Der Regierung fehlt der Mut zur Modernisierung des Sozialstaats
Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen", notierte Otto von Bismarck, "oder soll ich sagen, zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte." Machtpolitik, nicht Mitleid oder Daseinsfürsorge, stand am Anfang des deutschen Sozialstaats, als der Reichskanzler Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Altersversicherung (1889) gründete.
Seitdem ist in Deutschland eine gigantische Umverteilungsmaschinerie entstanden, deren genaue Wirkungen niemand versteht, geschweige denn steuern kann. Mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes gibt der Staat für Zuwendungen an seine Bürger aus - eine so unüberschaubare Zahl von Beihilfen zur Erziehung, Altenbetreuung, Wohnungsmiete und Vermögensbildung, dass selbst Sozialpolitiker die Verteilungseffekte ihrer Gesetze und Verordnungen längst nicht mehr kennen. Allein die Berechnung und Vergabe beschäftigt Hunderttausende. Zwei Enquetekommissionen des Bundestages haben bereits resigniert angesichts der Aufgabe, Gewinner und Verlierer des Versorgungsstaats mit exakten Zahlen zu benennen. Auch die Koalitionsvereinbarungen dieser Woche ändern daran nichts. Sie sind viel zu zaghaft.
Wer schon hat, erwartet mehr
Tatsächlich hatte sich die rot-grüne Regierung vorgenommen, in ihrer zweiten Amtszeit für noch mehr "soziale Gerechtigkeit" zu sorgen. In den vergangenen Wochen avancierte dieses Begriffspaar zur heimlichen Überschrift der Koalitionsgespräche. Ihr Ergebnis sind unter anderem höhere Rentenbeiträge für Gutverdienende, weniger Förderung für kinderlose Bauherren und mehr Abgaben auf den Gasverbrauch. Bleibt es dabei, hat "Gerechtigkeit" demnächst eine ähnliche Wirkung wie das Wort "Reform": Der eine hält intuitiv das Portemonnaie in der Tasche fest, der andere macht es auf, in der Hoffnung auf Zuschuss von oben. Denn den gibt es auch, und zwar reichlich.
Die Gelegenheit wäre günstig gewesen, ein neues Verständnis von Sozialstaatlichkeit zu entwickeln. Nicht etwa, weil dann der öffentliche Ruf nach "mehr Gerechtigkeit" verstummen würde. Das wird nie geschehen. Oder, in den Worten von Alexis de Tocqueville: "So demokratisch die sozialen Verhältnisse und die politische Verfassung eines Volkes auch sein mögen, man kann damit rechnen, dass jeder Bürger in seiner Nähe stets einige Punkte finden wird, die ihn überragen, und man kann voraussehen, dass er seine Blicke hartnäckig einzig nach dieser Seite richten wird."
Überfällig ist allerdings eine Klärung, wer besonderer staatlicher Zuwendung überhaupt bedarf. Denn im Grunde hat die staatliche Sozialpolitik seit Bismarck ihren Bestechungscharakter nicht verloren. Ihre Segnungen gelten nicht mehr "dem Proletariat", sondern gesellschaftlich breiteren Wählerschichten - aber nur selten denen, die leise leiden, die das Tempo der modernen Gesellschaft nicht halten können und in Armut zurückfallen. Dass in unserem Sozialsystem die Starken die Schwachen tragen, ist jedenfalls eine Illusion: Tatsächlich finanziert vielfach die Mittelschicht Leistungen für die Mittelschicht. Das steht trotz aller Berechnungsschwierigkeiten schon fest.
