unternehmens zu verschleiern und gleichzeitig sicherzustellen, dass Bonitätsbewertung und Kreditaufnahmefähigkeit nicht beeinträchtigt wurden. Diese Partnerschaften dienten zum einen dazu, den Endgewinn des Unternehmens aufzublähen. Sie waren aber auch für Fastow persönlich, der an die 30 Millionen Dollar an Gebühren- und Provisionszahlungen erhielt, durchaus gewinnbringend.

Am 8. November reichte Enron eine Berichtigung der Unternehmensbilanzen der vergangenen fünf Jahre bei der SEC-Börsenaufsichtsbehörde ein und meldete einen Verlust von 586 Millionen Dollar.

Während die Unternehmensstruktur sich nun rapide auflöste, wurde ein letzter Rettungsversuch unternommen, als der Rivale auf dem Energiesektor Dynegy anbot, das Unternehmen für 10 Milliarden Dollar zu kaufen und außerdem 13 Milliarden Dollar der Schulden zu übernehmen. Aber nach genauerer Prüfung beschloss Dynegy, diesen Vorstoß nicht weiter zu verfolgen, und Enron war gezwungen einen Insolvenzantrag einzureichen.

Zu den unmittelbaren Opfern des Firmenzusammenbruchs zählen in erster Linie die 21.000 Beschäftigten des Unternehmens. Die meisten von ihnen hatten ihre Rente nach dem Rentenplan 401 (k) abgesichert, der an die nun wertlosen Aktienbestände von Enron gekoppelt ist. Diese Beschäftigten verloren praktisch über Nacht einen entscheidenden Anteil ihrer bisherigen Ersparnisse und mussten zusehen, wie ihre Zukunftspläne zunichte gemacht wurden. Neben ihnen gibt es noch viele Tausend andere Kleinanleger, die dem Rat der Finanzmedien und Investment-Analysten gefolgt sind und für ihre zukünftige Absicherung auf Enron-Aktien setzten. Ihr Schicksal wirft die Frage nach den weitreichenderen sozialen Folgen des Zusammenbruchs von Enron auf.

In den 70er Jahren, als eine Reihe von Zusammenbrüchen und Skandalen die Finanzmärkte in Britannien erschütterten, hat der ehemalige Parteichef der Tories Edward Heath den Begriff "des unakzeptablen Gesichts des Kapitalismus" geprägt. Er wollte die damaligen Ereignisse damit als abnormale Entwicklung und Anomalie abtun und die Aufmerksamkeit von den grundlegenden Prozessen, von denen sie herrührten, ablenken.

Im Falle von Enron wird es zweifellos Bemühungen in gleicher Richtung geben. Es wird Untersuchungen geben. Möglicherweise wird man auch verlangen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, und es wird Forderungen nach strengeren Bilanzierungsvorschriften geben.

Aber Enron kann nicht als Anomalie abgetan werden. Als Heath seine Äußerung machte, standen die Prozesse, auf die er Bezug nahm, gerade erst am Anfang und die Behauptung, dass es sich bei diesen Prozessen um eine Anomalie handele, hatte eine gewisse Plausibilität. Heute ist das jedoch nicht mehr der Fall.

Die Finanzoperationen der Art, wie sie von Enron praktiziert wurden, sind keine Randerscheinung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems, sondern bilden seinen Kern. Täglich zirkulieren Billionen von Dollar auf den Aktien-, Devisen- und Finanzmärkten der Welt auf der Suche nach Profit. Seit Anfang der 80er Jahre wurden rund 75 Prozent aller Anlagenrenditen aus einer Aufwertung von Marktwerten und nicht aus Profiten und Zinsen erzielt.

Im Interesse des Shareholder Value muss jedes Unternehmen, das nicht untergehen will, Maßnahmen ergreifen, die Anlagekapital anziehen, indem es den Preis der Wertpapiere über das Niveau anhebt, das nach objektiver Bewertung des zugrundeliegenden Vermögenswerte gerechtfertig wäre. Anders ausgedrückt ist Enron nur das deutlichste Beispiel eines "Geschäftsmodells", das heute schon beinahe universellen Charakter hat.