Zum Teil ist das die Folge des deutschen Sozialversicherungssytems, in dem das Prinzip von Leistung und Gegenleistung gilt. Deshalb erhält der Jungmanager, der sich in aller Ruhe einen neuen Job suchen will, genauso Arbeitslosengeld wie der 50-jährige Stahlarbeiter, dessen Stelle für immer wegrationalisiert wurde. Oft genug hat die Politik diese soziale Asymmetrie noch verstärkt - etwa durch die Pflegeversicherung. Sie nützt vor allem wohlhabenden Erben, die für pflegebedürftige Angehörige in weit geringerem Maße aufkommen müssen als zuvor. Oder durch die Wohnungspolitik. 6,45 Milliarden Euro gab der Bund im vergangenen Jahr für Eigenheimzulagen aus. Ein Großteil davon floss an - überwiegend gut verdienende - Singles. Das soll sich laut Koalitionsvertrag nun ändern. Aber noch ist es nicht so weit. Auf die Mittelschicht, nicht auf Bedürftige zielt auch ein Großteil der Maßnahmen für Familien: 3,3 Milliarden stellte der Bund im vergangenen Jahr allein als Baukindergeld zur Verfügung. Alles Einzelfälle, alles Hinterlassenschaften der Kohl-Regierung? Leider nein. Die rot-grüne Rentenreform zum Beispiel folgte einem ähnlichen Prinzip: Bezieher von Betriebsrenten schneiden besonders gut ab, sie sind meist Arbeiter und Angestellte in Großunternehmen - also Stammklientel der Gewerkschaften und der SPD. Gekürzt hat die rot-grüne Regierung die Rentenansprüche der Bezieher von Arbeitslosenhilfe - für viele Ostdeutsche wird darum Altersarmut wahrscheinlich.
In die entgegengesetzte Richtung müsste eine Sozialpolitik steuern, die Adjektive wie "sozial" und "gerecht" tatsächlich verdient. In einem rationaleren Sozialsystem bekäme ein Großteil der Mittelschicht weniger Geld vom Staat, würde aber durch verringerte Abgabenpflichten mehr finanzielle Autonomie gewinnen: Mit welcher Berechtigung schreibt der Staat eigentlich eine mit Sozialbeiträgen finanzierte Sicherung des Lebensstandards im Alter zwingend vor - beispielsweise für ein Ehepaar mit gemeinsamem Jahreseinkommen von 50 000 Euro?
Betreuung statt Kindergeld
In einem renovierten Sozialsystem müsste sich die Rolle der vier großen Sozialversicherungen grundlegend ändern. Bisher sind sie Zwitter: Einerseits gilt das Versicherungsprinzip, andererseits wirken sie wie gigantische Umverteilungsmaschinen. Dabei sind die großen Versicherungen hierzulande ausgesprochen schlechte Instanzen für die Förderung von Kindern oder für den Ausgleich zwischen Arm und Reich. Zum einen zahlen ganze Bevölkerungsgruppen wie Beamte und Selbstständige überhaupt nicht ein. Zum anderen steuert nicht jeder gemäß seiner Leistungsfähigkeit bei: Kapitaleinkünfte sind nicht sozialabgabenpflichtig, Spitzenverdiener dürfen sich aus der gesetzlichen Krankenversicherung ganz verabschieden.
Statt die Mittelschicht mit der Gießkanne zu bedienen, sollte sich der Staat auf wirklich Bedürftige konzentrieren. Das erfordert auch eine intelligentere Form sozialer Zuwendung. In Deutschland entstehen Notlagen eher durch Verwahrlosung als durch rein materielle Not. In solchen Fällen helfen am ehesten Aufmerksamkeit und menschliche Zuneigung. Mit Ganztagsbetreuung ist dies Problem eher gelöst als mit gleichem Kindergeld für alle.
Die Leistungen des Sozialstaats stärker auf die tatsächlich Bedürftigen zuzuschneiden - diese ehedem konservative Forderung findet inzwischen auch Zustimmung bei vielen Grünen. Immer schon zielte deren Sozialpolitik weniger auf die gewerkschaftliche Facharbeiterszenerie als auf die Welt der Gelegenheitsjobber und Teilzeitkräfte, der Alleinerziehenden und Langzeitarbeitslosen.
In ihren ersten vier Jahren ist die rot-grüne Regierung beim Umbau des Sozialstaats nicht weit gekommen. Die Arbeitsmarktgesetze zu Scheinselbstständigkeit und 325-Euro-Jobs sind schon wieder korrekturbedürftig, die erste Gesundheitsreform blieb ein Torso, die angestrebte Stabilisierung der Lohnnebenkosten wurde dramatisch verfehlt. Ein Neuanfang in der Sozialpolitik könnte der Regierung einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern wie einst der Bismarckschen Politik. Dafür müsste sie sich aber von deren machtpolitischem Kern, der "Bestechung" von Wählern, verabschieden und sich stattdessen der Frage widmen, was wirklich sozial, gerecht und finanzierbar ist.
Zeit
Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen", notierte Otto von Bismarck, "oder soll ich sagen, zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte." Machtpolitik, nicht Mitleid oder Daseinsfürsorge, stand am Anfang des deutschen Sozialstaats, als der Reichskanzler Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung (1884) und Altersversicherung (1889) gründete.
Seitdem ist in Deutschland eine gigantische Umverteilungsmaschinerie entstanden, deren genaue Wirkungen niemand versteht, geschweige denn steuern kann. Mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes gibt der Staat für Zuwendungen an seine Bürger aus - eine so unüberschaubare Zahl von Beihilfen zur Erziehung, Altenbetreuung, Wohnungsmiete und Vermögensbildung, dass selbst Sozialpolitiker die Verteilungseffekte ihrer Gesetze und Verordnungen längst nicht mehr kennen. Allein die Berechnung und Vergabe beschäftigt Hunderttausende. Zwei Enquetekommissionen des Bundestages haben bereits resigniert angesichts der Aufgabe, Gewinner und Verlierer des Versorgungsstaats mit exakten Zahlen zu benennen. Auch die Koalitionsvereinbarungen dieser Woche ändern daran nichts. Sie sind viel zu zaghaft.
Wer schon hat, erwartet mehr
Tatsächlich hatte sich die rot-grüne Regierung vorgenommen, in ihrer zweiten Amtszeit für noch mehr "soziale Gerechtigkeit" zu sorgen. In den vergangenen Wochen avancierte dieses Begriffspaar zur heimlichen Überschrift der Koalitionsgespräche. Ihr Ergebnis sind unter anderem höhere Rentenbeiträge für Gutverdienende, weniger Förderung für kinderlose Bauherren und mehr Abgaben auf den Gasverbrauch. Bleibt es dabei, hat "Gerechtigkeit" demnächst eine ähnliche Wirkung wie das Wort "Reform": Der eine hält intuitiv das Portemonnaie in der Tasche fest, der andere macht es auf, in der Hoffnung auf Zuschuss von oben. Denn den gibt es auch, und zwar reichlich.
Die Gelegenheit wäre günstig gewesen, ein neues Verständnis von Sozialstaatlichkeit zu entwickeln. Nicht etwa, weil dann der öffentliche Ruf nach "mehr Gerechtigkeit" verstummen würde. Das wird nie geschehen. Oder, in den Worten von Alexis de Tocqueville: "So demokratisch die sozialen Verhältnisse und die politische Verfassung eines Volkes auch sein mögen, man kann damit rechnen, dass jeder Bürger in seiner Nähe stets einige Punkte finden wird, die ihn überragen, und man kann voraussehen, dass er seine Blicke hartnäckig einzig nach dieser Seite richten wird."
Überfällig ist allerdings eine Klärung, wer besonderer staatlicher Zuwendung überhaupt bedarf. Denn im Grunde hat die staatliche Sozialpolitik seit Bismarck ihren Bestechungscharakter nicht verloren. Ihre Segnungen gelten nicht mehr "dem Proletariat", sondern gesellschaftlich breiteren Wählerschichten - aber nur selten denen, die leise leiden, die das Tempo der modernen Gesellschaft nicht halten können und in Armut zurückfallen. Dass in unserem Sozialsystem die Starken die Schwachen tragen, ist jedenfalls eine Illusion: Tatsächlich finanziert vielfach die Mittelschicht Leistungen für die Mittelschicht. Das steht trotz aller Berechnungsschwierigkeiten schon fest.