Auch dominiert diese zunehmend auf Spekulationen beruhende Vermögensbildung mit den ihr eigenen halbkriminellen Machenschaften inzwischen die Gesellschaft als ganze. Keine Schicht der Arbeiterklasse, ob Fabrikarbeiter oder Büroangestellte, ist heute noch in der Lage, die eigene Zukunft, die Ausbildung der Kinder und die Gesundheitsversorgung der eigenen Familie abzusichern, ohne die begrenzten Ersparnisse in Investmentfonds anzulegen, die eine der Hauptkomponenten des Finanzsystems bilden.

Aber wie die Erfahrung mit Enron zeigt, gleicht das ganze System heute einem Kartenhaus, das jederzeit in sich zusammenfallen und dabei die über ein ganzes Leben angesammelten Ersparnisse über Nacht völlig ausradieren kann. Auch unzählige Kontroll- und Regulierungsmechanismen könnten diese Situation nicht verbessern, denn die Prozesse, die Unternehmen wie Enron hervorbringen, sind nicht mehr die Ausnahme sondern die Regel für die heutige Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft.

Die aktuelle politische Aufgabe besteht nicht darin, den sinnlosen Versuch zu unternehmen, die heutige Gesellschaftsordnung zu reformieren, sondern es geht darum, die Gesellschaft von Grund auf zu verändern. Heute ist die gesellschaftliche Existenz der arbeitenden Bevölkerung - der Erzeugerin sämtlicher Vermögenswerte - dem Prozess der Gewinnakkumulierung zu Gunsten einer Minderheit untergeordnet, der zunehmend Charakterzüge des Wahnsinns trägt. Diese Situation muss völlig umgekehrt werden. Die Gesellschaft muss neu organisiert werden. Die Vermögensbildung muss den Wünschen und Bedürfnissen der Produzenten untergeordnet sein und von ihnen kontrolliert und gesteuert werden. Das ist die Lehre aus dem Zusammenbruch von Enron.



Kurssturz auf dem amerikanischen Aktienmarkt: ein Wendepunkt in der amerikanischen und internationalen Politik
Von der Redaktion
22. März 2001
aus dem Englischen (20. März 2001)
Die Investoren am amerikanischen Aktienmarkt erlitten vom 12. bis 16. März die größten Verluste, die jemals innerhalb einer Woche verzeichnet wurden. Der Dow-Jones-Index sackte innerhalb von fünf Tagen drei Mal steil ab, und zwar um mehr als 400 Punkte am Montag und um noch einmal 227 Punkte am Freitag. Insgesamt betrug der Rückgang während dieser Woche 821 Punkte, das entspricht 7,7 Prozent. Der S&P 500, der einen breiteren Durchschnitt der Wall-Street-Aktien erfasst, wies einen Rückgang um 7 Prozent auf. Der Index für High-Tech-Aktien NASDAQ fiel um 8 Prozent.

Der Dow Jones sank zum ersten Mal seit sechs Monaten unter die 10.000-Punkt-Marke und der NASDAQ verzeichnete eine Kursrückgang, der ihn zum ersten Mal seit drei Jahren unter 2000 Punkte abgleiten ließ. Seit seinem Hoch im März 2000 ist der NASDAQ um 63 Prozent gefallen - der größte prozentuale Rückgang eines großen US-Aktienindexes seit dem Börsencrash von 1929. Der Dow Jones sank während derselben Zeit um 16 und der S&P 500 um 25 Prozent.

Gemessen am Umfang der Wertverluste gehört der jüngste Kurssturz an den amerikanischen Börsen bereits jetzt zu den schlimmsten solchen Debakeln, die es je gegeben hat. Und noch zeichnet sich kein Ende ab. Der Zeitschrift Business Week zufolge hofft man an der Wall Street, dass der NASDAQ bei etwa 1.350 Punkten stehen bleiben werde. Folglich geht man allgemein von einem weiteren Sinken des High-Tech-Indexes um 500 Punkte aus, so dass der Gesamtrückgang dann 73 Prozent betragen würde.