Zum Teil ist das die Folge des deutschen Sozialversicherungssytems, in dem das Prinzip von Leistung und Gegenleistung gilt. Deshalb erhält der Jungmanager, der sich in aller Ruhe einen neuen Job suchen will, genauso Arbeitslosengeld wie der 50-jährige Stahlarbeiter, dessen Stelle für immer wegrationalisiert wurde. Oft genug hat die Politik diese soziale Asymmetrie noch verstärkt - etwa durch die Pflegeversicherung. Sie nützt vor allem wohlhabenden Erben, die für pflegebedürftige Angehörige in weit geringerem Maße aufkommen müssen als zuvor. Oder durch die Wohnungspolitik. 6,45 Milliarden Euro gab der Bund im vergangenen Jahr für Eigenheimzulagen aus. Ein Großteil davon floss an - überwiegend gut verdienende - Singles. Das soll sich laut Koalitionsvertrag nun ändern. Aber noch ist es nicht so weit. Auf die Mittelschicht, nicht auf Bedürftige zielt auch ein Großteil der Maßnahmen für Familien: 3,3 Milliarden stellte der Bund im vergangenen Jahr allein als Baukindergeld zur Verfügung. Alles Einzelfälle, alles Hinterlassenschaften der Kohl-Regierung? Leider nein. Die rot-grüne Rentenreform zum Beispiel folgte einem ähnlichen Prinzip: Bezieher von Betriebsrenten schneiden besonders gut ab, sie sind meist Arbeiter und Angestellte in Großunternehmen - also Stammklientel der Gewerkschaften und der SPD. Gekürzt hat die rot-grüne Regierung die Rentenansprüche der Bezieher von Arbeitslosenhilfe - für viele Ostdeutsche wird darum Altersarmut wahrscheinlich.
In die entgegengesetzte Richtung müsste eine Sozialpolitik steuern, die Adjektive wie "sozial" und "gerecht" tatsächlich verdient. In einem rationaleren Sozialsystem bekäme ein Großteil der Mittelschicht weniger Geld vom Staat, würde aber durch verringerte Abgabenpflichten mehr finanzielle Autonomie gewinnen: Mit welcher Berechtigung schreibt der Staat eigentlich eine mit Sozialbeiträgen finanzierte Sicherung des Lebensstandards im Alter zwingend vor - beispielsweise für ein Ehepaar mit gemeinsamem Jahreseinkommen von 50 000 Euro?
Betreuung statt Kindergeld
In einem renovierten Sozialsystem müsste sich die Rolle der vier großen Sozialversicherungen grundlegend ändern. Bisher sind sie Zwitter: Einerseits gilt das Versicherungsprinzip, andererseits wirken sie wie gigantische Umverteilungsmaschinen. Dabei sind die großen Versicherungen hierzulande ausgesprochen schlechte Instanzen für die Förderung von Kindern oder für den Ausgleich zwischen Arm und Reich. Zum einen zahlen ganze Bevölkerungsgruppen wie Beamte und Selbstständige überhaupt nicht ein. Zum anderen steuert nicht jeder gemäß seiner Leistungsfähigkeit bei: Kapitaleinkünfte sind nicht sozialabgabenpflichtig, Spitzenverdiener dürfen sich aus der gesetzlichen Krankenversicherung ganz verabschieden.
Statt die Mittelschicht mit der Gießkanne zu bedienen, sollte sich der Staat auf wirklich Bedürftige konzentrieren. Das erfordert auch eine intelligentere Form sozialer Zuwendung. In Deutschland entstehen Notlagen eher durch Verwahrlosung als durch rein materielle Not. In solchen Fällen helfen am ehesten Aufmerksamkeit und menschliche Zuneigung. Mit Ganztagsbetreuung ist dies Problem eher gelöst als mit gleichem Kindergeld für alle.
Die Leistungen des Sozialstaats stärker auf die tatsächlich Bedürftigen zuzuschneiden - diese ehedem konservative Forderung findet inzwischen auch Zustimmung bei vielen Grünen. Immer schon zielte deren Sozialpolitik weniger auf die gewerkschaftliche Facharbeiterszenerie als auf die Welt der Gelegenheitsjobber und Teilzeitkräfte, der Alleinerziehenden und Langzeitarbeitslosen.
In ihren ersten vier Jahren ist die rot-grüne Regierung beim Umbau des Sozialstaats nicht weit gekommen. Die Arbeitsmarktgesetze zu Scheinselbstständigkeit und 325-Euro-Jobs sind schon wieder korrekturbedürftig, die erste Gesundheitsreform blieb ein Torso, die angestrebte Stabilisierung der Lohnnebenkosten wurde dramatisch verfehlt. Ein Neuanfang in der Sozialpolitik könnte der Regierung einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern wie einst der Bismarckschen Politik. Dafür müsste sie sich aber von deren machtpolitischem Kern, der "Bestechung" von Wählern, verabschieden und sich stattdessen der Frage widmen, was wirklich sozial, gerecht und finanzierbar ist.
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