Die Wertverluste des NASDAQ und der New Yorker Börse beliefen sich Ende der Woche auf mehr als 4,6 Billionen Dollar - nahezu das Fünffache der Verluste während des Crashs vom Oktober 1987. Allein die im NASDAQ verzeichneten Werte sind von 6,7 Billionen Dollar im März 2000 auf 2,7 Billionen Dollar abgesunken. Der Umfang dieses Rückgangs ist geradezu atemberaubend. 4,6 Billionen Dollar Verluste, das ist

mehr als die gesamte Staatsverschuldung in den USA
der Umfang der Volkswirtschaften von Japan und Südkorea zusammengenommen
der Umfang der gesamten Automobil-, Stahl-, Maschinen- und Ölindustrie in den USA
das Zwei- bis Dreifache der Steuererleichterungen, die Bush für die kommenden zehn Jahre angekündigt hat
das Tausendfache der Steuererleichterungen, die Bush für dieses Jahr angekündigt hat, angeblich um die Wirtschaft zu stimulieren und die Gefahr einer Rezession abzuwenden.
Der Einbruch der Aktienwerte vollzog sich während des Jahres 2000 derart schnell, dass die Summe der Privatvermögen in den USA zum ersten Mal seit Beginn der Statistik im Jahr 1945 real abnahm. Jede bisherige Rezession in der Nachkriegszeit hatte lediglich den Anstieg des Privatvermögens verlangsamt. Doch da mittlerweile mehr als 60 Prozent dieses Vermögens in Aktien angelegt sind, führte der vom NASDAQ angeführte Werteverfall im Jahr 2000 zu einem Absinken der Privatvermögen um 2 Prozent.

Die Spekulationsblase der High-Tech-Branche

Die treibende Kraft der Finanzkrise war der Zusammenbruch des Spekulationsbooms mit Aktien der High-Tech-Branche, insbesondere von Internet-, Computer- und Telekommunikationsfirmen. Einer Studie zufolge verzeichneten neun der elf Industriebranchen, die im S&P 500 erfasst sind, während des vergangenen Jahres zumindest bescheidene Kursgewinne. Doch die beiden Branchen, deren Aktien an Boden verloren - High Tech und Telekommunikation - drückten den gesamten Index um 20 Prozent nach unten.

Eine weitere Analyse, die am 18. März in der New York Times erschien, versuchte den Zusammenbruch in der High-Tech-Branche zu ermessen, indem sie ausrechnete, wie lange einzelne Aktien bei einem - stark überdurchschnittlichen - jährlichen Zuwachs von 15 Prozent bräuchten, um wieder ihre Spitzenwerte zu erreichen. Bei Intel wären es sieben Jahre, bei Cisco Systems zehn Jahre, bei Oracle und Sun Microsystems neun Jahre und bei Yahoo! nicht weniger als zwanzig Jahre.

Die Verschlechterung der Finanzlage von Yahoo! - einem Unternehmen mit einem beneidenswert guten Namen, einer riesigen Internet-Kundschaft und mehr als 1,7 Milliarden Barvermögen - zeigt, wie rasch sich die Krise entwickelt hat und wie weitgehend ihre Auswirkungen sind. Die Marktkapitalisierung des Unternehmens ist von 150 Milliarden Dollar vor einem Jahr auf weniger als zehn Milliarden Dollar gesunken, der Kurswert seiner Aktie sank von 250 Dollar auf 17 Dollar.

Vor drei Monaten sagte das Management von Yahoo! für das erste Quartal 2001 Einnahmen in Höhe von 320 Millionen Dollar voraus. Mittlerweile geht man von 170 bis 180 Millionen Dollar aus, wobei 117 Millionen Dollar bereits vor Quartalsbeginn feststanden. Folglich hatte das Internet-Portal lediglich 63 Millionen Dollar aus neuen Verträgen eingenommen. Im Jahr 2000 erhielt Yahoo! 459 Millionen Dollar aus Verkaufsverträgen mit anderen Internet-Firmen, für dieses Jahr rechnet man mit einem Absinken der entsprechenden Einnahmen auf nur 111 Millionen Dollar.

Vor zwei Wochen trat der Vorstandsvorsitzende Timothy Koogle zurück, ohne dass unmittelbar ein Nachfolger ernannt wurde. Die Finanzpresse berichtete daraufhin, dass Yahoo!, Cisco Systems, Intel und andere Aushängeschilder des NASDAQ ein Verfahren praktiziert hatten, das sie als "Pro-Forma-Bekanntgabe" ihrer Firmenergebnisse bezeichneten. Die Zahlen, die an die Öffentlichkeit gegeben wurden, waren willkürlich um einige Außenstände bereinigt worden. Yahoo! und Cisco hatten die fällige Einkommenssteuer für ihre Mitarbeiter einfach herausgerechnet und damit umfangreiche Ausgaben verschwiegen, bei deren Einbeziehung ihre Bilanzen weitaus schlechter ausgesehen hätten.

Möglicherweise ist Yahoo! immer noch stark überbewertet, denn die Aktien des Unternehmens wurden für das 140-fache seiner Einnahmen verkauft. Sämtliche im NASDAQ-Index erfassten Unternehmen zusammengenommen wurden für das 172-fache ihrer Erträge gehandelt. Würden ihre Aktienkurse auf das übliche historische Niveau des 20-fachen Betrags ihrer Erträge sinken, dann würde der NASDAQ, der im März 2000 bei 5.048 Punkten stand, auf etwa 170 Punkte zurückgehen.

Die Folgen für die arbeitende Bevölkerung

Die Auswirkungen dieser gigantischen Vernichtung von Werten für die amerikanische Arbeiterklasse und Mittelklasse sind kaum abzusehen. Ein großer Teil der 4,6 Billionen Dollar, die sich bereits in Luft aufgelöst haben - weitere Billionen stehen auf dem Spiel - bestand aus den Lebensersparnissen vieler Millionen Lohnabhängiger. Millionen Amerikaner stellen fest, dass ihre anlagefinanzierten Renten nicht ausreichen werden, um ihren Lebensabend zu sichern. Drei Viertel der entsprechenden Fonds, rund 1,7 Billionen Dollar, sind in Aktien angelegt. Viele Menschen haben Ersparnisse verloren, mit denen sie den Kauf eines neuen Hauses oder die College-Ausbildung der Kinder bezahlten wollten, oder die sie für den Fall einer schweren Erkrankung oder Invalidität zurückgelegt hatten.

Die Pensionskasse für Lehrer TIAA-CREF, der größte institutionelle Anleger an der Börse, meldete für das Fiskaljahr, das am 31. März 2000 geendet hatte, einen Gewinn auf seine Anlagen von 21 Prozent. Am Ende dieses Fiskaljahres werden etwa 250.000 pensionierte Lehrer, Dozenten und Angehöriger verwandter Berufsgruppen starke Kursverluste zur Kenntnis nehmen müssen.

Im Jahr 1999, als der Hausse-Markt seinen Gipfel erreicht hatte, stieg das Nettovermögen der amerikanischen Privathaushalte um 14,1 Prozent. Douglas R. Cliggott von der J. P. Morgan Chase erläuterte gegenüber der New York Times: "Dies hatte Auswirkungen auf die Größe unserer Häuser, die Marken unserer Autos, die Wahl unserer Urlaubsorte. Aufgrund des außerordentlichen Zugewinns unserer durchschnittlichen Nettovermögen störten wir uns nicht an der im historischen Vergleich außerordentlichen Verschuldung."

Dieses Paradox erklärt weitgehend den politischen Charakter der neunziger Jahre. Zeitgleich mit den schwindelerregenden Wertsteigerungen der Aktien und dem Steigen der Konzernprofite wuchs auch die Verschuldung von Privathaushalten und Unternehmen in astronomische Höhen. Der Boom der neunziger Jahre wurde von einem Verschuldungsrausch genährt, der die gesamte Finanzstruktur des Landes untergraben hat.

Die private Verschuldung in den USA hat sich seit 1990 verdoppelt. Sie beträgt nun insgesamt 7,5 Billionen Dollar. Das sind mehr als 50.000 Dollar pro Privathaushalt und mehr als 25.000 Dollar pro Kopf der Bevölkerung. Ein großer Teil dieser Summe entfällt auf Hausbesitzer, die Hypotheken aufgenommen haben, um Konsumgüter zu bezahlen, Schulden zu begleichen oder an den Aktienmärkten zu spekulieren. Im Jahr 1982 schuldeten Hausbesitzer Kreditinstituten insgesamt 30 Prozent des Marktwerts ihrer Immobilien. Im Jahr 1999 waren es schon 46 Prozent.

Während der neunziger Jahre stieg das Verhältnis der privaten Verschuldung (einschließlich Hypotheken für den Hauskauf) zum verfügbaren Nettoeinkommen um nahezu 25 Prozent. Heute hat die amerikanische Durchschnittsfamilie Schulden, die ihr normales Nettoeinkommen übersteigen. Diese Schuldenlast ist ungleichmäßig verteilt - sie steigt mit sinkenden Einkommen. Die obersten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen mehr als 70 Prozent des Gesamtvermögens. Auf die unteren 90 Prozent der Bevölkerung dagegen, die über weniger als 30 Prozent des Gesamtvermögens verfügen, entfallen 70 Prozent der privaten Schulden.

Auch für die amerikanischen Unternehmen waren die neunziger Jahre eine Zeit zunehmender Verschuldung. Ende 1999 überstieg sie 10,6 Billionen Dollar. Im Großen und Ganzen waren die Unternehmen weder willens noch in der Lage, eine Ausweitung ihrer Geschäftstätigkeiten oder neue Investitionen durch die Emission neuer Aktien zu finanzieren, denn sie befürchteten durch eine solche Schwemme einen Preisverfall auszulösen. Statt dessen verschuldeten sich die Unternehmen oder nahmen sogar selbst Kredite an den Finanzmärkten auf, um ihre eigenen Aktien aufzukaufen und so deren Preis zu stützen.

Das Ergebnis war, dass sich das früher übliche Verhältnis zwischen Eigenkapital und Verschuldung umkehrte. Traditionell nahm die Verschuldung der Unternehmen während eines Booms ab, um während einer Abschwächung der Wirtschaft wieder anzusteigen. Doch nun ist die Verschuldung der meisten Unternehmen während des jüngsten Aktienbooms gestiegen. Die gegenwärtige Finanzkrise, von einer schweren und andauernden Rezession ganz zu schweigen, wird Firmenkonkurse in großem Umfang mit sich bringen. Die Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Sozialleistungen, Renten und den Lebensstandard im Allgemeinen kann man sich leicht ausmalen.

Weltweite Abschwächung der Wirtschaft

Die Finanzkrise in den USA hat unabsehbare Folgen für die Weltwirtschaft. Dieses Jahr stellt sich zum ersten Mal seit 25 Jahren in den drei wichtigsten Zentren des Weltkapitalismus - den USA, Japan und Westeuropa - gleichzeitig eine konjunkturelle Abkühlung ein. In Japan zieht sich die Stagnation bereits seit den gesamten neunziger Jahren hin, sie setzte im Wesentlichen mit dem Platzen der "Spekulationsblase" 1989/90 ein. Das damalige Finanzdebakel, das durch den Einbruch der aufgeblähten Immobilienpreise einsetzte, wird heute allenthalben mit dem Zusammenbruch der überhöhten Aktienkurse in den USA verglichen. Ein Editorial der Washington Post spekulierte vergangene Woche darüber, ob der wirtschaftliche Niedergang in den USA die Form eines V, eines U oder "eines japanischen L" annehmen werde.

Die Krisen in den USA und in Japan hängen eng miteinander zusammen. Japanische Banken und Konzerne haben große Summen in US-Schatzpapiere und Staatsanleihen investiert. Darüber hinaus sind die USA ihr wichtigster Exportmarkt. Japanische Konzerne halten US-Schatzwechsel im Wert von 350 Milliarden Dollar und Unternehmensaktien und Anleihen in noch größerer Höhe. Hinzu kommen Direktinvestitionen im Umfang von 150 Milliarden Dollar. In dieser Hinsicht wird Japan nur von Großbritannien übertroffen. Einigen Berichten zufolge haben japanische Banken Milliardensummen in amerikanische Aktien gesteckt, um vor dem Ende des japanischen Fiskaljahres am 31. März ihre Bilanzen aufzupolieren.

Wenn die japanischen Anleger aufgrund sinkender Aktienkurse in den USA oder aufgrund von Finanzproblemen in Japan ihre amerikanischen Anlagen verkaufen würden, wäre ein weiterer Kursverfall die Folge. Eine solche Entwicklung würde auch den Dollar unter Druck setzen, denn die japanischen Unternehmen müssten die Dollars, die aus dem Verkauf von in Dollar bewerteten Aktien stammen, in Yen eintauschen, um ihre Einnahmen repatriieren zu können. Ein sinkender Dollar würde der amerikanischen Notenbank weitere Zinssenkungen erschweren oder sie sogar zu Zinserhöhungen zwingen, um eine Flucht der Investoren aus der US-Währung zu verhindern.

Das Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union wird für das Jahr 2001 auf 2,8 Prozent geschätzt. Frühere Prognosen von 3,3 Prozent wurden aufgrund der Rezessionstendenzen in den USA und Japan deutlich nach unten korrigiert. In Deutschland, dem stärksten Zugpferd der europäischen Wirtschaft, verzeichnet man eine beschleunigte Inflation und eine Verlangsamung des realen Wachstums. Die Zahl der verkauften Autos sank in Deutschland um 12 Prozent. An acht der neun größten europäischen Börsen sanken die Kurse seit Jahresbeginn, die meisten um mehr als 10 Prozent.

Gesellschaftliche und politische Auswirkungen

Der Beginn einer heftigen finanziellen Krise in den USA und einer allgemeinen globalen Abschwächung der wirtschaftlichen Entwicklung wird sehr weitreichende Auswirkungen auf die soziale und politische Stabilität der wichtigsten kapitalistischen Länder haben. Schon jetzt hat die Bekanntgabe umfassender Pläne zum Arbeitsplatzabbau in den USA das Vertrauen der Verbraucher erschüttert. Wieder wurde der Bevölkerung vor Augen geführt, dass heutzutage selbst hoch qualifizierte und hoch bezahlte Fachkräfte nicht mehr mit einem sicheren Arbeitsplatz rechnen können.

Jeder merkliche Anstieg der Arbeitslosigkeit in den USA wird Millionen mit den Folgen der Regierungspolitik in den vergangenen beiden Jahrzehnten konfrontieren. Soziale Sicherungssysteme, die einst die Folgen des kapitalistischen Wirtschaftszyklus dämpften, sind abgeschafft oder völlig ausgehöhlt worden. Millionen Menschen, insbesondere die Masse der gering Entlohnten im Dienstleistungssektor und der vorübergehend Beschäftigten, werden auf der Straße landen - ohne soziales Netz oder persönliche Rücklagen, um sich über Wasser zu halten.

Neben den materiellen Folgen der Finanzkrise werden auch die Illusionen zerschlagen werden, die von den Medien und den Meinungsmachern der herrschenden Klasse in den vergangenen zwanzig Jahren, und besonders seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, eifrig geschürt worden sind. Der amerikanischen Bevölkerung wurde unaufhörlich eingeredet, dass der Kapitalismus die einzig denkbare Form der wirtschaftlichen Organisation sei und dass die ungehinderte Vorherrschaft riesiger Konzerne und des "Marktes" (gestützt von einflussreichen Bankern wie dem Vorsitzenden der amerikanischen Notenbank Alan Greenspan) für ständig wachsenden Wohlstand sorgen werde.

Doch nun zeigt der Kapitalismus sein wahres, hässliches Gesicht: die grotesk unsinnige Verteilung der Ressourcen und die augenfällige Irrationalität eines Systems, das der Konzernelite Einnahmen in Billionenhöhe beschert, während es die Altersersparnisse von Millionen Menschen vernichtet, Kleinunternehmen in den Bankrott treibt und zahllosen Arbeitern ihren Lebensunterhalt raubt. Wenn sich die Krise vertieft, werden alle diejenigen, die für ihr Einkommen arbeiten müssen, nicht mehr unwidersprochen hinnehmen, dass die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit hinter den Bedürfnissen des Marktes zurückstehen muss. Immer mehr Menschen werden nach einer Alternative zum Profitsystem Ausschau halten und sich der Entwicklung einer politischen Massenbewegung gegen dieses System anschließen.





mfG

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